Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2024

Spalte:

127-140

Kategorie:

Aufsätze
Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Marian Burchardt/Monika Wohlrab-Sahr

Titel/Untertitel:

Postsäkularität oder multiple Säkularitäten?
Was steckt hinter den neuen Deutungen der religiösen Lage?

I Einleitung:



»Post« oder »Multiplizität«? Konkurrierende Zugänge zur Gegenwart des Religiösen



Wir befassen uns in diesem Artikel mit zwei Typen neuerer religionsbezogener Analysen, die beide ihren Zugang den Debatten um die Moderne entlehnen: mit den am Begriff der Postmoderne orientierten Analysen des Postsäkularen einerseits und mit dem an den »Multiple Modernities« orientierten Ansatz der »Multiple Secularities« andererseits. Während in der ersten Gruppe von Arbeiten die Begriffe (und zugrundeliegenden Phänomene) des Säkularen, des Säkularismus oder der Säkularisierung in verschiedener Hinsicht problematisiert werden, operiert die zweite Gruppe mit einer Vervielfältigung des Phänomens der Säkularität. Es werden verschiedene Bezugsprobleme und darauf bezogene Antworten herausgearbeitet, gleichzeitig wird aber an einem Zentralbegriff festgehalten. Der erste Ansatz ist, wie wir im Folgenden zeigen wollen, in seiner Problematisierung des Säkularen und seiner Begrifflichkeit deutlich zeitdiagnostisch ausgerichtet, während der zweite Ansatz versucht, das zugrundeliegende Phänomen in seiner gegenwärtigen Vielfalt und historischen Genese zu erfassen, darüber aber gleichzeitig eine generalisierbare Perspektive auf Säkularität zu bewahren. Die Reflexion dieser sozial- und geisteswissenschaftlichen Debatten erscheint uns auch in einem theologischen Kontext nicht zuletzt deshalb von Relevanz, weil insbesondere die Deutung des »Postsäkularen« dort eine gewisse Popularität erlangt hat. Scheint doch die Terminologie des Postsäkularen dem Gegenstand theologischen Nachdenkens neue Legitimität zuzumessen, während sie die Inadäquatheit und Illegitimität von Diagnosen des »Säkularen« und der »Säkularisierung« suggeriert.

II Diagnosen des »Post-Säkularen«



Analysen, die ihrem wesentlichen Konzept ein »post« voranstellen, haben immer den Charakter von Zeitdiagnosen. Sie markieren einen scharfen Bruch, unterscheiden zwischen einem »Vorher«, das im Schwinden begriffen ist, und einer Gegenwart, in der sich etwas Neues herausbildet. Dabei geht es in der Regel nicht um langfristige Prozesse und auch nicht um graduelle Veränderungen: Vielmehr wird die beobachtete Veränderung zu einem epochalen Umbruch zugespitzt, bei dem nichts mehr an seinem Platz bleibt. Mit dem »post«, so zumindest die Suggestion, geht eine Epoche zu Ende, und damit auch die Legitimität von deren bislang als gültig angesehenen wissenschaftlichen Beschreibungen.

In der Regel tragen solche Diagnosen einen normativen Unterton und erlauben es ihren Rezipienten, unter dieses »post« vielfältige Formen des Unbehagens zu subsumieren. Dabei kann das Alte im Rückblick nostalgisch verklärt, es kann aber auch als etwas Problematisches charakterisiert werden, das mit der Markierung »post« unwiderruflich für obsolet erklärt wird: Postwachstum, postmodern, postkolonial, postsäkular sind solche Begriffe, die das Alte verabschieden. Und selbst dort, wo die Autoren, die diese Begriffe verwenden, einen solch scharfen Bruch gar nicht behaupten wollen, haben sie in der Regel Probleme, dies mit der Suggestion des »post« in Einklang zu bringen.

Wie andere »post«-Diagnosen ist auch die Rede vom »Postsäkularen« im Kern zeitdiagnostisch und basiert in der Regel nicht auf empirischen Daten, von denen der angenommene Umbruch abzuleiten wäre.1 Vielmehr stellt sie eine Terminologie bereit, mit der sich eine Vielfalt empirischer Beobachtungen auf den Begriff bringen lässt, und bietet einen Interpretationsrahmen, innerhalb dessen diese Terminologie Sinn zu ergeben scheinen.

Der Begriff »postsäkular« steht für einen Bruch, der die frühere säkularisierte (oder als säkularisiert dargestellte) Situation von der gegenwärtigen unterscheidet, die nun als postsäkular kategorisiert wird. Der enger gefasste Begriff des »Post-Säkularismus« verweist in der Regel auf das Konzept einer »postsäkularen« Ethik2, die – so die Bewertung – besser als die säkulare in der Lage sei, ein tolerantes Umfeld in einem zunehmend pluralisierten Kontext zu schaffen.

Der Begriff »postsäkular« ist etwa seit dem Jahr 2000 populär geworden, als es darum ging, die dauerhafte (oder erneute) Präsenz von Religion anzusprechen und ein Unbehagen gegenüber Theorien der Säkularisierung auszudrücken. Eine wichtige Rolle spielte dabei Jürgen Habermas’ Vortrag anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels3, in dem er von der »postsäkularen Gesellschaft« sprach. Er meinte damit ein neues Bewusstsein in westlichen Gesellschaften dafür, dass deren dominant säkulare Selbstwahrnehmung möglicherweise nicht für alle zutrifft: ein neues Bewusstsein für die Präsenz von Religion. Habermas verwies dabei auf das Beispiel der Religiosität von Migranten im Vergleich zur religiösen Indifferenz, die oft in der Mehrheitsbevölkerung vorherrsche, sprach aber auch vor dem Hintergrund der islamistischen Anschläge des 11. September 2001, die die Religion gewaltsam wieder auf den Tisch gebracht hatten. Im Einklang mit seinen früheren Arbeiten zur Kommunikation in der öffentlichen Sphäre ließ er dies einmünden in ein Plädoyer dafür, religiöse Stimmen und Argumente im öffentlichen Raum in ihrer Eigenart anzuerkennen. Es ging ihm also nicht darum, das Ende von Säkularisierung oder Säkularität zu behaupten, sondern um den Verweis auf die Simultaneität religiöser und säkularer Perspektiven in ansonsten weitgehend säkularisierten Gesellschaften und Staaten. Man kann allerdings fragen, ob der Begriff »postsäkular«, der ein solches Ende des Säkularen gleichwohl signalisiert, dabei klug gewählt war.

