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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

156-159

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Güzelmansur, Timo, Specker, Tobias u. Christian Trenk [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Glaube/Unglaube. Islamische und christliche Deutungen.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2022. 144 S. = CIBEDO-Schriftenreihe, 7. Kart. EUR 19,95. ISBN 9783791733289.

Rezensent:

Carsten Polanz

Der vorliegende Sammelband reflektiert aus christlicher und islamischer Perspektive die Dichotomie zwischen Glauben und Unglauben und ihre Rolle bei den aktuell stark zunehmenden Einschränkungen der Religionsfreiheit weltweit (siehe die Gräueltaten des IS, Christenverfolgung u. a. in Nigeria und Pakistan, Unterdrückung der Uighuren in China oder Gewalt gegen Minderheiten in Indien). Gleichzeitig erkennen die Herausgeber zumindest im öffentlichen Raum Europas auch eine Herausforderung durch zunehmende Indifferenz gegenüber Religion. Sie hoffen, dass sich das interreligiöse Klima auch durch das vom Papst und dem Scheich al-Azhar, Ahmad at-Tayyib, unterzeichnete Dokument zur menschlichen Brüderlichkeit von 2019 verbessert, wollen aber diesbezüglich offene Fragen und kritische Aspekte nicht ausblenden. Zu denken wäre u. a. an das antisemitische Weltverschwörungsdenken at-Tayyibs oder die desolate Menschenrechtsbilanz der Vereinigten Arabischen Emirate, in denen das Dokument öffentlichkeitswirksam unterzeichnet wurde.

Die vier Beiträge des Bandes sollen den Ist-Zustand und seine Genese nachzeichnen und aus den historischen Konzepten Perspektiven für die Zukunft ableiten. Zwei der vier Beiträge (Marshall und Langenfeld) gehen auf Vorträge im Rahmen einer Werkstatt der Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO) in Frankfurt am Main vom Oktober 2019 zum Thema »Glaube und Unglaube als Problematik des christlich-islamischen Dialogs« zurück.

Im ersten und mit Abstand längsten Beitrag beschreibt der anglikanische Theologe und Islamwissenschaftler David Marshall das Verhältnis von Gläubigen und Ungläubigen im Koran und im islamischen Denken und Handeln. Bei der Koranlektüre dominiert bei ihm der Eindruck einer »einzigen essentiell unveränderlichen Konfrontation zwischen Gläubigen und Ungläubigen« als »Kernthema der Geschichte« (30). Während Muslime in Mekka noch eine göttliche Intervention erwartet hätten, würden sie in Medina zu »Instrumenten« (31) göttlicher Bestrafung für die Ungläubigen. Wichtig für einen ehrlichen Dialog sind auch Marshalls Beobachtungen zu vielzitierten Versen, die eine besondere Nähe zwischen Christen und Muslimen suggerieren. Ein Blick auf den Kontext und die klassische Auslegungstradition legt jedoch nahe, dass hier solche Christen gemeint sind, die bereits auf dem Weg waren, Muhammads Botschaft anzunehmen und seiner Gemeinschaft beizutreten. Was die heutige Verschärfung innerislamischer Konflikte durch folgenschwere Anschuldigungen des Unglaubens (takfīr) (u. a. gegenüber kritischen Denkern wie Salman Rushdie, Faraǧ Fauda oder Naṣr Ḥāmid Abū Zaid) betrifft, legt Marshall sehr gut die tieferen historischen Wurzeln des Phänomens frei. Mit Fred Donner erkennt er erstaunliche Parallelen zwischen der Poesie der frühislamischen Vorläufer heutiger dschihadistischer Bewegungen, der so genannten Ḫāriǧīten, und dem Geist und Tonfall des Korans in seiner scharfen Abgrenzung von Ungläubigen und Heuchlern. Abschließend geht Marshall auf moderne Reformansätze ein, die z. B. den friedfertigen Versen aus der mekkanischen Zeit Priorität gegenüber Gewalt legitimierenden Stellen aus der medinensischen Zeit einräumen wollen. Allerdings fehle es ihren Vertretern bisher an Aufmerksamkeit und Unterstützung. »Wo Muslime in der Mehrheit sind und die Machtbalance zu ihren Gunsten ausfällt« (60), sieht Marshall derzeit wenig Bereitschaft zu offener Diskussion und Gleichberechtigung. Muslime müssten selbst die Frage beantworten, ob der Islam politische Macht brauche, um authentisch er selbst zu sein.

Der Islamwissenschaftler Reza Hajatpour stellt in seinem Beitrag zentrale Aspekte der islamischen Existenzphilosophie als Alternative zur fundamentalistischen »Verengung der Dichotomie« von gläubig und ungläubig vor. Dabei bezieht er sich vor allem auf den persischen Philosophen Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Šhirāzī (1571–1635) bzw. Mullā Ṣadrā. Mit dessen Deutung des Glaubens als »existenzielle[r] Prozess« 66) will er zeigen, dass man auch in der vormodernen islamischen Geistestradition ein Glaubensverständnis und Menschenbild finden kann, das den religiösen Selbstentwurf und die dazu notwendige Freiheit des Menschen betont, aber gleichzeitig im Gegensatz zu Jean-Paul Sartre den Transzendenzbezug wahrt. Die stufenweise Glaubensentwicklung erscheint hier als Rückkehr zum »wahre[n] Ich« (74) im Sinne des koranischen Urvertrags und einer islamisch definierten Naturanlage. Angesichts der starken Konzentration auf Mullā Ṣadrās Ansatz vermisst man eine kurze Einordnung seines Werkes in den zeitgeschichtlichen Kontext des schiitischen Staatsislams der Safawiden. Es bleibt offen, welche konkreten gesellschaftlichen und rechtlichen Implikationen der islamische Existentialismus hatte bzw. hat und wie sich die starke Bezugnahme des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomenei auf das Werk Mullā Ṣadrā erklären lässt. Wie aus anderen sufischen Kontexten bekannt, muss die Überzeugung von der notwendigen Verinnerlichung des Glaubens keineswegs bedeuten, die politische Durchsetzung einer streng islamischen Grundordnung kategorisch abzulehnen.

