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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

141-154

Kategorie:

Aufsätze
Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Johannes Fischer

Titel/Untertitel:

Ethische Urteilsbildung am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs.
Ein Beitrag zu einer aktuellen Debatte

I Einleitung



In der Bundesregierung wird erwogen, Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des Strafrechts zu regeln. Bundesfamilienministerin Lisa Paus fordert eine Abschaffung des §218 des Strafgesetzbuchs und damit eine generelle Straffreiheit bei Schwangerschaftsabbrüchen. Es gehe um die Durchsetzung des Menschenrechts auf reproduktive Selbstbestimmung. »Frauen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, dürfen nicht länger diskriminiert werden.«1 Eine bereits im Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung vorgesehene Kommission »Reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin« hat zu dieser Frage Stellungnahmen relevanter gesellschaftlicher Institutionen eingeholt. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat sich in seiner Antwort für ein abgestuftes Lebensschutzkonzept für das ungeborene Leben offen gezeigt, das eine Rücknahme strafrechtlicher Maßnahmen im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der Frau vorsieht.2 Allerdings hat diese Stellungnahme bei der EKD-Synode im November 2023 in Ulm für erhebliche Kritik gesorgt. Man vermisste ein kla-res theologisch-ethisches Profil. Eine Arbeitsgruppe soll jetzt eine theologisch fundierte Stellungnahme erarbeiten.

Es gibt eine große Unsicherheit bezüglich der Frage, wie man überhaupt zu fundierten ethischen Urteilen gelangen kann. Das gilt auch im Blick auf den Schwangerschaftsabbruch. Nicht nur ethische Laien fühlen sich in dieser Frage unsicher. Auch unter denen, die sich von Berufs wegen mit Ethik bzw. Moralphilosophie oder Moraltheologie befassen, gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen in dieser Frage. Absicht der folgenden Ausführungen ist es, an der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs exemplarisch zu verdeutlichen, in welchen methodischen Schritten sich ethische Urteilsbildung vollzieht und welche Vorentscheidungen dabei getroffen werden müssen. Das erfordert bezüglich dieser Vorentscheidungen einige Vorüberlegungen, die Grundlagenfragen der philosophischen (und theologischen) Ethik betreffen und die unvermeidlich etwas abstrakt und theoretisch sind. Die Leserin und der Leser werden jedoch sehen, dass diese Vorüberlegungen unumgänglich sind, da hier die entscheidenden Weichen gestellt werden für die Klärung der eigentlichen Sachproblematik, nämlich der ethischen Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs. So viel sei bereits vorweggenommen: Die Überlegungen werden an ihrem Ende zu einem klaren und eindeutigen Urteil gelangen.

II Fundamentalethische Vorüberlegungen



Ethik ist nach allgemeiner Auffassung Nachdenken über Moral. Die Moral hat es gemäß dieser Auffassung mit Urteilen zu tun, mit denen Handlungen als gut oder schlecht, richtig oder falsch bewertet werden: »Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird.«3 Diese Auffassung von Ethik bestimmt auch die herrschende Vorstellung von der ethischen Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs. Es geht um eine moralische Frage, deren Beantwortung in einem Urteil besteht, mit dem der Schwangerschaftsabbruch bewertet wird.

Diese Auffassung von Ethik und Moral ist innerhalb der philosophischen Ethik nicht unumstritten. Sie ist in der Tat fragwürdig, und zwar weil sie die Eigenart von Urteilen verkennt. Urteile sind Aussagen, mit denen der Anspruch verbunden ist, dass sie wahr sind, und wenn sie wahr sind, ist das Ausgesagte eine Tatsache. Der Satz »Schwangerschaftsabbrüche sind moralisch verwerflich« ist daher, als Urteil verstanden, gleichbedeutend mit dem Satz »Die Aussage ›Schwangerschaftsabbrüche sind moralisch verwerflich‹ ist wahr«. Das ist eine wertneutrale Feststellung. Mit ihr wird die Wahrheit dieser Aussage konstatiert, nicht aber der Schwangerschaftsabbruch bewertet. Ihr entspricht die wertneutrale Tatsache, dass Schwangerschaftsabbrüche moralisch verwerflich sind. So, wie man zwischen der wertneutralen Feststellung der Wahrheit jener Aussage und deren moralisch wertendem Inhalt unterscheiden muss, so muss man auch zwischen der Wertneutralität dieser Tatsache und dem moralischen Sachverhalt, den sie beinhaltet, unterscheiden. In ganz derselben Weise konstatiert das Urteil »Es ist moralisch geboten, das vorgeburtliche Leben zu schützen« eine wertneutrale Tatsache, nämlich dass es moralisch geboten ist, das vorgeburtliche Leben zu schützen. Das Urteil selbst gebietet nicht, trifft also keine Wertung, und deshalb ist auch diese Tatsache wertneutral. Die Meinung, dass mit Urteilen moralischen Inhalts ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird, ist daher falsch. Urteile drücken keine Billigung oder Missbilligung aus, und sie bewerten nicht.

Innerhalb der philosophischen Metaethik ist dies die Kritik des sogenannten Nonkognitivismus. Bewertungen von Handlungen als gut oder schlecht, richtig oder falsch sind diesem zufolge keine Urteile, sondern Gefühlsäußerungen, die Billigung oder Missbilligung ausdrücken, oder auch Empfehlungen im Blick auf den Vollzug oder die Unterlassung der betreffenden Handlungen. Sie drücken keine Erkenntnis aus. Das beruht auf der Prämisse, dass nur das Erkenntnis ist, was in der Form des Urteils ausgedrückt werden kann. Da nach nonkognitivistischer Auffassung moralische Wertungen keine Urteile sind, vermitteln sie auch keine Erkenntnis. Die Gegenposition, der moralische Kognitivismus, dem zufolge es moralische Erkenntnis gibt, beruht auf derselben Prämisse. Er sieht sich daher zu der fragwürdigen Behauptung genötigt, dass moralische Wertungen Urteile sind, ganz im Sinne des schon zitierten Satzes: »Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet […] wird.«