Es gibt einen Strang in der neueren Forschung, der mit dieser Annahme der – nicht selten konflikthaften – Simultaneität religiöser und säkularer Perspektiven übereinstimmt. Hier geht der Begriff des Postsäkularen, der sich mit der zunehmenden Aufmerksamkeit für die öffentliche Rolle der Religion befasst, Hand in Hand mit der Annahme von Säkularisierung als abnehmende Bedeutung von Religion für viele europäische Mehrheitsbevölkerungen sowie einer institutionellen Ausdifferenzierung der Religion. Diese Perspektive lässt sich leicht mit breiten Strängen soziologischer Forschung vereinbaren. Typische Beispiele sind Konflikte um öffentliche Begegnungen, Ästhetik und urbane Räume.4 In diesen Kontexten deutet der Begriff »postsäkular« auf Veränderungen und Spannungen hin, aber nicht unbedingt auf eine grundlegende Krise des Säkularen.

Eine zweite Perspektive wurde aus theologischer Sicht von Ingolf U. Dalferth (2010) ins Spiel gebracht.5 Nach einer kritischen Analyse der unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Begriffs »postsäkular« plädierte er in einer originellen Wendung dafür, diesen Begriff für Gesellschaften und Staaten zu verwenden, für die die Unterscheidung religiös – säkular ihre Relevanz eingebüßt hat. Die »postsäkulare« Gesellschaft in dem von ihm gemeinten Sinne wäre dann gleichzeitig eine postreligiöse Gesellschaft. Es ist evident, dass Dalferth hier nicht von Konstellationen spricht, für die die Säkularisierungstheorie inadäquat wäre. Ganz im Gegenteil: Es sind Konstellationen so durchgreifender Säkularisierung, dass das bloße Aufrufen der religiös-säkularen Unterscheidung keinen Resonanzboden mehr findet. Man kann diesen Ansatz als das Irrelevantwerden der religiös-säkularen Differenz bezeichnen.

So wichtig es für die Theologie ist, sich einen solchen Kontext für ihre eigene Orientierung vor Augen zu führen, muss man doch nach der Reichweite dieser These fragen. Global betrachtet, dürfte die von Dalferth ins Auge gefasste Konstellation noch seltener anzutreffen sein als das, was die klassische Säkularisierungsthese lange Zeit an nachholender Entwicklung in der nicht-westlichen Welt prognostiziert hat. Zudem würde die These vor allem auf solche Populationen in weitgehend säkularisierten westeuropäischen Mehrheitsgesellschaften zutreffen, die offenbar gerade nicht im Habermas’schen Sinne irritiert sind von der Präsenz der Religiosität von Migranten. Denn der Kontakt mit den Ausdrucksformen muslimischer Religiosität hat selbst in einem religiös so indifferenten Gebiet wie dem Osten Deutschlands Debatten um die Präsenz von Religion auf die Tagesordnung gebracht, die eine postreligiös-postsäkulare Situation jedenfalls an dieser Front fraglich erscheinen lassen. Zumindest aber existiert hier beides nebeneinander: das Irrelevant-Werden der religiös-säkularen Unterscheidung im eigenen Alltag und die Erregung über die öffentlich sichtbare Präsenz insbesondere muslimischer Minderheiten, angesichts derer die religiös-säkulare Differenz wieder aufgerufen wird.

Seit der Vorlesung von Habermas ist die Rede vom »Postsäkularen« jedoch förmlich explodiert und hat sich mit der anhaltenden Kritik am Säkularismus und an der Säkularisierungstheorie sowie – auf der konzeptionellen Ebene – mit der grundlegenden Kritik an der Dualität religiös-säkular verbunden. Diese Kritik ging Koalitionen ein mit Diagnosen der Postmoderne, des Postkolonialismus und mit religionskritischen und säkularitätskritischen Ansätzen vor allem in der Religionswissenschaft. Sie hat eine andere theoretische Perspektive hervorgebracht, die sich deutlich von den beiden bisher genannten Ansätzen unterscheidet. Wir bezeichnen diesen dritten Ansatz als These vom Ende der säkularen Hegemonie. Wir werden uns damit nun ausführlicher befassen, weil dieser Ansatz unseres Erachtens die weitreichendsten theoretischen und politischen Implikationen hat.

Auch wenn die Arbeiten, auf die wir hier eingehen, keine einheitliche Theorie begründen, weisen sie doch gemeinsame Grundzüge auf und betonen eine grundlegende Differenz, die in der Vorsilbe »post« zum Ausdruck kommt. Die Vertreter dieses Theoriestrangs kommen hauptsächlich aus der Philosophie, der Theologie, der Anthropologie, den Kulturwissenschaften und auch den internationalen Beziehungen. Für sie ist der Begriff »Postsäkularismus« zu einer Metonymie der Kritik geworden. Wie der genealogische Ansatz von Talal Asad6, auf den sich viele Positionen beziehen, stellen die entsprechenden Studien religiöse Minderheiten, insbesondere den Islam, häufig als Opfer der säkularen Hegemonie in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Dass der Begriff »postsäkular« hier eine explizit normative Fundierung hat, wird auch daran deutlich, dass sich mit ihm immer wieder öffentliche Bekenntnisse verbinden: Dem Bekenntnis »Why I Am Not a Secularist«7 steht das »Why I Am Not a Postsecularist«8 gegenüber.

Die Normativität dieser Perspektive liegt darin begründet, dass ihr zufolge der Säkularismus viele Übel und Krankheiten der westlichen Moderne vereint. Entsprechend wird das Ende von dessen Hegemonie proklamiert oder gefordert. Die Palette dieser Kritik ist breit und divers und umfasst allgemeine Rationalitätskritik, aber – besonders prominent – auch die Kritik an kolonialer und nationalstaatlicher Macht und Herrschaft, die als mit Säkularität und Säkularismus verbunden angesehen wird. Dabei wird dann auch die Differenz zwischen verschiedenen Regionen betont, und die Verwendung von im Westen entwickelten Konzepten wird angesichts dieser Differenz als Reproduktion kolonialer Herrschaft angesehen. Die Dualität religiös – säkular, so die Annahme, verdoppelt auf der epistemischen Ebene die koloniale Gewalt, indem sie alles der unterscheidenden Logik einer westlichen Perspektive auf Religion unterwirft. In den verschiedenen Beiträgen dieses Ansatzes lassen sich folgende Hauptstränge ausmachen:

1) eine kritische Sicht auf den Säkularismus, die Säkularisierungstheorie und die binäre säkular-religiöse Unterscheidung;

2) eine kritische Perspektive auf die westliche, säkulare Moderne, die als Gewalt gegen die nicht-westliche »Religion« (sowohl im Kontext kolonialer Herrschaft als auch im Umgang mit den Minderheitsreligionen in der Gegenwart), insbesondere gegenüber dem Islam betrachtet wird;

3) die Annahme einer tiefen Krise des Westens selbst;

4) eine grundlegend positive Bewertung von Religion, Transzendenz und Spiritualität im Allgemeinen und der Minderheitenreligionen im Besonderen, die als Hauptopfer der säkularen Moderne angesehen werden;

5) eine positive Bewertung der Notwendigkeit, die Religion anzuerkennen und ihr in der Öffentlichkeit mehr Raum zu geben;

6) das Plädoyer für ein neues, tolerantes, postsäkulares Ethos, das für eine pluralistische Gesellschaft besser geeignet sei als eine Ethik des Säkularismus.