Der Fundamentaltheologe und Vergleichende Religionswissenschaftler Aaron Langenfeld versucht in seinem Aufsatz über den Zweifel als »Zwischenraum« das katholische Verständnis von Glauben und Unglauben »im Horizont der interreligiösen Begegnung« (89) zu reflektieren. Mit Veronika Hoffmann unterscheidet er zwischen propositionalem und existenziell-religiösem Zweifel, wobei er von einer starken Wechselwirkung ausgeht. Langenfeld versteht das Kreuz als das »integrative Moment des Fragmentarischen, Gebrochenen und Ambivalenten« (99). Statt sich selbst absolut zu setzen und die eigene Kontingenz zu leugnen, fordert er dazu auf, sich demütig und lernbereit auf den religiös Anderen einzulassen. Dabei sei der Zweifel keine »selbstkritische Einbahnstraße« (104). Man dürfe auch Unverständnis ausdrücken und eigene Überzeugungen rechtfertigen. Sein abschließender Wunsch nach einem neuen Evangelisations- und Missionsverständnis »jenseits vulgärer Konversionsabsichten« (106) ist heute auch in vielen evangelischen Landeskirchen verbreitet. Möglicherweise steckt dahinter aber ein doppeltes Missverständnis. Ein auch Muslime zu Christus einladendes Glaubenszeugnis muss gerade angesichts der Kreuzesbotschaft keineswegs vulgär und mit einer hochmütigen Einstellung verbunden sein, die den Anderen pauschal abwertet und sich schwierigen Fragen an den eigenen Glauben entzieht. Zum anderen sollte nicht aus dem Blick geraten, dass religiöse Diversität und friedliche Koexistenz in multireligiösen Gesellschaften weltweit heute nicht von missionarisch gesinnten Christen oder Muslimen bedroht wird, die fundamentale Unterschiede ihres Glaubens ehrlich und respektvoll zur Sprache bringen, sondern von Islamisten, die ihren religiösen Wahrheitsanspruch mit einem politischen Machtanspruch verbinden.

Das zeigt auch der vierte und letzte Beitrag von Katja Voges. Die Referentin für Menschenrechte und Religionsfreiheit beim katholischen Missionswerk Missio in Aachen beschreibt die Dichotomie von Glauben und Unglauben im Kontext weltweiter Religionsfreiheit als Herausforderung für den interreligiösen Dialog. Die Autorin sieht Verletzungen der Religionsfreiheit vor allem in der Identifikation staatlicher oder gesellschaftlicher Akteure mit einer bestimmten Religion oder Ideologie und dem Versuch begründet, religiöse Wahrheits- und Reinheitsansprüche oder (wie im derzeit hindunationalistisch regierten Indien) ein bestimmtes national-religiöses Erbe gegen »fremde« Religionen durchzusetzen. Hinzu kämen häufig ökonomische, politische und ethnische Konfliktlinien. Massive Einschränkungen der Religionsfreiheit in vielen islamischen Ländern gehen nach Voges vor allem auf die Islamisierung von Verfassungen zurück – u. a. die Festschreibung des Islam als Staatsreligion, das Verbot öffentlicher Religionsausübung von Nicht-Muslimen (u. a. in Iran und Saudi-Arabien) und die Bedrohung von Religionskritikern und Apostaten mit gesetzlich vorgeschriebenen Todesstrafen und/oder schwerwiegenden zivilrechtlichen Konsequenzen, die u. a. in Pakistan häufig mit einer erheblichen Einschüchterung von Rechtanwälten und Richtern durch wütende islamistische Mobs einhergehen. Voges verweist auch auf die Ausgrenzung der Ahmadiyya in Pakistan und der Bahai im Iran. Durch diskriminierende Vorschriften würde bestimmten Gruppen aufgrund des »falschen« Bekenntnisses die Anerkennung als gleichwertige Bürger versagt. Mit Regina Elsner sieht Voges auch in Russland einen solchen »Schulterschluss« zwischen Mehrheitsreligion und staatlicher Macht bei der »ideologischen Homogenisierung der Gesellschaft« (124). Voges beklagt auch die einseitige und abwertende Darstellung anderer Religionen in vielen islamischen Schulbüchern. Ob die von ihr abschließend erwähnte Marrakesch-Deklaration von 2016 hier tatsächlich zu konkreten Veränderungen führt, bleibt abzuwarten. Zweifel sind m. E. angebracht. Plädoyers für eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft von Nicht-Muslimen stehen bei den Hauptprotagonisten in einem unauflösbaren Widerspruch zu gleichzeitiger Rechtfertigung autoritärer Herrschaft und eines Schariavorbehalts gegenüber Forderungen nach Demokratie und individuellen Freiheitsrechten.

Insgesamt gibt der Sammelband einen guten Einblick in die politisch und gesellschaftlich brisante Glaube/Unglaube-Dynamik. Dabei vermisst man allerdings einen muslimischen Beitrag, der sich konkreter mit den gewaltigen Herausforderungen auseinandersetzt, die Marshall und Voges skizzieren.