Wenn nur das Erkenntnis ist, was in der Form des Urteils ausgedrückt werden kann, dann besteht die erkennbare Welt aus lauter wertneutralen Tatsachen. Von dieser Art ist das wissenschaftliche Weltbild. In einer solchen Welt gibt es keine Gründe für Handlungen, weder positive Gründe für ihren Vollzug noch negative Gründe für ihre Unterlassung. Hierin liegt die Erklärung für die im 19. Jh. aufkommende philosophische Adaption des Begriffs des Wertes oder der Werte und für dessen Konjunktur sowohl innerhalb der Philosophie als auch im allgemeinen Bewusstsein. Er fungiert als Substitut für Sinn angesichts einer sinn- und wertneutralen Welt. So sind in dieser Welt Gesundheit und Krankheit wertneutrale Zustände, die als solche keinerlei Grund geben für irgendeine Handlung. Wenn man gleichwohl Sport treibt, dann tut man dies, weil man seiner Gesundheit einen Wert beimisst. Auch die erkennbare Natur ist ein wertneutraler Bereich, der keinerlei Grund zum Handeln gibt. Wenn man sie gleichwohl schützt, dann nicht um der Natur willen, sondern um ihres intrinsischen Wertes willen. Die Menschenwürde wird auf diese Weise zum Wert (worth4) des Menschen. Und so wird auch dem vorgeburtlichen Leben ein Wert beigelegt, um seine Schutzwürdigkeit zu begründen. Denn so, wie dieses Leben für die Erkenntnis (des urteilenden Denkens) gegeben ist, ist es eine wertneutrale Tatsache. Ein anderer Begriff, der in Anbetracht dieser Welt Konjunktur hat, ist der des Interesses. Auch Interessen fungieren in einer ansonsten wertneutralen Welt als Gründe für Handlungen. Für eine interessenbasierte Ethik ist es eine Grundfrage, welchen Wesen sich Interessen zuschreiben lassen. Gehören auch menschliche Embryonen und Föten dazu? Wenn nicht, dann verdienen sie auch keine ethische Berücksichtigung. In der aktuellen Debatte über den Schwangerschaftsabbruch könnte man die Auffassung von Familienministerin Lisa Paus dieser Position zuordnen, insofern bei ihr das Interesse an reproduktiver Selbstbestimmung als alleiniger Grund für die Abschaffung des § 218 fungiert.

Der Irrtum dieser Art des ethischen Denkens besteht in der Grundannahme, an der sich die metaethische Debatte zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus entzündet, nämlich in der Prämisse, dass alle Erkenntnis die sprachliche Form des Urteils hat. Diese Prämisse ist selbstwidersprüchlich, insofern es, wenn sie wahr wäre, überhaupt keine Erkenntnis gäbe, jedenfalls keine empirische Erkenntnis. Denn die Wahrheit eines empirischen Urteils kann nicht durch Urteile festgestellt und bestätigt werden. Kann doch ein Anspruch auf Wahrheit nicht durch neue Ansprüche auf Wahrheit eingelöst werden. Vielmehr bedarf es dazu einer anderen Form der Erkenntnis und einer anderen Sprachform. So ist das Urteil »es regnet« wahr, wenn es regnet. Um festzustellen, ob Letzteres der Fall ist, bedarf es zum Beispiel eines Blicks aus dem Fenster. Die aufgrund dieses Blicks getroffene Feststellung »Es regnet« ist kein Urteil, sondern ein Narrativ, das artikuliert, was draußen geschieht. In dieser Weise sind empirische Urteile für ihre Verifikation auf das Erleben angewiesen, das in der Form von Narrativen zur Sprache kommt. Bezeichnet man die Welt, wie sie erlebt wird, als Lebenswelt, dann kann man diese Einsicht auch so formulieren, dass basal für alle Wirklichkeitserkenntnis die Lebenswelt ist. Das gilt, wie sich gleich zeigen wird, auch für diejenige Erkenntnis, mit der die Ethik es zu tun hat.

Hier sei nur noch angemerkt, dass jene Grundannahme, wonach Erkenntnis die sprachliche Form des Urteils hat, ein Spezifikum der philosophischen Aufklärung der Moderne ist. Sie vollzog sich in der Auseinandersetzung mit einer Metaphysik, die aus der christlichen Theologie hervorgegangen war, und zwar als Erkenntniskritik vom Standpunkt des Urteils aus. Damit etablierte sich das urteilende Denken als maßgebliche Erkenntnisinstanz. Das hatte zur Folge, dass die Lebenswelt aus dem Bereich der Erkenntnis verbannt wurde, da sie nicht in der Form des Urteils zur Sprache kommt. Sie mutiert zur subjektiv erlebten Welt und tritt als solche in Erscheinung in Gestalt von Intuitionen, Emotionen oder Gefühlen. Es gibt sie nicht als eine Realität jenseits des subjektiven Erlebens. Denn real sind nur die Tatsachen des urteilenden Denkens. So kommt es zu der berühmten Frage von David Hume, ob die Moral ihre Grundlage im Gefühl oder im Verstand hat.5 Weil »das moralische Gefühl (wie Lust und Unlust überhaupt) etwas bloß Subjektives ist, das keine Erkenntnis abgibt«6, haben sich im Blick auf die Humesche Alternative große Teile der modernen Moralphilosophie für den Verstand entschieden und dementsprechend dem Projekt einer rationalen Moralbegründung im urteilenden Denken verschrieben. Doch wie soll mittels wertneutraler Urteile Moral begründet werden können?

Auch die theologische Ethik hat zu einem nicht unerheblichen Teil diese moderne Ethikauffassung übernommen, nur dass sie bei ihren Begründungen von theologischen statt von philosophischen Prämissen ausgeht.7 Damit hat sie sich selbst in eine Rechtfertigungssituation gegenüber der philosophischen Ethik gebracht, und die diesbezügliche Apologetik durchzieht die theologische Fundamentalethik bis in die Gegenwart.8 Nicht zuletzt ist dies auch die innerkirchliche Erwartung an eine theologische Stellungnahme zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs, nämlich dass sie theologische Argumente beibringt, wo andere anders geartete Argumente beibringen, und dass sie sich hierin von anderen diesbezüglichen Stellungnahmen unterscheidet.