Die positive Bewertung der Religion kann sich auf das Christentum beziehen, wie im Fall der von John Milbank (2006) vertretenen radikalen Orthodoxie,9 oder allgemeiner, auf Versuche, die Welt oder die öffentliche Sphäre neu zu »verzaubern«, wie William Barbieri10 es formuliert hat. Indem sie die Krise der westlichen Moderne mit dem »Niedergang der Transzendenz«11 in Verbindung bringen, assoziieren manche Autoren das Postsäkulare auch mit der politischen Theologie von Carl Schmitt. Benjamin Schewel hat hervorgehoben, dass die Geschichte des Begriffs »Postsäkularität« bis in die 1950er Jahre zurückreiche, und sieht Bezüge zu den Debatten um die »Crisis of Man« und um das Achsenzeitalter, die beide zu dieser Zeit aufkamen.12

Während sich viele Arbeiten auf die sich verändernde Situation in westlichen Ländern beziehen, geht die an Asad anschließende Kritik deutlich darüber hinaus. Besonders evident wird dieser Perspektivwechsel aber in einem Teil der Literatur aus dem Feld der »International Relations«. Aufschlussreich ist hier die Position von Mustapha Pasha (2012). Er erkennt einerseits an, dass die Position der Postsäkularität eine potenzielle Ressource für einen neuen kulturellen Code der Inklusion werden könne13, etwa wenn sie den Umgang mit dem Islam innerhalb einer breiteren Kultur der Diskriminierung verorte. Diese Inklusivität bleibe jedoch insofern begrenzt, als Konzepte des Post-Säkularen – so Pasha – bereits von einer säkularen Perspektive ausgingen. Selbst wenn man daher ein Ethos der Säkularität zugunsten eines großzügigeren Verständnisses der Moderne verabschiede, in der das Religiöse und das Säkulare verbunden würden, bleibe das Postsäkulare gleichwohl vor allem ein europäisches Problem. Denn die »religiös-säkulare« Kluft im Islam spiegle gerade nicht dessen monotheistische Pendants, da im Islam sowohl din (Religion) als auch dunya (Welt) unter die Zuständigkeit des Glaubens fielen. Im Islam könne daher das Säkulare nicht existieren, gleichwohl erlaube die Souveränität des Heiligen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von menschlichen Angelegenheiten einerseits und dem Göttlichen andererseits.15

Diese hier vorgetragene Position formuliert aus einer religiösen Perspektive, wie sie aus dem politischen Islam bekannt ist, eine grundlegende Kritik an der religiös-säkularen Unterscheidung. Interessant ist dabei, dass hier unter Bezugnahme auf ein historisch-theologisches Argument, dass nämlich din und dunya unter die Zuständigkeit des Glaubens fallen, die Legitimität eines säkularen Gesellschafts- und Staatsverständnisses auch in der Gegenwart grundlegend infragestellt wird. Dabei wird sowohl ignoriert, dass etwa auch im frühen Christentum die beiden Schwerter Schwerter Gottes waren, und auch in anderen religiösen Traditionen, die Unterscheidungen von Herrschaftsbereichen von früh an kennen, diese zunächst unter einem religiösen Dach wieder vereint werden. Weder das Christentum noch der Buddhismus hatten in der Vormoderne ein Verständnis von Säkularität im modernen Sinne. Gleichwohl bildeten sie ein Verständnis der Differenzierung von Sphären aus und entwickelten Argumente für deren Legitimität. Das ist im Islam nicht anders. Wenn Pasha sich hier also in seiner Diskussion des Postsäkularen gegen das Konzept der Säkularität in der Gegenwart wendet – denn das ist die eigentliche Stoßrichtung des Arguments – behauptet er eine ungebrochene Geltung religiöser Denkfiguren in der Gegenwart und damit gleichzeitig die Illegitimität säkularer Staatlichkeit.

Es ist diese Stoßrichtung in der Debatte um das Postsäkulare, die dem Ganzen politische Brisanz verleiht: Denn die Terminologie des »post« legt es nahe, das »Säkulare« auch als Perspektive auf das Verhältnis von Staat und Religion ad acta zu legen. Pasha jedenfalls ist die inklusiv gemeinte Thematisierung der Diskriminierung islamischer Minderheiten nicht genug. Ihm geht es um die Verabschiedung säkularer Staatlichkeit als dominantes Modell. Man kann seinem Einwand angesichts der Entwicklungen und Auseinandersetzungen in Staaten wie Indien, Indonesien, Israel, dem Iran und Russland und angesichts des politischen Desasters in Afghanistan einen gewissen Realismus sicher nicht absprechen. Man wird aber nicht umhinkommen, seine Argumentation auch als eine Stellungnahme zu den Kämpfen derer zu verstehen, die sich in all diesen Kontexten für einen säkularen Staat einsetzen. Und das heißt zum Beispiel: für einen Staat, in dem es eine Zivilehe gibt, in denen Menschen unterschiedlichen Glaubens problemlos heiraten können, in denen religiöse Minderheiten und Religionslose ihren Überzeugungen nachgehen und sie zum Ausdruck bringen können und nicht Gefahr laufen, wegen Blasphemie angeklagt zu werden, und in denen die Regeln für die körperliche Erscheinung und das Verhalten in der Öffentlichkeit nicht aus vermeintlich religiösen Grundsätzen abgeleitet werden.

