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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

159-161

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Jonas

Titel/Untertitel:

Antike und Identität. Die Herausforderun-gen der Altertumswissenschaften.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. VII, 94 S. Kart. EUR 16,00. ISBN 9783161618529.

Rezensent:

Jens Holzhausen

»Das Ziel meines Essays ist bescheiden: er erhebt nicht den Anspruch, die Frage nach der gegenwärtigen Signifikanz der Antike umfassend zu beantworten, sondern versucht die Debatte einzuordnen und ihr aus dem Blickwinkel des Gräzisten […] neue Perspektiven zu eröffnen.« (12) Für die Einordnung der Debatte wählt Grethlein den Begriff der Identität, um zwei vollkommen gegensätzliche Tendenzen der gegenwärtigen Diskussion zu bezeichnen: Die einen sehen in einem positiven Sinne die griechisch-römische Kultur als Grundlage ihrer eigenen Identität, die anderen entdecken Rassismus, Kolonialismus, Sexismus u. a. m., wodurch ihre eigene Identität in Frage gestellt werde. Interessanterweise sieht G. die Kategorie der »Identität« in beiden Gruppen als »Hindernis«, »um die Bedeutung zu erfassen, die griechische und lateinische Texte heute haben können. […] Im ersten Fall wird die Antike normativ überstrapaziert, im zweiten wird der Zugriff auf sie narzisstisch verkürzt.« (13)

Zuerst widmet sich G. mit großem Überblickswissen der »identitätspolitischen Debatte«, vor allem in den USA und Großbritannien (in Deutschland spiele sie keine Rolle, weil dort u. a. die »alten Sprachen […] marginalisiert« seien [22]). Im Hintergrund vermutet G. einen Paradigmenwechsel in der Auffassung von Wissenschaft: »Wissenschaft als Produktion intersubjektiv plausibler Erkenntnis oder als Ausdruck von Identität« (28), wobei er letzteres mit der Romantik verbindet. Seine Kritik (Kap. 2.3. »Die blinden Flecke der Identitätspolitik«) formuliert G. nur als Fragen (30); sie zielt vor allem auf die »Ausblendung sozialer und ökonomischer Faktoren« (33). Zustimmung wird G. für seine Beobachtung finden, dass die Identitätspolitik grundlegende Einsichten in die Geschichtlichkeit menschlicher Kultur vernachlässigt (diese Kritik richtet G. auch gegen Uhlmanns Gegenposition, die sich auf die Aufklärung und eine universale Vernunft als »transhistorische Größe« [41] beruft): »War der Historismus darum bemüht, jede Epoche aus sich selbst heraus zu verstehen, so bewerten und zensieren die Jünger der Identitätspolitik die Vergangenheit vor allem mit den moralischen Maßstäben der Gegenwart« (36).

Nach der Darstellung (und schonenden Kritik) der Identitätspolitik wendet sich G. der Gegenseite zu, die mit Hilfe des griechisch-römischen Altertums eine eigene kulturelle Identität begründen möchte (G. weist auch auf die Position der Rechten in den USA). Hier dürfte die von G. wesentlich deutlicher vorgetragene Kritik einer »normativen Überstrapazierung« beim deutschen Leser mehr Widerspruch finden, zumal G. die beliebte Formel des »nächsten Fremden« als untauglich verwirft. Auch hier fällt noch einmal der Name Uhlmann: »Uhlmanns Rekurs auf Platon und Aristoteles zeigt, wie problematisch, ja wie gefährlich eine normative Lesart antiker Texte ohne Reflexion des historischen Hintergrunds ist« (43 f.). Die Kritik am »Normativen« und »Klassischen« (beides sieht G. in engem Zusammenhang) ist der Grundtenor seiner Ausführungen (besonders deutlich in seiner Replik auf J. Dittmer): »Die Bedeutung der Antike ist heute zu gering, die Brüche und Unterschiede zu groß und die Globalisierung zu prägend, als dass griechische und lateinische Texte heute eine kulturelle Identität Europas begründen könnten.« (65) So sieht er in den modernen Kulturen Chinas und Indiens eher das »nächste Fremde«, Kulturen, die »die Kraft haben, unsere Plausibilitäten in Frage zu stellen« (50). Damit gibt G. auch die »großen Werke« auf, die für Hölscher noch die »Kraft einer Forderung oder einer Verheißung« (53) hatten: »Das klassische Altertum hat seine Vorrangstellung als verbindlicher Rahmen für Orientierung eingebüßt.« (57)

Angesichts dieser Dekonstruktion ist der Leser gespannt, welchen positiven Wert G. seinem eigenen Fach noch zubilligen will. Dies geschieht im vierten Kapitel, in dem G. von »der normativen Diskussion« zu einer »deskriptiven Betrachtung« der Texte, die »heute noch jenseits der Altertumswissenschaften rezipiert werden« (68) wechselt. Dieser Methodenwechsel geschieht nicht zufällig, sondern ergibt sich aus G.s These, dass die angeführten Texte (Tragödie, Thukydides, Platon und Vergil) für G. ihre Bedeutung allein noch durch die Form erhalten, die G. mithilfe der Zauberworte: »Reflexivität« (der Begriff wird oft wiederholt), »Diskursivität« und »Ambiguität« beschreibt. Dahinter verberge sich nicht mehr als die Fähigkeit der genannten Autoren, »das eigene Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen« (71).So versucht G. der »Falle« des Normativen zu entkommen, indem er sich auf die Aussage zurückzieht, die Texte stimulierten lediglich die eigene Reflexion: »In ihrer Ambiguität ist die Mytilener-Debatte eine tiefgründige Erörterung von politischer Macht und Gewalt, die nach wie vor zum Nachdenken anregt. Nicht anders als bei der Tragödie ist es die hochreflexive Erörterung ethischer Probleme, die im Text stattfindet und, da keine Antworten gegeben, sondern Spannungsräume eröffnet werden, dem Leser keine Ruhe lässt.« (78)