Um zusammenzufassen: Die erste und wichtigste Vorentscheidung im Blick auf die ethische Klärung des Problems des Schwangerschaftsabbruchs besteht darin, diese nicht im urteilenden Denken zu suchen. Man sollte die Falle vermeiden, die in einer Frage wie der folgenden liegt: Wie kann man den Schutz des vorgeburtlichen Lebens argumentativ begründen? Argumente sind Urteile, die aufgrund ihrer Wahrheit zur Anerkennung der Wahrheit anderer, strittiger Urteile nötigen. Doch ist es zweierlei, aufgrund von zwingenden Argumenten die Wahrheit eines Urteils anzuerkennen oder aber zu erkennen, dass das Urteil wahr ist. So ist es etwas anderes, ob jemand aufgrund des Arguments, dass Menschen ein Recht auf sexuelle Autonomie haben, anerkennt, dass eine Vergewaltigung moralisch verwerflich ist, oder ob er erkennt, dass eine Vergewaltigung moralisch verwerflich ist. Die letztere Erkenntnis resultiert aus der Wahrnehmung dessen, was eine Vergewaltigung für den betroffenen Menschen bedeutet. Bei der argumentativ erzwungenen Anerkennung der Wahrheit jenes Urteils hingegen kommt es lediglich auf das logische Verhältnis zwischen zwei Urteilen an. Das Projekt einer argumentativen Moralbegründung führt daher zu einer Desensibilisierung in Bezug auf die Lebenswirklichkeit. Diese spielt für die Erkenntnis des moralisch Guten und Richtigen keine Rolle. Das ist die Folge jener Prämisse, dass es Erkenntnis nur in der sprachlichen Form des Urteils gibt. Die Lebenswelt fällt damit aus dem Bereich der Erkenntnis heraus.

III Die Pluralität von Lebenswelten und die Bedeutung des urteilenden Denkens



Die Alternative zu einer Ethik, die ethische Orientierung im urteilenden Denken sucht, besteht in einer Ethik, die solche Orientierung in der Lebenswelt sucht. Oben wurde gesagt, dass basal für alle Wirklichkeitserkenntnis die Lebenswelt ist. Das gilt auch für die ethische Erkenntnis. Im Unterschied zur wertneutralen Tatsachenwelt des urteilenden Denkens ist die Lebenswelt voller Normativitäten und Sinnstrukturen.9 So hat die Moral ihre Wurzeln in der Lebenswelt.10 Die Äußerung »Er hat sich gut verhalten« artikuliert, wie ein Verhalten erlebt worden ist, nämlich als gut. Alles Handeln bezieht seine Gründe aus der Lebenswelt. Die ethische Aufgabe in Bezug auf das Problem des Schwangerschaftsabbruchs besteht daher darin zu klären, wie das vorgeburtliche Leben in den Sinnstrukturen und Normativitäten der Lebenswelt gewissermaßen »drin liegt«.

Bevor diese Frage angegangen werden kann, bedarf es jedoch noch einer weiteren Vorüberlegung. Sie betrifft die Tatsache, dass es die Lebenswelt nur im Plural gibt. Es gibt viele Lebenswelten, religiöse und säkulare. Alle haben ihre eigenen Sinnstrukturen und Normativitäten. Unterschiedliche Lebenswelten können daher Menschen zutiefst voneinander trennen. Hier liegt die Bedeutung des urteilenden Denkens. Dieses ermöglicht eine gemeinsame säkulare Welt, in der sich Menschen, die verschiedenen Lebenswelten angehören, treffen und über die Grundlagen ihres Zusammenlebens verständigen können. Man kann sich das an einer einfachen Überlegung verdeutlichen. Damit Menschen, die in verschiedenen Lebenswelten beheimatet sind, sich verständigen können, brauchen sie eine gemeinsame Sprache. Es kann sich dabei nicht um eine Sprache handeln, die Erleben artikuliert, da es ja gerade ihr Erleben ist, das sie voneinander trennt. Es muss vielmehr eine Sprache sein, die Gegenstände bezeichnet, und zwar für alle Beteiligten identisch bezeichnet, wobei jeder sich innerhalb seiner jeweiligen Lebenswelt vom Gegebensein dieser Gegenstände überzeugen kann. Dem lebensweltlichen Narrativ »Es schneit«, das artikuliert, was geschieht, entspricht in dieser gemeinsamen Sprache die Aussage bzw. das Urteil »Es schneit«, das beschreibt, was geschieht. Jeder kann sich in seiner Lebenswelt davon überzeugen, dass dieses Urteil wahr ist. Das funktioniert allerdings nur bei Gegenständen oder Ereignissen, auf die Angehörige verschiedener Lebenswelten sich gemeinsam beziehen können. Die Götter oder Geister einer religiösen Lebenswelt gehören nicht dazu, da sie nur in dieser Lebenswelt vorkommen. Auf diese Weise entsteht das urteilende Denken als das Verbindende zwischen Menschen, die verschiedenen Lebenswelten zugehören, und mit ihm entsteht eine säkulare Tatsachenwelt.

Auch die moralische Verständigung zwischen Menschen, die verschiedenen Lebenswelten angehören, vollzieht sich in der gemeinsamen Sprache des Urteils. Dem lebensweltlichen Narrativ »Er hat sich gut verhalten« entspricht in dieser Sprache das Urteil »Er hat sich gut verhalten«. Während mit dem Narrativ eine Wertung getroffen wird, konstatiert, wie gesagt, das Urteil eine wertneutrale Tatsache, nämlich dass diese Aussage wahr und das Ausgesagte der Fall ist. Aufgrund ihrer Einbindung in unterschiedliche Lebenswelten ist es unausweichlich, dass Menschen bei der Verständigung über die normativen Grundlagen ihres Zusammenlebens zu unterschiedlichen Urteilen hinsichtlich des Guten, Richtigen und Gerechten gelangen können. In diesem Fall müssen sie untereinander aushandeln, was für alle verbindlich sein soll. Dieser Sachverhalt nötig zur Unterscheidung zwischen der Wahrheit und der Geltung von Urteilen: Ein Urteil über das moralisch Richtige, das vor dem Hintergrund der eigenen Lebenswelt als wahr erkannt wird, hat deshalb noch keine allgemeine Geltung in dem Sinne, dass auch alle anderen seine Wahrheit anerkennen müssen. Denn andere urteilen vor dem Hintergrund ihrer Lebenswelt. Das Urteil ist also wahr, aber nicht für jedermann gültig. Mit dieser Unterscheidung wird wohlgemerkt keine Relativierung der Wahrheit vollzogen. Urteile sind wahr oder unwahr, aber nicht »wahr für jemanden«. Wäre Letzteres der Fall, dann könnte es keinen Streit über die Wahrheit geben. Man könnte nur konstatieren, dass ein Urteil für den einen wahr und für den anderen eben unwahr ist. Geltung hingegen ist relativ. Ein Urteil kann für den einen gültig sein in dem Sinne, dass er sich zur Anerkennung von dessen Wahrheit genötigt sieht, und es kann für den anderen keine Gültigkeit haben.