Pashas Plädoyer für eine »Provinzialisierung« der Postsäkularität als europäisches Problem ist daher weit mehr als der anderswo zu findende Aufruf zu einem neuen postsäkularen Ethos: Es ist die Forderung der gleichberechtigten Anerkennung der verschiedenen Rollen, die Religion in der Politik weltweit spielen kann, ohne dabei dem säkularen Staat den Vorrang zu geben. Es sei diese Bevorzugung der »westfälischen Regelung«, die der politische Islam ablehne. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die internationale Gemeinschaft niemals völlig säkular sei, weil sie die Hegemonie der protestantischen westfälischen Lösung widerspiegle. Genesis und Geltung der Trennung von Staat und Religion werden hier unter dem Vorzeichen »protestantisch« in eins gesetzt. Der politische Islam und seine vielfältigen Erscheinungsformen seien, so Pasha, nicht antimodern, sondern eine Ablehnung dieser protestantischen Regelung.16

Vor dem Hintergrund einer solchen Position werden, wie Aamir Mufti es in einer leidenschaftlichen Stellungnahme kritisch formuliert hat, dann auch islamistische Praktiken explizit oder implizit als Ausdruck eines religiösen Bewusstseins verstanden, das sich gegen das Vordringen des Säkularismus richtet, der seinerseits lediglich als ideologischer Impuls der laufenden Projekte des westlichen Imperialismus betrachtet wird.17 Säkulare Staatlichkeit wird hier letztlich als religiöses Projekt angesehen und als solches abgelehnt. Damit werden gleichzeitig all diejenigen Vorstöße desavouiert, die sich aus dezidiert religiöser (islamischer, jüdischer etc.) Perspektive für einen säkularen Staat stark machen.18

Wir haben den Eindruck, dass ein Großteil dieser Debatten auf einem normativen Paradoxon beruht: Sie werden durch säkulare Gesellschaften, Verfassungen und Öffentlichkeiten überhaupt erst ermöglicht, deren Legitimität sie jedoch gleichzeitig grundlegend in Frage stellen.

Eine interessante Variante der Verwendung des Begriffs »Postsäkularität« findet sich in neueren Studien über Israel.19 Unter Bezugnahme auf Connolly greift etwa Ben-Porat (2000) auf die Idee einer postsäkularen Ethik zurück, wenn er die Vorstellung einer säkular-religiösen Kluft als unzureichend kritisiert, um die Situation in Israel zu erfassen. Dies gelte insbesondere für das Verhältnis zum »Heiligen Land« und zum Judentum als Fundierung der Staatlichkeit, insofern in der Berufung auf beides sowohl säkulare als auch religiöse Politik auf religiöse Grundlagen rekurrierten. Die Vorstellung einer Spaltung zwischen Säkularen und Religiösen sei nicht in der Lage, diese faktische Präsenz des Religiösen auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu erfassen. Stattdessen argumentiert der Verfasser, dass die Religion eine unverzichtbare Rolle bei der Konsolidierung und Abgrenzung der territorialen Grenzen und der Legitimierung der ausgrenzenden Praktiken des Nationalstaates gegenüber Nichtjuden auch innerhalb des vorgeblich säkularen nationalen Systems spiele.20

Ben-Porat hält daher die religiös-säkulare Dichotomie nicht nur für unzureichend, sondern argumentiert, dass die dabei betonten Differenzen die starken Affinitäten zwischen dem reli- giösen und dem säkularen nationalen Diskurs verschleiern21, wenn etwa die Definition des Staates als jüdisch, die Nicht-Juden daran hindere, vollwertige Bürger zu werden, selbst von Bürgern bejaht werde, die sich selbst als säkular betrachten.

Ben-Porat schließt sich Connollys Plädoyer für eine postsäkulare Ethik an, die er in der israelischen Situation für angemessen hält. Dennoch unterstreicht er – im Unterschied zu Pasha – gerade die Notwendigkeit einer Trennung von »Kirche und Staat«, weil nur eine solche Trennung eine gleichberechtigte Stimme für Nicht-Juden und eine Pluralität jüdischer Praktiken ermöglichen könnte.22 Pluralismus, so argumentiert Ben-Porat, erfordere daher zunächst eine Trennung von Religion und Staat, müsse aber dann seine Großzügigkeit über die Grenzen und Beschränkungen des Nationalstaates hinaus ausdehnen und sich neuen Möglichkeiten öffnen.23

Während also Ben-Porat den Säkularismus im Sinne einer klaren Trennung von Staat und Religion auf der strukturellen Ebene, die in Israel gerade nicht verwirklicht ist, als Voraussetzung für eine postsäkulare Ethik ansieht, würde Pasha diese Voraussetzung für die islamische Welt in Frage stellen, da er sie als Erbe einer christlichen Kultur begreift. Dieses christliche institutionelle Erbe soll in einem Fall also gerade abgestreift werden, während es im anderen Fall zur Voraussetzung einer Ethik postsäkularer Toleranz wird.

Ben-Porats Verwendung des Begriffs unterscheidet sich insofern von den anderen Arbeiten zur Postsäkularität, als er seine Kritik mit einer klaren Anerkennung säkularer Staatlichkeit verbindet. Gerade angesichts der Versuche der gegenwärtigen israelischen Regierung, staatliche Institutionen zunehmend auf religiöse Grundlagen zu stellen, ist dieses vor mehr als 20 Jahren vorgebrachte Argument umso relevanter. Aber worauf genau bezieht sich seine damals vorgebrachte Kritik? Ben-Porat wendet sich im Grunde, so scheint uns, gegen eine vereinfachte Sortierung gesellschaftlicher Gruppen nach dem Muster religiös – säkular und verweist für Israel auf die religiöse Fundierung des sozialistischen Zionismus in Bezug auf Land und Judentum. So wichtig dieser Hinweis ist und so relevant für Israel zweifellos der Vorschlag ist, diese religiöse Fundierung und ihre Implikationen in Rechnung zu stellen, so wenig zwingend erscheint uns dafür jedoch das Attribut »post-säkular«. Wäre es nicht adäquater zu sagen, dass Israel in vieler Hinsicht eben kein säkularer Staat und keine säkulare Gesellschaft ist und dass dem politisch und gesellschaftlich Rechnung zu tragen ist, wobei gleichzeitig anzuerkennen ist, dass Säkularität auf der Ebene des Staates, d. h. strukturell, eine Voraussetzung für Inklusion und Toleranz gegenüber Nicht-Juden und jüdischen Minderheiten darstellt und natürlich auf vielen Ebenen um Fragen der Grenzziehung gestritten wird? Die Debatten um postsäkulare Ethik tendieren u. E. dazu, diese strukturelle Ebene zu vernachlässigen, die doch eine Voraussetzung der Debatten um Toleranz darstellt.

III Multiple Secularities: Vielfalt und Universalismus



Seit etwa 2010 hat sich ein alternativer Ansatz entwickelt, bei dessen Ausarbeitung die Autoren dieses Aufsatzes eine wesentliche Rolle gespielt haben, und der in der Zwischenzeit ein Zentrum in der Kollegforschungsgruppe Multiple Secularities: Beyond the West, Beyond Modernities24 an der Universität Leipzig gefunden hat. Auch dieser Ansatz geht von einer Kritik an den Annahmen der klassischen Säkularisierungsthese aus, insbesondere an ihren trotz vielfacher Relativierung grundlegend nicht ad acta gelegten teleologischen Projektionen sowie an dem allgemeinen Argument, dass säkulare Entwicklungen ein einzigartiges Merkmal der westlichen Moderne seien. Im Gegensatz zu den anderen hier vorgestellten Ansätzen geht es dem der Multiple Secularities jedoch weder um eine allgemeine Säkularismus- oder Säkularisierungskritik, noch um den vereinheitlichenden Begriff des Säkularismus, den wir in dieser Kritik häufig finden.

