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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

113-115

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nicol, Martin

Titel/Untertitel:

Zwischen Kaffeehaus und Kanzel. Praktische Theologie im Wechselspiel mit den Künsten. Hg. v. Alexander Deeg.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 304 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374073689.

Rezensent:

Konrad Müller

Alexander Deeg hat anlässlich des 70. Geburtstags des Erlanger Praktischen Theologen Martin Nicol eine Sammlung unterschiedlichster Beiträge aus dessen reichem Œuvre herausgegeben. Publiziert zwischen 1997 und 2022, gewähren sie einen Einblick in die Grundlagen des theologischen Denkens von N. und zeigen die Weite der Themenfelder und Themenbereiche auf, denen N. eine intensive Aufmerksamkeit widmet.

N.s Praktische Theologie ist geprägt durch die Vorstellung einer »fundamentalen Polarität von Gotteszeit und Weltzeit« (53). Diese Polarität signalisiert allerdings für ihn »keinen Gegensatz, sondern ein Spannungsfeld«. Einen weltanschaulichen Dualismus lehnt N. demnach ab. Das Verhältnis von Gotteszeit und Weltzeit wird streng monistisch gedacht: »Was die Welt von uns braucht, ist Gotteswirklichkeit. Nicht als Gegensatz zur Weltwirklichkeit; das wäre sektenhaft. Sondern Gotteswirklichkeit mitten in der Wirklichkeit der Welt.« (52) Diese Gotteswirklichkeit ist nicht begrifflich definierbar oder fassbar. Sie ist und bleibt »Geheimnis«. Aber sie ist im Geheimnis erfahrbar. Der Ausblick, mit dem der Sammelband schließt, formuliert ganz auf dieser Linie liegend prägnant:

»Selig die Zweizeitigen […]. Als Christen leben wir zweiseitig […] in einem Dazwischen […] zwischen Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz, noch keineswegs im Himmel und nicht ganz von dieser Erde. Ich spreche von Weltzeit und Gotteszeit. […] aber von Dualismus keine Spur. Die Zeiten kommen, beide, aus Gottes Hand. Es handelt sich in Wirklichkeit um eine einzige Zeit, die wir Menschen als zwei Zeiten wahrnehmen. Nicht die Verabsolutierung einer Zeit, sondern ein Wechselspiel der Zeiten ist die Vorstellung, die mich leitet.« (270)

Vor diesem Hintergrund gibt N. der Ästhetischen Wende der Praktischen Theologie eine eigene, profilierte Gestalt. Konsequent wendet er sich dem »Ensemble der Kulturwissenschaften« (Deeg, 10) zu und sucht das Miteinander der Zeitmodi im Wechselschritt, im Hin und Her zwischen unterschiedlichen Sprach- und Vorstellungswelten. In insgesamt 16 Beiträgen, die unter den Überschriften Gottesdienst, Predigt, Literatur, Musik und Bibel gruppiert werden, vollzieht N. dabei selbst beispielhaft das Wechselgespräch und Wechselspiel zwischen Kunst und Kirche, Theologie und Kultur, Literatur, Biographie, Bibel und Musik. Im »Wechselschritt« – ein Schlüsselbegriff der Nicol’schen Hermeneutik –, der je spezifische Sprachwelten aufsucht und wieder verlässt, sie miteinander in Berührung bringt und sie einander parataktisch zuordnet, ohne sie ineinander aufzulösen, entstehen intertextuelle Verweisräume, in denen Gottes- und Weltzeit zueinander in Spannung gesetzt werden. Die von N. dabei erzeugte Multiperspektivität und Deutungsoffenheit veranschaulicht die praktisch-theologische Leistungskraft dieses Ansatzes. Er ist methodisch ertragreich, wenn es beispielsweise um die Frage des Predigtschlusses oder um Bachs Kreuzstabkantate als »Klangrede« geht, oder er Phänomene wie das Wiener »Kaffeehaus« als Ausdruck einer Lebensform mit überraschenden religiösen Bezügen aufschließt. Fragen wie diejenige nach einer neuen oder erneuerten biblischen Hermeneutik (37–50), nach dem deus absconditus (135–149) oder nach realen und potentiellen Deutungsperspektiven des Himmelfahrtfestes (201–214) beziehen Position, indem sie vertraute Diskurslinien aufbrechen.

Ein eigenständiges Profil besitzen die Beiträge zur nordamerikanischen Homiletik (77–91) und zu Luthers Turmerlebnis bzw. zum Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis beim Wittenberger Reformator (251–266). In ihnen verschmelzen historische Fragestellungen mit dem Stil, der Methodik und der Hermeneutik des Nicol’schen Schreibens und Denkens. An beiden Beiträgen läßt sich beispielhaft ablesen, wie N.s kulturwissenschaftlicher und ästhetischer Ansatz in historische Analyse und systematisch-theologische Bewertungen einfließt.