Diese Differenzierung ist besonders im Blick auf religiöse Menschen von Bedeutung. Ihre Bereitschaft, sich überhaupt auf eine mit Andersglaubenden und Andersdenkenden gemeinsame säkulare Welt einzulassen statt sich in die Geschlossenheit der eigenen religiösen Lebenswelt zurückzuziehen, hängt entscheidend davon ab, dass bei der Verständigung über die Grundlagen des Zusammenlebens und bei dem diesbezüglichen Aushandlungsprozess ihr lebensweltlicher Hintergrund anerkannt und als gleichberechtigt respektiert wird. Dazu müssen alle bereit sein, einander zuzugestehen, dass das, was sie selbst als Wahrheit erkannt haben, nicht notwendig auch für alle anderen gültig ist.

Die Aufklärung der Moderne wollte mehr. Sie wollte die Grundlagen des Zusammenlebens im urteilenden Denken als dem alle Verbindenden fundieren und dadurch das Trennende zwischen den Menschen in Gestalt unterschiedlicher Lebenswelten überwinden. Mit dem Exklusivanspruch für die Erkenntnis des urteilenden Denkens wurden alle lebensweltlichen Rücksichten obsolet. Damit wurde auch die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Geltung bedeutungslos. Was im urteilenden Denken zweifelsfrei als wahr erkannt ist, das ist auch für jedermann gültig, da es keine andere Erkenntnis als die Erkenntnis dieses Denkens gibt. Wenn Menschen aufgrund ihrer anders gearteten lebensweltlichen Einbindungen außerstande sind, diese Wahrheit anzuerkennen, befinden sie sich daher im Irrtum. Sie sind blind für das, was doch auch für sie Geltung hat. Wie weitreichend die Folgen dieser Auffassung sind, kann man sich an dem Glauben des Westens an die universale Geltung der Menschenrechte verdeutlichen.11 Oben wurde gesagt, dass die Bereitschaft religiöser Menschen, sich auf eine mit Andersglaubenden und -denkenden gemeinsame säkulare Welt einzulassen, von der Anerkennung und Achtung des eigenen lebensweltlichen Hintergrunds abhängt. Der Exklusivanspruch für die Erkenntnis des urteilenden Denkens lässt solchen Respekt nicht zu. Er provoziert dadurch den Rückzug in geschlossene Lebenswelten und die entschiedene bis feindselige Abgrenzung vom westlichen universalistischen Modell auf Seiten derer, von denen verlangt wird, dass sie sich ungeachtet der Lebenswelt, in der sie sich orientieren, diesem Universalismus unterwerfen. So führt das Projekt der Aufklärung der Moderne anstatt zur Überwindung von Trennungen zu umso tieferen Gräben zwischen Menschen.

Für religiöse Menschen kommt noch ein weiteres hinzu. Die über die Verständigung in der Sprache des Urteils sich vollziehende Etablierung einer gemeinsamen säkularen Tatsachenwelt zieht unvermeidlich eine gemeinsame säkulare Lebenswelt nach sich, zu welcher die gesellschaftliche Moral gehört. Für religiöse Menschen bedeutet dies, dass sie in zwei verschiedenen Lebenswelten leben, die sie miteinander kompatibel halten müssen, nämlich in der Lebenswelt ihres Glaubens und in der säkularen Lebenswelt, die sie mit Andersglaubenden und -denkenden verbindet. Sie tragen ihr religiöses Ethos in sich, und sie partizipieren an der gesellschaftlichen Moral, und beides beeinflusst sich wechselseitig. Man muss sich daher frei machen von der Vorstellung, dass es einerseits religiöse und andererseits säkulare Menschen gibt. In einer offenen Gesellschaft dürfte es eher der Normalfall sein, dass Menschen an mehreren Lebenswelten gleichzeitig teilhaben.

Um zusammenzufassen: Es gibt nicht nur eine Lebenswelt, sondern viele Lebenswelten. Die Brücke zwischen ihnen wird durch die Sprache des Urteils geschlagen. Diese ermöglicht Verständigung insbesondere über die normativen Grundlagen des Zusammenlebens, und zwar in Gestalt von (wertneutralen) Urteilen, die lebensweltliche Normativitäten und Sinnstrukturen benennen und deren Wahrheit oder Unwahrheit von jedermann anhand der eigenen lebensweltlichen Kontexte überprüft werden kann. Da die ethische Klärung des Problems des Schwangerschaftsabbruchs solche Verständigung zum Ziel hat, muss sie sprachlich die Form derartiger Urteile haben. Dabei muss allerdings auch mit unüberwindbaren gesellschaftlichen Dissensen gerechnet werden. In diesem Fall tritt an die Stelle der ethischen Verständigung die politische Aushandlung von Kompromissen zum Beispiel im Blick auf rechtliche Regelungen, die es ermöglichen, trotz Dissens in wesentlichen normativen Fragen zusammenzuleben. Für die heutige theologische Ethik kommt hinzu, dass sie mehrstufig denken muss aufgrund der Tatsache, dass religiöse Menschen heute in der Regel nicht nur an ihrer religiösen, sondern zugleich an einer säkularen Lebenswelt partizipieren.