Der Ansatz der Multiple Secularities, der sich erkennbar an Eisenstadts Theorie der »Multiple Modernities« anlehnt25, nimmt seinen Ausgangspunkt nicht bei den Begriffen »Säkularisierung« oder »Säkularismus«. Stattdessen stellt er den Begriff der Säkularität in den Mittelpunkt, um die unterschiedlichen Formen der symbolischen Unterscheidung (distinction) und der institutionellen Differenzierung (differentiation) im Zusammenhang mit Religion in den Blick zu nehmen. Er fragt nach den gegenwärtigen Variationen dieser Unterscheidung und ihrer kulturellen Fundierung sowie nach deren Geschichte, und er fragt darüber hinaus nach Alternativen und Vorläufern der säkular-religiösen Differenzierung, bei denen die Sprache des Säkularen nicht im Mittelpunkt steht oder gänzlich fehlt.

Damit verbindet sich das Bemühen, die mit der Auseinandersetzung um das Säkulare verbundenen normativen Kämpfe zunächst einzuklammern, bzw. sie als Gegenstand der Forschung zu betrachten, anstatt sie zu deren normativen Ausgangspunkt zu machen. Die Autoren der »Multiple Secularities« beleuchten einen bestimmten Aspekt der Säkularisierungstheorie – die Differenzierung zwischen religiösen und nicht-religiösen Sphären, Symbolisierungen und Praktiken – und argumentieren für die relative Nützlichkeit der Theorie der Differenzierung: nicht im Hinblick auf die Privilegierung linearer historischer Entwicklungen, sondern als analytisches Instrument für das Verständnis unterschiedlicher historischer, gesellschaftlicher und politischer Konstellationen. Diese Fokussierung auf Unterscheidungen bzw. Differenzierungen setzt dabei weder eine saubere und klare Trennung zwischen Religion und Staat, Recht, Wirtschaft und anderen Sphären und Praktiken voraus, noch unterstellt sie die Abwesenheit von Beziehungen und Verflechtungen zwischen diesen oder die Abwesenheit von Formen der Sakralisierung in nicht-religiösen Kontexten. Erst recht behauptet der Ansatz nicht, dass es eine solche klare Unterschiedenheit auf der Ebene der Subjekte gäbe.

Im Gegenteil, wir betonen, dass es immer wieder Kämpfe und Auseinandersetzungen um sich herausbildende oder bestehende Unterscheidungen und Verhältnisbestimmungen zwischen Religion und anderen Institutionen gibt, in denen diese bekräftigt oder in Frage gestellt werden, und die von sich in diesen Situationen als säkular oder religiös positionierenden Akteuren vorangetrieben werden.26 Das Interesse des Multiple Secularities-Ansatzes liegt daher in Prozessen der Unterscheidung, der Ziehung und Umbildung von Grenzen sowie deren Anfechtungen und Relativierungen. Dies schließt freilich nicht aus, dass es die von Ben-Porat anhand der Zionisten herausgestellten Uneindeutigkeiten bei Akteuren geben kann, die sich einerseits für einen säkularen Staat einsetzen, diesen aber gleichzeitig über die Kategorisierung als jüdisch und die Bezugnahme auf das »heilige Land« religiös fundieren.

Säkularität in diesem Sinne bezieht sich nicht auf eine Seite der Medaille (»das Säkulare« versus »das Religiöse«), sondern auf Prozesse, Formen und Institutionalisierungen der Unterscheidung und Differenzierung im Verhältnis zur Religion als solcher. Ihr Gegenteil wäre dann nicht »die Religion«, sondern die Annahme einer ungeteilten und unauflösbaren Totalität. Wenn unter bestimmten Umständen, aber keineswegs immer, die nicht-religiöse Seite der Medaille solcher Unterscheidungen als »das Säkulare«27 interpretiert und bezeichnet wird, sei es von religiösen oder nicht-religiösen Akteuren, so wird diese Interpretation häufig zur Abgrenzung von Zonen der Nichteinmischung sowie zur Markierung von Differenzen genutzt. Diese Akte der Abgrenzung sowie die Verwischung von Grenzen als deren Gegenstück sind von besonderem Interesse für den Multiple Secularities-Ansatz. Daher stehen viele Konflikte, wie sie auch im Simultaneitäts-Ansatz der Postsäkularität behandelt werden, in den Analysen der Multiple Secularities-Gruppe ebenfalls im Zentrum. Die Frage, die dabei maßgeblich wäre, wäre die nach der den Konflikten zugrundeliegenden kulturellen Sinnhaftigkeit, also die Frage, welches Problem im Kampf um die Grenzen des Religiösen verhandelt wird.

Das Interesse an Formen der Unterscheidung und Differenzierung von Religion zielt auch darauf ab, die Annahme einer privilegierten Stellung Europas in Debatten über Säkularität zu relativieren, indem wir globale Vergleiche und Verflechtungen aufzeigen und nach Unterscheidungen und Differenzierungen nicht nur in modernen, sondern auch in vormodernen Perioden suchen.28 Relativierung heißt nicht Gleichmacherei. In Bezug auf Europa impliziert dies etwa die Annahme, dass Europa nicht der einzige Träger solcher Formen der Unterscheidung und Differenzierung ist, auch wenn seine Geschichte zweifellos einen spezifischen Verlauf genommen hat, der auch die Terminologie des Säkularen hervorgebracht hat. In der historischen und historisch-soziologischen Forschung wird häufig die besondere Rolle der katholischen Kirche in Europa als eine frühe autonome und starke Institution hervorgehoben29, die den Staat und das Rechtssystem dazu veranlasste, ihre Autonomie in Opposition zu ihr zu etablieren. Dies wurde als Argument für die Ausnahmestellung der westlichen Entwicklung hin zur Säkularisierung herangezogen. Dafür gibt es durchaus Belege. Eine Folge dieser Annahme war jedoch, ähnlich wie bei Asads genealogischem Ansatz, dass der Rest der Welt keinen Anteil mehr an der Geschichte solcher Unterscheidungen und Differenzierungen hatte.

