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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

162-163

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Marquis, Émeline [Hg.]

Titel/Untertitel:

Epistolary Fiction in Ancient Greek Literature.

Verlag:

Berlin/New York: De Gruyter 2023. VIII, 243 S. = Philologus. Supplementary Volumes, 19. Geb. EUR 124,95. ISBN 9783110996241.

Rezensent:

Martina Janßen

Der von Émeline Marquis herausgegebene Band geht auf eine internationale Konferenz an der Humboldt-Universität zu Berlin zurück (16./17. November 2017). Elf exemplarische Fallstudien widmen sich Formen, Funktionen und Wirkungen antiker griechischer Brieffiktionen und sensibilisieren für deren epistolare Kreativität (»experimental laboratory« [12]), die auch Hybridformen einschließt (karnevaleske Literatur, komödischer Brief). Die Kombination aus gut und weniger gut erforschten Analysebeispielen überzeugt ebenso wie die Zusammenschau von authentischen und pseud-epigraphischen Briefen. Letztere führten – verstanden als epigonale Fälschungen – lange ein Schattendasein in der Forschung, werden aber gegenwärtig als »successful works of fiction« (4) in einem neuen Licht gesehen. Wie dies konkret Gestalt annehmen kann, führt der Band vor Augen. Die Einleitung von Émeline Marquis (»Epistolary Fiction versus Spurious Letters« [1–20]) liest sich nicht nur als gute thematische Hinführung in Forschungsstand und Beiträge (1–11), sondern leistet auch eine auswertende Zusammenführung der »common features« (11–20), zu denen u. a. die Verortung in einer glorreichen Vergangenheit, Intertextualität, narrative Strategien, die planvolle Corpuskomposition von Briefsammlungen, das Spiel mit der Anspielung auf Traditionen (»play[fullness]« [15 f.]) und eine gebildete Leserschaft mit hoher Allusionskompetenz gehören (»learned readership that is able to understand the metalit-erary significance of these letters and to think about their fictionality« [16]).

Part I: »Authentic Fictions«. Den Aufschlag macht Peter v. Möllendorff (23–33) mit seiner Interpretation der Saturnalia Lukians (τὰ πρὸς Κρόνον) als »karnevaleskes Textcorpus« (23), wobei die Arbeiten von Michail Bachtin zur karnevalesken Literatur als Schlüssel dienen (Familiarität, Exzentrizität, Mesalliance, Profanation). In dem Gelagekranz für Gebildete erinnere Kronos an den »erhobenen und erniedrigten Karnevalskönig« (32); die Briefe bleiben insgesamt vielstimmig. Das wohlkomponierte Corpus aus sieben Briefen korrespondiere mit den sieben Festtagen. Es folgen zwei Beiträge zu den gut erforschten Briefen Alkiphrons. Alain Billault (35–44: »Temps, mythe et littérature«) analysiert Zusammenspiel, Dynamik und Wirkung der unterschiedlichen Zeitebenen (Anekdote, Geschichte, Mythos, Literatur), während Manuel Baumbach (45–62) den Fokus auf die Hetärenbriefe lenkt (bes. Fragm. 5).

Mit dem die Komödie repräsentierenden Briefautor Menander und Elementen beider Genres liege ein »komödische[r] Brief als eine hybride Form« (46) vor, vergleichbar den komödischen Dialogen Lukians. Das gekonnte Spiel mit Traditionen ermögliche »neue ästhetische Zugriffe auf Hetären« (46). Die historischen Namen, die sich von den für das Corpus typischen sprechenden Namen abheben, seien keine Authentizitätsfiktion; »neu konturiert« und »entpersonalisiert«, seien sie vielmehr »Reflexionsfiguren über das Gemachtsein (Poiesis) und den Wirkungsanspruch der Briefe selbst« (47). Ein Diptychon zu den Briefen Philostrats schließt sich an. A. D. Morrison (63–76) thematisiert »Order and Structure in the Letters of Philostratus«: Bei den in mehreren Manuskriptfamilien vorliegenden Briefen gebe es vor allem in F2 Ordnungsprinzipien, die auf eine planvolle Corpuskomposition hinweisen (76). Dies bestärkt Owen Hodkinson in seinem Beitrag (77–103) »A strong impression of unity is created by coherent and internally connected sequences and clusters.« (101) H.s spezieller Fokus liegt auf Philostrats »Fictional Letter-writer persona in the Erotic Letters« (77), die sich »between reality and fiction« (96–100) bewege und negative Facetten wie »arm«, »fremd« und »verzweifelt« aufweise (»fetishism, masochism, or pessimism« [83]). Anna Tiziana Drago (105–119) befasst sich mit »Attribution, Dating, Cultural Background« der Artistaenetus-Briefe, einem eher vernachlässigten Forschungsgegenstand. D. arbeitet u.a. die intertextuelle Dynamik heraus und verortet die Briefe in humanistischen Zirkeln unter Justinian I.