IV Das vorgeburtliche Leben: säkulare Perspektive



Ich wende mich nun zunächst der Frage zu, wie das vorgeburtliche Leben in den Normativitäten und Sinnstrukturen einer säkularen Lebenswelt gewissermaßen »drin liegt«. Ich tue dies, wie gesagt, in der sprachlichen Form des Urteils. Das zeigt sich schon daran, dass das, was der Ausdruck »das vorgeburtliche Leben« bezeichnet, in Lebenswelten nicht vorkommt. Denn dieses begriffliche Abstraktum kann nicht erlebt werden.

Was zunächst die Normativitäten und Sinnstrukturen von säkularen Lebenswelten betrifft, so sind diese unterteilt in eine natürliche Welt und eine soziale Welt,12 und zwar aufgrund der unterschiedlichen Seinsweise zweier Arten von Entitäten: zur natürlichen Welt gehört, was da ist oder vorhanden ist wie zum Beispiel dieser Tisch oder der Baum vor dem Fenster. Zur sozialen Welt gehört, was anwesend oder abwesend ist, nämlich menschliche Personen. Als Mitglieder der sozialen Welt sind menschliche Personen das, was sie für andere sind. Das beginnt am Anfang ihres Lebens damit, dass andere sich auf sie als Personen beziehen und ihnen den Namen einer Person geben. Nur aufgrund dieser Bezugnahme anderer auf sie als Personen entwickeln sie von sich selbst ein Bewusstsein als Person.13 Das setzt sich fort darin, dass sie auch ihr soziales Sein zum Beispiel als Menschen der Anerkennung und Achtung ihrer Mitmenschen verdanken.14 Denn natürliche menschliche Eigenschaften machen noch nicht sozial zum Menschen.

Allerdings reicht für ihr soziales Menschsein die bloß faktische Anerkennung als Mensch durch ihre Mitmenschen nicht aus. Denn wäre es hiervon abhängig, dann wäre es deren Willkür ausgeliefert. Die soziale Welt ist daher durch eine unüberschaubare Vielzahl von Anerkennungs- und Achtungsregeln strukturiert, die festlegen, wem aufgrund welcher Kriterien welche Anerkennung und Achtung geschuldet ist. Diese Regeln verklammern die soziale mit der natürlichen Welt, da die Kriterien in natürlichen Sachverhalten bestehen, so im Fall des sozialen Menschseins im natürlichen Menschsein: Mensch im Sinne eines Mitglieds der menschlichen Gemeinschaft zu sein heißt, ein Wesen zu sein, dem aufgrund seines natürlichen Menschseins die Anerkennung und Achtung als Mensch geschuldet ist. Hierin ist die Menschenwürde begründet. Mensch zu sein und Menschenwürde zu haben sind in der sozialen Welt ein und dasselbe. Es bedeutet, ein Wesen zu sein, dem die Anerkennung und Achtung als Mensch geschuldet ist.15 Die Menschenwürde bedarf daher keiner philosophischen oder theologischen Begründung. Sie ist innerhalb der Lebenswelt eine soziale Realität. Das hat seine Widerspiegelung in der Sprache, nämlich darin, dass innerhalb der Lebenswelt das Wort »Mensch« ein nomen dignitatis ist, d. h. eine normative Bedeutungskomponente hat. Man denke an den Ausruf »Das sind doch Menschen!« in Anbetracht erlebter Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Migranten und Flüchtlingen im Mittelmeer. Diese normative Imprägnierung unterscheidet die Sprache der Lebenswelt von der Sprache des Urteils, in der das Wort »Mensch« eine rein deskriptive Bedeutung hat. In letzterer Sprache befassen sich die Wissenschaften mit dem Menschen.

Eingangs war von der herrschenden Ethikauffassung die Rede, der zufolge Ethik philosophische Reflexion auf Moral ist. Nach dieser Auffassung geht es auch bei der ethischen Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs um eine moralische Frage. Demgegenüber gilt es zu sehen, dass es sich bei der normativen Verfasstheit der sozialen Welt um keine moralische Normativität handelt. Es geht nicht um die Beurteilung von Handlungen als gut oder schlecht, richtig oder falsch, sondern um geschuldete Anerkennung und Achtung. Ein Ethikverständnis, das Ethik auf Moralreflexion reduziert, ist daher viel zu eng. Die jetzt in den Blick gerückte Normativität gehört strukturell zur sozialen Welt (als Teil der Lebenswelt), d.h. es gibt sie in jeder sozialen Welt, wie immer sich soziale Welten ansonsten unterscheiden mögen. Charakteristisch für die soziale Welt, die aus der Aufklärung der Moderne hervorgegangen ist, ist die Tatsache, dass in ihr das Menschsein der fundamentale soziale Sachverhalt ist, im Unterschied zur vormodernen ständischen Ordnung, in der die geschuldete Anerkennung und Achtung sich auf den Stand bezog, dem ein Mensch zugehörte. Beide sozialen Welten kommen jedoch strukturell darin überein, dass sie auf geschuldeter Anerkennung und Achtung basieren. Nur angemerkt sei, dass in dieser strukturellen Normativität der sozialen Welt das Phänomen der Gerechtigkeit begründet ist.16 Dieses ist der menschlichen Vergesellschaftung inhärent und deshalb in allen Gesellschaften anzutreffen.

Nach diesen Vorüberlegungen zur normativen Verfasstheit der sozialen Welt können wir uns nun der Frage zuwenden, ob und wie das vorgeburtliche Leben in diese Normativität eingebunden ist. Die erste Frage, mit der die Weichen für alles Weitere gestellt werden, lautet hier, ob das vorgeburtliche Leben überhaupt zur sozialen Welt gehört. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass menschliche Föten Organismen sind, die als solche zur natürlichen Welt gehören. Das ist zweifellos richtig. Doch schließt dies eine Zugehörigkeit des vorgeburtlichen Lebens zur sozialen Welt genauso wenig aus, wie die Tatsache, dass ein Mensch mit seinem Körper zur natürlichen Welt gehört, ausschließt, dass er als Person zur sozialen Welt gehört.