Im Gegensatz zu solchen Bestrebungen geht der Ansatz der Multiple Secularities davon aus, dass es nicht den einen Säkularismus gibt, sondern eine Vielzahl von Formen der Säkularität mit unterschiedlichen kulturellen Bedeutungen, die nicht zuletzt der Unterscheidung zwischen Politik und Religion zugrunde liegen. Der Begriff »Säkularität« wird hier in Abgrenzung zum Säkularismus verwendet, um die kulturellen Bedeutungen der Differenzierung zu erfassen, ohne sie unmittelbar mit politischen Ideologien der Trennung zu verbinden. Es wird davon ausgegangen, dass es bei den Kämpfen um Säkularität um unterschiedliche Geschichten, Werte und Interessen sowie um unterschiedliche soziale Grundprobleme geht. Diese Geschichten, Werte und Interessen kristallisieren sich oft in Leitideen (wie Freiheit, Fortschritt, Toleranz, institutionelle Autonomie oder nationale Einheit) und prägen die laufenden Kämpfe in besonderer Weise. Wir haben zwischen vier idealtypischen Bedeutungen unterschieden: Säkularität im Dienste der nationalen Integration, der individuellen Freiheit, des Umgangs mit religiöser Diversität und der Autonomie verschiedener gesellschaftlicher Bereiche.30

Das Projekt Multiple Secularities unternimmt zudem den Versuch, auch »anderswo« nach Unterscheidungen und Differenzierungen zu suchen, nach den Konzepten, mit denen in verschiedenen Weltregionen religiöse und andere Einflusssphären unterschieden werden, und nach den Institutionen, die Differenzierungen strukturieren und aufrechterhalten. Dabei versuchen die Autoren, »Säkularität« nicht nur zu vernakularisieren, also nach den indigenen Ausdrucksformen der Unterscheidung zu fragen, sondern auch zu historisieren, indem nach vormodernen – und das heißt in bestimmten Kontexten: vorkolonialen – Formen der begrifflichen Unterscheidung und institutionellen Differenzierung zwischen dem, was später »Religion« genannt wurde, und anderen Sphären sozialer Aktivität gesucht wird.

Diskutiert wurden etwa die Fälle des vormodernen japanischen Buddhismus und des mittelalterlichen Islams im Nahen Osten als Beispiele für solche Bemühungen. Christoph Kleine und Monika Wohlrab-Sahr31 haben anhand historischer Quellen im japanischen Buddhismus und im mittelalterlichen Islam argumentiert, dass es in beiden Fällen eine konzeptionelle Unterscheidung eines sozialen Feldes gab, das später zur Religion wurde, sowie eine semantische Binarität (ōbō/buppō; din/dunya), in der zwei Machtsphären (Herrscher/Buddha; Gott/Welt) einander gegenübergestellt und in Beziehung zueinander gesetzt wurden. Diese semantische Unterscheidung zwischen einer überweltlichen und einer weltlichen Nomosphäre, so die Autoren, förderte die Entwicklung eines eigenständigen Tätigkeitsbereichs, vor allem neben der politischen (und Teilen der juristischen) Sphäre, aber auch im Vergleich zu anderen Arten des Wissens. Und schließlich verweisen sie auf die Kollektive (buddhistische Klöster; islamische »Ulama«), die ein Interesse an der Sicherung ihrer institutionellen Autonomie gegenüber dem Staat hatten, was einen Prozess der institutionellen Differenzierung einer sozialen Sphäre beförderte, die später als »Religion« definiert wurde.

Islamwissenschaftler haben in jüngster Zeit begonnen, diese Forschungsrichtung zu verfolgen und damit die weit verbreitete Dichotomie »Islam versus Westen« in Frage zu stellen32, die – wie wir gezeigt haben – Befürworter auf ganz unterschiedlichen Seiten hat. In ihrer Studie über die mittelalterliche »Fürstenspiegel«-Literatur im persischen Islam wirft Neguin Yavari (2019) sogar die Frage auf, ob die Gegenüberstellung von Religion und Königtum, die zu verschiedenen Anlässen unterschiedlich eingesetzt wird, nicht als ein globales politisches Konzept betrachtet werden müsse, das in mehreren Kontexten funktioniert, von denen keiner originär ist.33

Im Rahmen des Projekts »Multiple Secularities« wird es als wichtig angesehen, gemeinsame Merkmale (sofern vorhanden) als Ausgangspunkt der vergleichenden Analyse in den Blick zu nehmen und dann zu fragen, was in den nachfolgenden historischen Perioden und infolge von Verflechtungen mit anderen Regionen, Religionen und politischen Einflüssen geschieht, anstatt von der essenziellen Annahme einer grundlegenden Differenz zwischen dem Islam und dem Westen, dem Osten und dem Westen usw. auszugehen. Solche Differenzvorstellungen bergen immer die Gefahr, Religiosität und Säkularität in dichotomischer Weise auf geografische Regionen zu projizieren. Dieser Perspektivwechsel hat Konsequenzen für die Betrachtung Europas, denn er stellt Europa notwendigerweise in den Kontext von und in den Vergleich mit anderen Regionen, indem er nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Verflechtungen fragt. Es ist dann nicht einfach das säkulare Europa im Gegensatz zur religiösen islamischen Welt, zur indischen Zivilisation usw., mit dem man es zu tun hat. Vielmehr handelt es sich um eine gemeinsame, verflochtene Geschichte, in der zumindest einige ähnliche Voraussetzungen bestehen, auf deren Grundlage manche Entwicklungen in eine ähnliche, andere in eine andere Richtung gehen.

Gleichzeitig muss aber auch diese Art der Betrachtung offen bleiben für Fälle, bei denen diese Annahme einer grundlegenden Gemeinsamkeit nicht zutrifft. Die Kontrastfälle, auf die man dabei stößt, sind aber andere als die, die mit der Unterscheidung Islam vs. Westen üblicherweise kolportiert werden. Ein interessanter Kontrastfall ist etwa das antike China, und zwar nicht, weil es so religiös, sondern weil es so dominant weltlich war.34 Hubert Seiwert hat aus diesem Grund für das vormoderne China die Relevanz der funktionalen Differenzierung religiöser und säkularer Sphären infrage gestellt, weil es dort nicht wie anderswo eine starke religiöse Institution gegeben habe, die ihre Autonomie nachdrücklich behauptete oder von der sich staatliche Institutionen abgrenzen mussten. Die Dominanz habe hier klar auf der Seite des Staates gelegen.