Innerhalb dieses bunten Kompendiums verschiedenster Themen liegt ein sachlicher Schwerpunkt auf dem Gottesdienst am Sonntagmorgen, der sich nach Agende vollzieht. Hier erweist sich N. als zugleich kirchlicher und – in einem nicht-exklusiven Sinn – der Tradition durchaus verbundener Theologe. »Ich oute mich als liturgoman. […] Ich oute mich als kirchlicher Theologe.« (61) Es klingt ein anderer Ton an, wenn N. in seinen fundamentalliturgischen Ausführungen dem Verhältnis von neuen Gottesdiensten und liturgischer Tradition (überschrieben mit dem mehrdeutigen Titel »Thema mit Variationen«, 61–73) nachsinnt und die Statik kirchlich-gottesdienstlichen Handelns in den Blick nimmt. Diese sieht er gefährdet; denn, formuliert er bildhaft unter Aufnahme der Unterscheidung von Spielbein und Standbein und unter Rückgriff auf die Gestalt der antiken Statue: »der Künstler, der nicht für des Standbeins stabilen Stand sorgt, schafft eine Figur mit chronischen Gleichgewichtsstörungen.« (63) Oder, an anderer Stelle:

»Ich gehe davon aus, dass Tradition wesentlich zur Liturgie gehört. […] In besonderer Weise gilt das für den Gottesdienst als die öffentliche Darstellung dessen, was in der Kirche geglaubt wird. Wo das gottesdienstliche ›Tradieren‹ kreativ und kundig vonstatten ginge, könnte auch noch die kleinste Gemeinde Identität aus dem Bewusstsein gewinnen, dass sie mit ihrem partikularen Gottesdienst unterwegs ist in der Gottesdienstkultur der universalen Kirche.« (65 f.)

N.s Anliegen, Gotteszeit und Weltzeit nicht auseinanderfallen zu lassen, sondern zusammenzudenken, entwickelt hier eine für manche vielleicht überraschende Pointe. Anhand der diskreten Macht der Doxologie (vgl. 66; dort auch die folgenden Zitate) führt N. aus, dass die Gemeinde, die Gott »als die nicht sichtbare Wirklichkeit in allen sichtbaren Realitäten der Welt« bekennt, in solchem Bekenntnis »nicht zur Sprache [bringt], was man ohnehin sieht«; vielmehr »übersteigt [solches Bekenntnis], was vor Augen ist«. Die entsprechenden traditionellen »doxologischen Formulierungen [sind] mehrheitlich der Bibel entnommen« und finden im biblischen Zeugnis ihre Begründung und Rechtfertigung. »Das ist Doxologie pur: Gott loben für das, was man nicht sieht.« N. verbindet mit dieser Beobachtung eine prinzipiell geltende Forderung für alles gottesdienstliche Geschehen:

»Die Liturgie dürfe nicht an der Realität vorbeigehen, ist […] zu hören. Das ist prinzipiell richtig. Aber genau deswegen gehört die Differenz von Bekenntnis und Realität zu den fundamentalen Gegebenheiten im Gottesdienst. Weil sich Gottes Wirklichkeit in der Welt nicht auf vorfindliche Realität reduzieren lässt, darum bedarf es der liturgisch kenntlichen Differenz von doxologischer Wirklichkeit und vorfindlicher Realität.«

N. hat in diesem Sinne die Forderung nach »Traditionsoffenheit« erhoben. »›Traditionsoffen‹ signalisiert: Wir brauchen die liturgische Tradition, um unsere Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu imaginieren.« (56) Tradition ist für N. nicht nur eine Frage der je eigenen Identität (vgl. 65). Sie besitzt auch ›utopisches Potential‹ (vgl. 56.247); in ihr gewinnen die »Worte, Bilder und Geschichten der Bibel, [der] ›Geheimzeichen‹ Gottes« (243) eine bleibend fremd-aktuelle Gestalt, »weil sie das Geheimnis Gottes zur Sprache bringen« (ebd.).

»Zwischen Kaffeehaus und Kanzel« zeichnet sich dadurch aus, dass N.s Konzept Praktischer Theologie auch an der Darstellung und an der Weise, wie die einzelnen Themen behandelt werden, abgelesen werden kann. Die einzelnen Artikel lassen sich immer hervorragend lesen und bieten allen – auch denjenigen, die N.s (Praktisch-)theologischen Ansatz nicht mittragen können oder wollen – eine Fülle von Anregungen.