Noch einmal zur Erinnerung: Die soziale Welt ist hier als ein Teil der Lebenswelt im Blick, d.h. der Welt, wie sie erlebt wird. Was in dieser Welt ist und geschieht und wie es in dieser Welt ist und geschieht, bemisst sich daran, was erlebt wird und wie es erlebt wird. Ob das vorgeburtliche Leben zur sozialen Welt gehört, bemisst sich daher an der Antwort auf die Frage: Als was wird das, was da im Mutterleib heranwächst, erlebt? Gewiss nicht als eine menschliche Person. Die Personwerdung findet erst nach der Geburt in der Interaktion zwischen Baby bzw. Kleinkind und seinen Bezugspersonen statt.17 Gleichwohl ist das Leben im Leib der Schwangeren so, wie es von dieser und anderen erlebt wird, nicht ohne Bezug auf eine menschliche Person, nämlich auf eine zukünftige menschliche Person. Seine erlebte Gegenwärtigkeit wird als die Gegenwärtigkeit einer zukünftigen menschlichen Person erlebt. Man muss sich hierzu bewusst machen, dass wir zwar nicht Zukünftiges jetzt schon erleben können, dass wir aber Zukünftiges als Zukünftiges jetzt schon erleben können, zum Beispiel in der Vorfreude darauf oder in der Furcht davor. In solchem Erleben ist es als Zukünftiges jetzt gegenwärtig. Andernfalls würde es nicht erlebt. In dieser Weise wird auch das, was im Mutterleib heranwächst, als Gegenwärtigkeit einer zukünftigen menschlichen Person erlebt, und auch dies kann von unterschiedlichen Gefühlen begleitet sein, von Vorfreude, aber auch von Angst, zum Beispiel vor der Verantwortung, die ein Kind bedeutet, bis hin zu dem Wunsch, diese zukünftige Person nicht zu erleben, zum Beispiel in Anbetracht einer diagnostizierten schweren Behinderung. Das Erleben des vorgeburtlichen Lebens würde von keinem dieser Gefühle begleitet sein, wenn das, was erlebt wird, lediglich das Leben im Mutterleib sein würde, ohne Bezug auf eine zukünftige Person.

Nun ist menschlichen Personen die Anerkennung und Achtung als Menschen geschuldet. Die geschuldete Anerkennung als Menschen schließt aus, dass sie als Nicht-Menschen, in diesem Fall als bloße Organismen, betrachtet und behandelt werden dürfen. Die geschuldete Achtung als Menschen schließt aus, dass sie der eigenen Willkür unterworfen und getötet werden dürfen. Wenn in dem Leben, das im Mutterleib heranwächst, die Gegenwart einer zukünftigen menschlichen Person erlebt wird, die als solche unter dem Schutz der Menschenwürde steht, dann erstreckt sich dieser Schutz auch auf dieses Leben. Denn getötet würde im Fall eines Schwangerschaftsabbruchs nicht bloß dieses Leben, sondern diese zukünftige menschliche Person, insofern sie in diesem Leben jetzt schon gegenwärtig und somit der sozialen Welt zugehörig ist.

So ergibt sich in ethischer Hinsicht, dass das vorgeburtliche Leben aufgrund seiner Einbettung in die Normativität der sozialen Welt denselben Schutz verdient wie ein geborener Mensch. Ein Schutzkonzept wie jenes, das der Rat der EKD in seiner eingangs erwähnten Stellungnahme erwogen hat, wonach das vorgeburtliche Leben abgestuft je nach Zeitpunkt der Schwangerschaft geschützt werden soll, kommt daher nicht in Betracht. Denn der Zeitpunkt der Schwangerschaft spielt im Blick auf das Erleben des vorgeburtlichen Lebens als Gegenwärtigkeit einer zukünftigen menschlichen Person keine Rolle. Die Vorstellung, dass das Lebensrecht und somit die Schutzwürdigkeit des vorgeburtlichen Lebens mit fortschreitender Schwangerschaft zunimmt, beruht auf einer eher naturalistischen Betrachtungsweise, die das Lebensrecht von der Entwicklung des Fötus abhängig macht. Auch die in der Stellungnahme des Rates der EKD zu findende Auffassung, der Schutz des vorgeburtlichen Lebens könne zum Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren ins Verhältnis gesetzt und gegen dieses abgewogen werden, kommt nach dem Gesagten nicht in Betracht. Die Menschenwürde kann nicht gegen anderes abgewogen werden.18

Was die Rede vom Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren betrifft, so muss man sich immer gegenwärtig halten, dass gemäß Art. 2 Abs. 1 GG das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit unter der Einschränkung steht, dass bei dessen Wahrnehmung nicht die Rechte anderer verletzt werden dürfen. Nach dem Gesagten kollidiert bei einem Schwangerschaftsabbruch das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren mit der Menschenwürde des vorgeburtlichen Lebens und dem darin enthaltenen Lebensrecht. Daher muss hier das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren zurückstehen. Eine Position, wie sie die Bundesfamilienministerin vertritt, welche das Menschenrecht auf reproduktive Selbstbestimmung auf den Schwangerschaftsabbruch ausdehnt und dabei keine Schutzwürdigkeit des vorgeburtlichen Lebens anerkennt, die dieser Selbstbestimmung Schranken setzt, ist daher aus ethischer Sicht unhaltbar. Sie beruht offensichtlich auf einem Naturalismus, für den das vorgeburtliche Leben aus organismischen Entitäten besteht, über die frei verfügt werden kann. Nach dieser Sicht macht der Schutz des vorgeburtlichen Lebens durch das Strafrecht keinen Sinn, da damit etwas geschützt wird, das nicht schützenswert ist, und da er lediglich die Diskriminierung und Pönalisierung von Frauen zur Folge hat, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.