Zudem seien bereits im 5. Jh. v. Chr. alternative Sinnsysteme entstanden, die zur Religion in expliziter Konkurrenz standen: der exklusive Humanismus des Xunzi etwa, in dessen Schriften nicht nur die religiöse Option verworfen wurde, sondern sich gleichzeitig eine rationalistische Religionskritik artikulierte. Auf die verbreitete Wahrnehmung der gesellschaftlichen Umbrüche als Chaos und Zerfall erfolgte – so Seiwert – die Antwort der Zeit nicht in Form einer religiösen, sondern in Form einer säkularen Sinnorientierung, etwa im Konfuzianismus über moralische Selbstkultivierung.35

Das Muster der Herausbildung einer säkularen Ordnung folgte hier also einer anderen Logik als in Europa. Im achsenzeitlichen China wurden offenbar nicht weltliche Räume partiell freigegeben und damit gleichzeitig der Einfluss der Religion eingehegt, sondern es entstanden alternative Formen des Denkens und der Sinnorientierung, die schon früh den Stellenwert der Religion infrage stellen und in Konkurrenz zum religiösen Sinnsystem standen. Die im Fall Chinas realisierte Konsequenz war dann aber nicht ein Nebeneinander von Religion und Politik, sondern die Unterordnung des Religiösen unter das Politische.

Hier zeige sich daher – so Seiwert – ein anderes Muster der Religionsentwicklung als in Europa. Während sich dort eine institutionelle Differenzierung von Staat und Kirche als Voraussetzung der europäischen Säkularisierung entwickelte, gab es im China der Zhou-Zeit zwar Praktiken und Vorstellungen, die wir heute als religiös bezeichnen würden, aber »keine institutionalisierte Form von Religion«. Funktionale Differenzierung war hier also nicht die wesentliche Form der In-Kraft-Setzung von Säkularität. Vielmehr sei es zu einer Konkurrenz von Deutungssystemen oder Ideologien gekommen. In diesem Kontext entstand der exklusive Humanismus als eine unter der Elite verbreitete philosophische Orientierung, und zwar, so Seiwert, »als Reaktion auf den durch die Dynamik der Modernisierung ausgelösten Plausibilitätsverlust des traditionellen Weltverständnisses samt dessen religiöser Fundierung«.

Ein weiterer Kontrastfall – das kann hier nur kurz angedeutet werden – scheint der afrikanische Kontinent zu sein, in dem sich Unterscheidungen analog zur Differenzierung von Religiösem und Säkularem offenbar in der Tat erst mit dem Kolonialismus durchgesetzt haben, was nicht bedeutet, dass es dort keine Vorstellungen von Vordergründigem und Hintergründigem, Offenbarem und Geheimem geben hätte, die Formen der Immanenz-Transzendenz-Unterscheidung ähneln.

IV Schlussfolgerungen



Wir haben in dieser Darstellung zwei neuere Formen der Auseinandersetzung mit Konzepten und Theorien der Säkularisierung, des Säkularismus und der Säkularität behandelt. Ein Strang der Postsäkularitätsdebatte, den wir für den dominanten halten und der auf der These vom Ende der säkularen Hegemonie beruht, thematisiert vor allem Fragen der politischen Ethik und präferiert im Zuge dessen Postsäkularität als ein vermeintlich inklusiveres Konzept, bei dem vor allem eine Ethik der Inklusion in einer pluraler werdenden Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Beim Konzept der Multiple Secularities dagegen geht es um Inklusion in einem ganz anderen Sinne: Die Autoren dehnen ihr analytisch verstandenes Konzept der Säkularität im Sinne symbolischer und institutioneller religionsbezogener Unterscheidungen (distinctions and differentiations) in einer heuristischen Suchbewegung auf die nichtwestliche Welt aus. Damit setzen sie sich sowohl von der orthodoxen Säkularisierungstheorie als auch von einer Asadianisch geprägten postkolonialen Theorie ab, die – von unterschiedlichen Seiten kommend – die Vorreiterrolle bzw. die Dominanz bzw. Usurpation von Seiten des Westens und entsprechend die völlige Andersartigkeit der nichtwestlichen Welt betonen. Im Unterschied dazu fragt der Ansatz der Multiple Secularities nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Herausbildung religionsbezogener Unterscheidungen, nach deren jeweiliger Sinnaufladung und ihrem Problembezug, sowie nach den Akteuren, Kontexten und Anlässen ihrer Aushandlung, Durchsetzung und Infragestellung.

Für die Theologie ergeben sich daraus u. E. eine Reihe von Schlussfolgerungen, die wir abschließend noch einmal skizzieren wollen.

Dass die mit dem Begriff des Postsäkularen und der postsäkularen Ethik assoziierten Thesen für die Theologie große Attraktivität entwickelt haben, ist wenig verwunderlich, insinuiert doch der Begriff des Postsäkularen die gesellschaftliche, kulturelle und kritische Relevanz gerade jener Teile der Theologie, welche die fortgesetzten oder sich gar beschleunigenden Säkularisierungsprozesse in westlichen Gesellschaften als eigenen Relevanzverlust gedeutet und erlebt haben. Je stärker Säkularisierung und Religiosität in der soziologischen Diagnose in einer Art Nullsummenspiel gegeneinander aufgerechnet wurden, umso dringender wurde das Bedürfnis, die gesamte Säkularisierungsdiagnostik aus einer historischen Perspektive und einer kritisch-philosophischen Metabetrachtung heraus infrage zu stellen. Dabei werden aber die Implikationen eines solchen begrifflichen Umbaus oft nicht weiter reflektiert.

In unserer Darstellung wollten wir erstens deutlich machen, dass das Paradigma der Postsäkularität vor allem normativen Charakter trägt. Auch normative Diskurse – etwa in Theologie, Recht und politischer Theorie – beziehen sich aber routinemäßig auf realweltliche historische Prozesse und können von den empiri-schen Forschungsbefunden, mit denen solche Prozesse erfasst werden, nie völlig absehen. Aus diesem Grund plädieren wir dafür, auch den Begriff des Postsäkularen in einer Weise zu fassen, die diese Bezüge zu empirisch-soziologischen Arbeiten reflektiert. Dalferths (2010) oben referierter Vorschlag zu postsäkularen Gesellschaften als Gesellschaften »jenseits von Religion und Säkularität«, wäre als solch ein Ansatz zu nennen, der freilich empirisch zu untermauern wäre.

Zweitens sind auch die normativen Implikationen der Debatten zur Postsäkularität sehr komplex, und es erscheint auch im Sinne der fortgesetzten Relevanz kirchlicher und theologischer Stimmen im demokratischen Diskurs wichtig, die Widersprüchlichkeit dieser normativen Implikationen im Blick zu behalten. So können aus einer postsäkularen Perspektive unhinterfragte Hegemonien im Wissensregime der westlichen Moderne sichtbar gemacht und kritisiert werden, sie kann aber eben auch der Rechtfertigung von Autokratien und der Diskreditierung säkularer Staatlichkeit dienen, die oft erst die Voraussetzung für diese kritischen Einwände bietet.