G. hat zu Recht beobachtet: »Jede Zeit bis in die Gegenwart hinein hat ihre eigene Antike. Oft sagen Rezeptionen antiker Autoren mehr über die Zeit der Rezipienten als über die Antike aus« (58). Nach G. »werfen die besprochenen Texte vor allem Fragen auf – Fragen, die nicht beantwortet werden« (88). Diese Reduktion ist folgerichtig und dem Zeitgeist entsprechend, aber wohl unzutreffend. Richtig ist, dass antike Texte uns deutlich zeigen, dass (und in welchem oft erstaunlichen Maße) deren Autoren auch über ihre eigenen Texte und ihr eigenes Denken nachdachten; und richtig ist sicher auch, dass sie sich elementaren Fragen widmeten; hingegen scheint es zweifelhaft, ob sie wirklich auf Antworten verzichteten. Um es an der »Antigone« deutlich zu machen: G. folgt Hegels Interpretation, der zufolge das Stück »das Aufeinanderprallen von Ansprüchen, die beide ihre Berechtigung haben« (70), zeige. Tatsächlich nimmt Kreon für sich in Anspruch, zum Nutzen des Staates festlegen zu können, wer »Freund« und wer »Feind« der Polis sei (um damit die Macht im Staate zu besitzen), und tatsächlich widersetzt sich Antigone dieser Festlegung, indem sie im Bruder trotz seines Angriffes auf die Heimat weiterhin den »Freund« sieht, den sie auch nach seinem Tod unter keinen Umständen im Stich lassen will. Aber im Verlauf des Stückes macht Sophokles durch die Äußerungen des Sohnes, des Sehers, des Chores und zuletzt von Kreon selbst überdeutlich, dass die Position des Königs die falsche ist, weil sein Edikt, die Landesverräter den Hunden und Vögeln auszuliefern, in Wahrheit die Polis krank mache. Anstelle von Ambiguität finden wir klare Wertungen, und in ihrem Horizont wäre dann die Frage zu beantworten, weshalb Sophokles sein Stück so gestaltet, wie er es tut. Hier ist auf die unbedingte Notwendigkeit einer Interpretation zu verweisen, die den Text nicht als ein Feld beliebiger Projektionen eigener Fragen und Sichtweisen und als Raum für das eigene Denken ansieht, sondern sich der Aufgabe stellt, zum Kern des Textes, in dem die Denkarbeit des Autors sich manifestiert, überhaupt erst einmal vorzudringen. Denn es ist eine bloße Illusion zu glauben, dass diese Arbeit an den antiken Texten längst abgeschlossen sei, so dass uns allein ihre Form noch Neues zu bieten habe; der Philologe macht im Gegenteil immer wieder die Erfahrung, dass er bei fast jedem Text, dem er sich näher widmet, neu beginnen muss, scheinbare Gewissheiten der Interpretation in Frage stellen, die Phänomene eines Textes neu erfassen, die hinter ihnen stehenden Probleme und Überlegungen rekonstruieren und deren Analyse sodann in einer Weise verbinden muss, welche die »Antwort« eines Autors auf die von ihm gestellte Frage (die man in vielen Fällen ebenfalls erst rekonstruieren muss) sichtbar macht. So haben z. B. erst die neueren Forschungen von Stemmer und Blößner zu Platons Politeia uns gelehrt, wie dieses Werk überhaupt angelegt ist und welchen Sinn z. B. die von G. mehrfach angeführte Demokratie-Kritik eigentlich hat. Hinter solche Ergebnisse sollte man nicht zurückfallen, indem man sie ignoriert. Die ureigene Aufgabe des Philologen, die von G. (mit Gadamer) so genannte »subtilitas intelligendi et explicandi«, bleibt auch im 21. Jh. noch gestellt. Sie erfordert weiterhin Kommunikation – mit Denkern und Literaten, mit denen zu kommunizieren sich lohnt.

Damit kommt die von G. ausdrücklich bezweifelte (28) Kategorie der Qualität wieder ins Spiel (auf die auch Hölscher mit seiner Rede von den »großen Texten« Bezug nahm). Denn nur durch Verweis auf ihre Qualität lässt sich erklären, warum diese Texte, wenn auch nicht kontinuierlich, so doch in immer neuen Wellenbewegungen rezipiert wurden und werden (wobei unsere Zeit wohl ein Wellental darstellt). Nur wer zu kommunizieren beginnt, wird beurteilen können, ob und inwiefern sich diese Kommunikation für ihn lohnt – sei es, dass er seine eigenen Fragen neu und besser formulieren kann, sei es, dass er auf entscheidende Fragen menschlicher Existenz anregende Antworten erhält und diese adaptieren kann. Der von G. vorgeschlagene Rückzug allein auf die Form oder ein vages Anregungspotential der Texte wird die »Marginalisierung« der Klassischen Philologie vermutlich nicht verhindern; die Rückbesinnung auf ihr Kerngeschäft hat da zweifellos ein höheres, vielleicht sogar ein momentan eher unterschätztes Potential.