Zu der bei Gegnern des § 218 anzutreffenden Rede von einer Pönalisierung von Schwangeren und Frauen19 sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass es heute kaum vorkommt, dass Frauen wegen eines Schwangerschaftsabbruchs bestraft werden. Beim strafrechtlichen Schutz des vorgeburtlichen Lebens geht es nicht primär um die Sanktionierung von Schwangerschaftsabbrüchen, sondern um das, was man in der Strafrechts-Diskussion die »symbolische Funktion« des Strafrechts nennt. Gemeint ist die Wirkung, die Rechtsnormen auf das gesellschaftliche Bewusstsein ausüben, insbesondere was die Schutzwürdigkeit von Personen und Gütern und die Unrechtmäßigkeit von Handlungen betrifft. Es gilt, im allgemeinen Bewusstsein gegenwärtig zu halten, dass über das vorgeburtliche Leben nicht willkürlich verfügt werden darf, da es unter dem Schutz des Menschenwürdeartikels des Grundgesetzes steht. Bei der Debatte darüber, ob der § 218 aus dem Strafgesetzbuch genommen werden soll, geht es also im Kern um die Frage, ob das vorgeburtliche Leben ein Schutzgut der Rechtsgemeinschaft ist oder ob sein Schutz den Einstellungen, Überzeugungen und Interessen der gesellschaftlichen Individuen überlassen bleiben soll.

Aus ethischer Sicht gibt es nur einen einzigen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Nach dem soeben Gesagten liegt dieser nicht im Selbstbestimmungsrecht der Frau. Es handelt sich vielmehr um einen moralischen Grund, und dieser besteht in einer Notlage, in die schwangere Frauen geraten können. Das kann eine medizinische Notlage sein. Das kann aber auch eine seelische Notlage sein, die dadurch entsteht, dass eine Frau gegen ihren Willen eine Schwangerschaft austragen soll. Für derartige Notlagen muss es die Möglichkeit eines straffreien Schwangerschaftsabbruchs geben.

Die Frage der rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs würde den Rahmen dieser Überlegungen sprengen. Nimmt man die vorstehenden Überlegungen zur Schutzwürdigkeit des vorgeburtlichen Lebens sowie zur Notlage von Frauen als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch zum Maßstab, dann spricht vieles dafür, die heute geltende gesetzliche Regelung beizubehalten. Wer etwas anderes will, der muss mit überzeugenden Gründen darlegen, dass und warum sich die Situation seit 1995, dem Jahr der Inkraftsetzung der geltenden Regelung durch den Deutschen Bundestag, so geändert hat, dass sie eine neue Regelung erfordert. Solche Gründe sind in der bisherigen Debatte nicht zu erkennen.20

V Das vorgeburtliche Leben: theologische Perspektive



Es war an früherer Stelle davon die Rede, dass auch die theologische Ethik wegkommen muss vom Ethikparadigma der modernen philosophischen Ethik, von dem auch ihr Denken maßgeblich geprägt worden ist. Auch sie muss die Lebenswelt wiederentdecken. Dabei muss sie in Rechnung stellen, dass Menschen, die als Christinnen und Christen zu leben versuchen, heute in aller Regel nicht nur der Lebenswelt ihres Glaubens zugehören, sondern auch an einer säkularen Lebenswelt partizipieren, und dass sie beides miteinander kompatibel halten müssen. Das bedeutet für die theologische Ethik, dass sie bemüht sein muss, ethische Orientierung im Blick auf beide Gestalten von Lebenswelt zu vermitteln. Was oben zur säkularen Lebenswelt ausgeführt wurde, ist daher auch für die theologische Ethik relevant.

Was demgegenüber die Lebenswelt des Glaubens von Christinnen und Christen betrifft, so würde es hier zu weit führen darzustellen, wie diese Welt aufgebaut ist.21 Nur so viel sei dazu angemerkt, dass charakteristisch für diese Welt eine Schichtung ist in der Art, wie sie erlebt wird: In dem, was sinnenfällig erlebt wird, wird die verborgene Gegenwart von etwas anderem erlebt, in dem zugleich die Erklärung liegt für das, was sinnenfällig erlebt wird, nämlich die verborgene Gegenwart von Gottes Geist, durch den Gott in der Welt wirkt. In dieser Weise wird auch das vorgeburtliche Leben erlebt, nämlich als etwas, worin Gottes Güte gegenwärtig ist, die in diesem Leben eine zukünftige menschliche Person entstehen lässt. Das macht dieses Leben zu etwas ungemein Schützenswertem, und das in jeder Phase der Schwangerschaft. So begriffen besteht die theologisch-ethische Aufgabe nicht darin, theologische Begründungen dafür zu entwickeln, dass das vorgeburtliche Leben schützenswert ist, etwa nach dem Muster: Das vorgeburtliche Leben ist von Gott geschaffen und gewollt; daher muss es geschützt werden. Das wäre Rückfall ins urteilende Denken. Es geht vielmehr darum aufzudecken, wie das vorgeburtliche Leben in der christlichen Lebenswelt gewissermaßen »drin liegt«, d. h. wie es doch schon erlebt wird von Menschen, die sich auf diese Lebenswelt eingelassen haben. Diese Menschen müssen über seine Schutzwürdigkeit nicht mehr belehrt werden. Eine öffentliche kirchliche Stellungnahme zur ethischen Problematik des Schwangerschaftsabbruchs müsste in dieser Weise an der Lebenswelt derer geerdet sein, für die die Kirche zu sprechen beansprucht. Sie müsste den lebensweltlichen Hintergrund öffentlich nachvollziehbar machen, aus dem das theologisch-ethische Urteil resultiert.

Wird die ethische Aufgabe in dieser Weise begriffen, dann ist damit jeglicher ethischen Expertokratie der Boden entzogen. Es braucht dann keine ethischen Fachleute mehr, die mit wissenschaftlicher Kompetenz im internen Fachdiskurs das ethisch Richtige und Gebotene ermitteln und die Allgemeinheit darüber belehren. Denn ethische Expertinnen und Experten sind dann alle, die an der betreffenden Lebenswelt teilhaben, sei sie säkular oder religiös. Ist doch das ethische Urteil auf die Bestätigung durch ihr Erleben angewiesen. Wo immer es aber durch ihr Erleben bestätigt wird, da wissen sie bereits, was zu tun ist, und bedürfen keiner Belehrung mehr.