Drittens scheint uns gerade der global aufgestellte Ansatz der Multiple Secularities wichtige Quellen und Impulse für die Selbstreflexion zur Positionierung der Kirchen in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld bereitzuhalten. Viele Kirchen sind globale Akteure oder zumindest Teile globaler Netzwerke. Sie operieren damit in gesellschaftlichen Umfeldern, die durch unterschiedliche zivilisatorische Prägungen und unterschiedliche Religionsgeschichten und Formen der Säkularität gekennzeichnet sind. Damit heben wir vor allem noch einmal hervor, dass die fortgesetzte Relevanz des Säkularisierungsparadigmas eben nicht in einem rein quantitativ und mechanisch verstandenen »mehr oder weniger« an Religion besteht. Es geht vielmehr um die Art und Weise, in der Gesellschaften säkular sind und Säkularität konzipieren, mit anderen Worten um den kulturellen Sinn von Säkularität, der von soziologischem Interesse ist und der eben auch für Kirchen in der globalen Gesellschaft einen zentralen Handlungskontext erzeugt.

Abstract



The article discusses recent interpretations of the present religious situation that partly contradict each other, and works out their backgrounds. Both the diverse interpretations of the »post-secular« and the approach of »multiple secularities« begin with a critique of the classical secularisation thesis. However, they arrive at different interpretations. The article elaborates the main positions and discusses their premises and the social diagnosis inhering in them.

Fussnoten:

1) Vgl. dazu James A. Brusheckford, SSSR Presidential Address – Public Religions and the Postsecular. Critical Reflections, in: Journal for the Scientific Study of Religion 51 (2012), 1–19, und Arie. L. Molendijk, In pursuit of the postsecular, in: International Journal of Philosophy and Theology 76 (2015), 100–115.
2) William E. Connolly, Why I Am Not a Secularist, Minneapolis 1999.
3) Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main 2001.
4) Helmuth Berking/Silke Steets/Jochen Schwenk (Eds.): Religious Pluralism and the City. Inquiries into Postsecular Urbanism, London 2018; Julia Martínez-Ariño: Urban secularism. Negotiating religious diversity in Europe, London 2020.
5) Ingolf U. Dalferth: Post-Secular Society: Christianity and the Dialectics of the Secular, in: Journal of the American Academy of Religion 78 (2010), 317–45.
6) Talal Asad, Formations of the Secular, Stanford 2003.
7) Connolly, Why I Am Not a Secularist (s. Anm. 2).
8) Aamir R. Mufti, Why I Am Not a Postsecularist, in: boundary 2, vol. 40 (2013), 7–19; Benjamin Schewel, Transformational Post-Secularism. An Overlooked Strand of Thought, in: Journal of the American Academy of Religion 87 (2019), 1085–1112
9) John Milbank: Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford/Malden 2006.
10) William A. Barbieri, Sechs Facetten der Postsäkularität. in: Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Postsäkularismus: Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2015.
11) Antonio Cerella, The Postsecular in International Relations, in: Review of International Studies 38 (2012), 975–994, 984.
12) Schewel, Transformational Post-Secularism (s. Anm. 8), 1085.
13) Mustapha Kamal Pasha, Islam and the Postsecular, in: Review of International Studies 38 (2012), 1041–1056, 1048.
14) A. a. O., 1056.
15) A. a. O., 1044.
16) A. a. O., 1056.
17) Mufti, Why I Am Not a Postsecularist (s. Anm. 8), 11.
18) So etwa für den Islam: Abdullahi Ahmed An-Na’im, Islam and the Secular State. Negotiating the future of Shariʿa, Cambridge/MA 2009; für das Judentum in Israel: Leibowitz, State and Religion, in: Tradition: A Journal of Orthodox Jewish Thought 12 (1972), 5–24.
19) Ben-Porat, A State of Holiness: Rethinking Israeli Secularism, in: Alternatives: Global, Local, Political 25 (2000), 223–245; vgl. Yaacov Yadgar/Noam Hadad, »A post-secular interpretation of religious nationalism. The case of Religious-Zionism, in: Journal of Political Ideologies 26 (2021).
20) Porat, A State of Holiness (s. Anm. 19), 223.
21) A. a. O., 224.
22) A. a. O., 242.
23) Ebd.
24) https://www.multiple-secularities.de/.
25) Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in Daedalus, 129 (2000), 1–29.
26) Marian Burchardt, Regulating Difference. Religious Diversity and Nationhood in the Secular West, New Brunswick 2020.
27) Christoph Kleine/Monika Wohlrab-Sahr, Comparative Secularities. Trac-ing Social and Epistemic Structures beyond the Modern West, in: Method and Theory for the Study of Religion 33 (2021), 43–72.
28) Marian Burchardt/Monika Wohlrab-Sahr/Matthias Middell [Eds.]: Multiple secularities beyond the West. Religion and modernity in the global age, Berlin 2015.
29) Harold J. Berman, Law and Revolution, I. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge 1985; Detlef Pollack, Religion und gesellschaftliche Differenzierung. Sozialhistorische Analysen zur Emergenz der europäischen Moderne, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 4 (2020). DOI: 10.1007/s41682-020-00052-y
30) Monika Wohlrab-Sahr/Marian Burchardt, Multiple secularities: Toward a cultural sociology of secular modernities, in: Comparative Sociology 11 (2012), 875–909.
31) Monika Wohlrab-Sahr/Christoph Kleine, Historicizing Secularity. A Proposal for Comparative Research from a Global Perspective, in: Comparative Sociology 20 (2021), 287–316.
32) Rushain Abbasi, Did Premodern Muslims Distinguish the Religious and Secular? TheDīn–Dunyā Binary in Medieval Islamic Thought, in: Journal of Islamic Studies 31 (2020), 185–225; Florian Zemmin, Validating Secularity in Islam. The Sociological Perspective of the Muslim Intellectual Rafiq al-‘Azm (1865–1925), in: Historical Social Research 44 (2019), 74–100.
33) Neguin Yavari: The Political Regard in Medieval Islamic Thought, in: Historical Social Research 44 (2019), 52–73.
34) S. dazu Hubert Seiwert, Säkularisierung und Säkularität im chinesischen Altertum, in: Max Deeg et al. [Hgg.]: Grenzen der Religion. Säkularität in der Asiatischen Religionsgeschichte, Göttingen 2023, und Monika Wohlrab-Sahr, »Differenzierungen, Deutungskonkurrenzen, alternative Sinnsysteme – Grenzen der Religion in der asiatischen Religionsgeschichte, in: Max Deeg et al. [Hgg.]: Grenzen der Religion. Säkularität in der Asiatischen Religionsgeschichte, Göttingen 2023.
35) Einschlägig für diese alternativen Sinnsysteme: Heiner Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Eine Rekonstruktion unter dem Aspekt des Durchbruchs zu postkonventionellem Denken, Frankfurt am Main 1992.