Part II: »Disputed Fictions«. Vinko Hinz (123–138) stellt »Überlegungen zum Umgang mit tradiertem Gedankengut in den Phalarisbriefen« an, die er als »intellektuelles Amüsement« (135) versteht. Die planvollen Anspielungen an Traditionen dienen der impliziten Charakterisierung des Phalaris (»vom Topos zum Ethos« [143]), der – entgegen der klischeehaften ἀπαιδευσία eines Tyrannen – als gelehrt auftrete (135). Das Phalarisbild changiere zwischen idealistisch und zynisch und enthalte viel »Dunkles und Abgründiges« (136). Heinz-Günther Nesselrath (139–150) lenkt den Blick auf die Euripidesbriefe. Dem aus der Tradition bekannten »verbitterte[n] Dichter« (142) werde eine »biographie corrigée« gegenübergestellt. Zur Konstruktion des positiven Bildes (Freundschaft mit Sophokles, Verlassen des Vaterlands aus noblen Motiven) greife der Autor auf Traditionen zurück, die er u. a. durch erfundene Details und das »ingeniöse Spiel mit Namen« (144) neu konturiert. N. verortet die Briefe nicht in der Apologie (145–147), sondern deutet sie – ähnlich wie Lukians Phalaris I (148 f.) – als »Unterhaltung auf durchaus anspruchsvollem kulturellen Niveau« (149). Anne-Catherine Baudoin (151–168) zeichnet die komplexe Überlieferungsgeschichte des Pilatusbriefes an Tiberius über Tod und Auferstehung Jesu (Anaphora Pilati) nach, der als polymorpher Text meist Teil eines größeren Textzusammenhangs ist. Durch Schriftzitate werde Pilatus als Evangelist stilisiert (»De Pilate épistolier à Pilate évangéliste«).

Die »thorny question of [...] authenticity« (3) steht in den beiden letzten Beiträgen im Fokus. Thomas Johann Bauer (169–197) rekapituliert in seinem Beitrag »Die ignatianischen Briefe als literarische Fiktion aufs Neue verteidigt« den gegenwärtigen Diskurs über die Abfassung des Corpus Ignatianum. In diesem Zusammenhang deckt B. u. a. durch die Analyse der Prä- und Postskripte (185–189) eine »planvoll gestaltete Komposition« (185) des Corpus mit dem Römerbrief als zentralem Brief auf, was ebenso wie die Ignatiusstilisierung in Analogie zu Paulus (184 f.) auf die Unechtheit hinweise. Luciano Bossina (199–222) analysiert »Redaktionsgeschichte und Fiktion in der Briefsammlung von Nilus Ankyranus«. Die für die Briefe charakteristische »Exzerpte-Produktion« (205) auf der Basis von Archiven und die Briefanordnung würden neben anderen Befunden (z. B. kaum historisch belegbaren Adressaten) einen weitgehend pseudepigraphischen Charakter der umfangreichen Briefsammlung nahelegen.

Der Einblick in die facettenreichen vexatae quaestiones antiker Briefforschung ist eine gewinnbringende Lektüre auch für die neutestamentliche Exegese. Gegenwärtige Forschungstendenzen, die den Fokus weniger auf eine (kanontheologische) Rechtfertigung von Fälschungen legen, sondern neue Zugänge zu pseudepigraphischen Schriften als fiktionale Texte eröffnen, werden bestärkt und inspiriert. Viele Aspekte sind dialog- und anschlussfähig wie z. B. Strategien der Autorkonstruktion, auch im Sinne einer »biographie corrigée« (z. B. paulinische Pseudepigraphie), oder Fragen der Corpuskomposition (z. B. Corpus Pastorale); hier verdichten sich Indizien für ein »careful design« (15) antiker Briefcorpora, sei es autorseitig, sei es redaktionell (25 f.63.76.101.185).