VI Schluss



Es sei zum Schluss der umfassendere gesellschaftliche und politische Zusammenhang angedeutet, in den die vorstehenden Überlegungen eingeordnet werden müssen. Für westliche, durch die Aufklärung der Moderne geprägte Gesellschaften ist das schwierige Verhältnis zwischen urteilendem Denken und Lebenswelt eine permanente Ursache von gesellschaftlichen Spannungen und Konflikten. Auf der einen Seite stehen diejenigen, für die die Vernunft mit dem urteilenden Denken in eins fällt und die daher der Überzeugung sind, dass es gilt, die Gesellschaft nach Maßgabe dieses Denkens zu gestalten und zu verändern. Für sie existiert die Lebenswelt nicht, jedenfalls nicht als eine Realität, die es zu berücksichtigen gilt. Sie existiert für sie allenfalls als subjektiv erlebte Welt in den Köpfen und Gefühlen derer, die ihren fortschrittlichen Ideen Widerstand entgegensetzen und sich dabei von Vorurteilen leiten lassen. In der Tradition der Aufklärung gilt ihnen die Autonomie bzw. Selbstbestimmung als Höchstwert, und dementsprechend versuchen sie, diesem Wert auf allen gesellschaftlichen Feldern zur Durchsetzung zu verhelfen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die sich einer lebensweltsensiblen Vernunft verpflichtet wissen und die darauf bestehen, dass die Lebenswelt ihre eigenen Normativitäten und Plausibilitäten hat und dass das gesellschaftliche Zusammenleben hierin sein Fundament hat, weshalb man sich darüber nicht einfach hinwegsetzen darf. Für sie ist das Denken derer, die alles nur der urteilenden Vernunft unterwerfen, realitätsfremd. Es geht an der Welt vorbei, wie sie erlebt wird und aus der alles Handeln seine Gründe bezieht.

Der jetzige Plan der Bundesfamilienministerin, das Menschenrecht auf reproduktive Selbstbestimmung auf den Schwangerschaftsabbruch auszuweiten, steht in einer Reihe mit ähnlichen Projekten der jetzigen Regierung, bei denen es stets um die Selbstbestimmung als Höchstwert geht. Bei dem vorläufig gescheiterten Versuch einer rechtlichen Regelung der Suizidproblematik ging es – vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2022 – darum, dem Recht Suizidwilliger auf Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen. Ins Hintertreffen geriet dabei die Suizidprävention. Beim geplanten Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag geht es darum, einem angeblichen Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit Geltung zu verschaffen.22 Nun geht es darum, einem vermeintlichen Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch Geltung zu verschaffen. All dies sind Beispiele für die Verdrängung der Lebenswelt im öffentlichen Diskurs.

Der Konflikt zwischen einer im urteilenden Denken konstruierten Welt und der erlebten Welt ist heute in vielen Bereichen eine gesellschaftliche und politische Realität. Überwunden werden könnte er nur durch die Einsicht, dass nicht das urteilende Denken, sondern dass das Erleben basal ist für alle Wirklichkeitserkenntnis und dass daher nur solche Urteile Anspruch auf Wahrheit erheben können, die an der Lebenswelt geerdet sind. Das gilt ganz besonders für ethische Urteile.

Abstract



The Council of the Protestant Church in Germany (EKD) has spark-ed controversy with a statement on the protection of prenatal life under criminal law. It revolves around the question of whether it is possible to differentiate between phases of pregnancy with different levels of protection. This article claims to show how a well-founded ethical judgement can be reached on this question. The author argues that it is necessary to consider how and as what prenatal life is experienced by the pregnant woman and her social environment. This is because the experience already contains all the ethical answers. According to this, prenatal life shares in human dignity in all phases of its development.

Fussnoten:

1) https://www.tagesschau.de/inland/abtreibungsverbot-schwangerschaftsabbrueche-paus-101.html
2) Evangelische Kirche in Deutschland, Stellungnahme zur Regelung zum Schwangerschaftsabbruch, https://www.ekd.de/stellungnahme-zur-regelung-zum-schwangerschaftsabbruch-80903.htm
3) Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2003, 12.
4) Nicholas Wolterstorff, Justice: Rights and Wrongs, Princeton 2008.
5) David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 2003, 4.
6) Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, Tugendlehre A37.
7) Wilfried Härle, Ethik, Berlin/New York 2011.
8) A. a. O., 102–133. Eilert Herms, Ethik V. als theologische Disziplin, RGG4 Bd. 2, 1611–1623.
9) Vgl. zum Folgenden Johannes Fischer, Die Struktur der Lebenswelt, https://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2023/09/Strukturen-der-Lebenswelt.pdf.
10) A. a. O., 16.
11) Vgl. hierzu die Überlegungen zuruniversality of human rights in: Johannes Fischer, Human Dignity and Human Rights, in: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Eds.), Religion and Human Rights: Global Challenges from Intercultural Perspectives, Berlin/München/Boston 2015, 71–86.
12) Fischer, Struktur der Lebenswelt (s. Anm. 9), 3–5.
13) A. a. O., 5–9.
14) A. a. O., 9–13.
15) Fischer, Human (s. Anm. 11).
16) Johannes Fischer, Über Gerechtigkeit, http://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2013/10/Gerechtigkeit-als-Gestaltungsaufgabe.pdf
17) Fischer, Struktur der Lebenswelt (s. Anm. 9), 5–9.
18) Johannes Fischer, Zur Relativierung der Menschenwürde in der juristischen Debatte, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 54 (2010), 3–8.
19) Reiner Anselm/Petra Bahr/Peter Dabrock/Stephan Schaede, Dem tatsächlichen Schutz des Lebens dienen. Theologische Überlegungen zur Diskussion um den rechtlichen Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch, https://zeitzeichen.net/node/10791.
20) Johannes Fischer, Debatte innerhalb der EKD zu § 218: Zur Position von Reiner Anselm, Petra Bahr, Peter Dabrock und Stephan Schaede, https://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/2023/12/EKD-Debatte-zum-Paragraphen-218.pdf.
21) Vgl. hierzu Johannes Fischer, Ging Jesus über den See Genezareth?, Evangelische Theologie 83 (2023), 431–443.
22) Johannes Fischer, Warum niemand sein Geschlecht selbst bestimmen kann. Zum Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag, https://profjohannesfischer.de/wp-content/uploads/ 2023/10/Selbstbestimmungsgesetz-2-14.10.23.pdf.