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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

106-108

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Christliche Lebensform. Eine Geschichte christlicher Liturgie, Bildung und Spiritualität.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2022. VIII, 277 S. m. 6 Tab. = De Gruyter Studium. Kart. EUR 29,95. ISBN 9783110754926.

Rezensent:

Benedikt Kranemann

Die christlichen Kirchen in Deutschland stehen vor weitreichenden Herausforderungen: Sie überzeugen als Institutionen nicht mehr. Ihre Glaubenslehren werden von vielen Menschen nicht mehr geteilt. Ihre Rituale sprechen kaum mehr an und interessieren oftmals nur eine Minderheit. Und mit den Kirchen gerät auch das Christentum in die Krise. Allein das Festhalten am Vertrauten und an Traditionen reicht nicht mehr, eine Neugestaltung christlichen Lebens und Glaubens ist gefordert (I). Der em. Münsteraner evangelische Praktische Theologe Christian Grethlein fragt vor diesem Hintergrund nach einer heute tragfähigen christlichen Lebensform und greift damit ein Thema auf, das wissenschaftliche Theologie wie Pastoral, aber auch die einzelnen Gläubigen umtreiben muss.

Unter »Lebensform« fasst G. Liturgie, Bildung und Spiritualität. »Lebensform« stellt er wegen der »biegsamen« Kategorie »Leben« gegen das, was er als dogmatische Reduktion versteht. Ob diese Gegenüberstellung grundsätzlich zutreffend ist, wäre jedoch kritisch zu diskutieren. Er entwickelt seine Vorstellung von Lebensform vor dem Hintergrund der 2000-jährigen Geschichte des Christentums und deren Nähe wie Ferne zu Jesus von Nazareth. Wie weit der Bogen des Buches gespannt ist, verdeutlicht der Überblick: In Zeitabschnitten von zumeist jeweils 300 Jahren untergliedert G. die Geschichte des Christentums von der Zeit des Wirkens Jesu über die Entwicklung einer christlichen Lebensform und eine dominante Religion hin zu einer »Formalisierung« von Christentum (600–900), das schließlich zur umfassenden Norm für Individuum, Gesellschaft und Kultur wird. Die Zeit von 1200 bis 1500 ist durch das Ringen um Einheit und Diversifizierung gekennzeichnet, die Jahrhunderte von 1500 bis 1800 durch die »Pluralisierung des Verständnisses und der Organisation von Christsein« (160). Das bezieht sich auf die Reformation, verliert aber leider aus dem Blick, dass christliche Lebensform schon längst zuvor z. B. durch die Unterschiede von Ost und West plural war. Von 1800 bis in die Gegenwart steht Christsein schließlich in der Spannung von Traditionsbindung und weitreichenden gesellschaftlichen und kulturell-wissenschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen. Die Vorgeschichte und die Anbahnung heutiger Verwerfungen christlichen Lebens werden sichtbar. Für alle Zeiträume – aber wie plausibel ist die Untergliederung in Abschnitte von jeweils drei Jahrhunderten? – gilt die Kontextualisierung christlicher Lebensgestaltung, die, wie im Laufe der Lektüre deutlich wird, auch Konterkulturation impliziert bzw. einschließen müsste. Wer sich, so eine These von G., nur auf das Überkommene verlässt, verstellt den Blick auf das heute lebensfördernde Potenzial christlichen Glaubens (9).

Sehr genau werden die gegenwärtigen Probleme des Christentums benannt (9–15 u. ö.). Nicht nur die Kirchenmitgliedschaft, sondern mit ihr auch der agendarische Gottesdienst haben ihre Plausibilität für die meisten Menschen verloren. Den Weg von vitalen Ursprüngen bis in die weithin durch Alltagslogiken geprägte Gegenwart (236) möchte G. nachzeichnen. Bereits im Kapitel über Jesus von Nazareth setzt er die Akzente, die durch das Buch begleiten und dann für die Gegenwart wieder aufgerufen werden: die situative »Näherbestimmung« und Artikulation der Botschaft – in Absetzung von einer systematisch ausgearbeiteten, dogmatisch fixierten Lehre – und eine grundlegende Offenheit gegenüber allen Menschen – das wiederum in Absetzung von späterer Hierarchie und Klerikalisierung. Außerdem identifiziert G. bei Jesus bereits die Modi christlicher Lebensform, d. h. Lebenshilfe, gemeinsames Feiern, Lehren und Lernen (35). Für die nachjesuanischen Jahrhunderte stellt er folgenschwere Veränderungen fest, die in unterschiedlicher Weise durch kulturelle und gesellschaftliche Kontexte, die sich das Christentum zu Eigen gemacht habe, geprägt worden seien. Eine Problemgeschichte wird aufgemacht: Von der Entscheidung zum Christsein in der Frühen Kirche verläuft der Weg zur Säuglingstaufe als Normalfall, von der Gleichheit aller Getauften zur wachsenden Macht von Klerikern usw. Kirche wird zur Staatskirche und damit zur öffentlichen Institution. Der Wandel der Lebensform im gesellschaftlich-politischen Umfeld ist greifbar. Christ zu sein durchdringt normativ alle gesellschaftlichen Bereiche. Insbesondere Eucharistie und Taufe werden zunehmend dogmatisch überformt. Magische Momente halten Einzug, Schaufrömmigkeit und das Denken des do-ut-des dominieren. Stärke und Originalität des Buches liegen allerdings in der Befassung mit der Gegenwart. Die Gefahr bestehe, dass die tradierten Gestaltungen christlichen Glaubens »für viele heutige Menschen den Blick auf diese Lebensform und deren Attraktivität eher verdunkeln als zu Tage treten lassen« (249). Glaubenskommunikation müsse mit der »Form der Authentizität« (251) zusammengebracht werden, d. h. der Orientierung am eigenen Erleben. Das könne, müsse aber nicht einen Bruch mit Tradiertem bedeuten, wie G. mit verschiedenen Beispielen belegt. So zeigt er anhand des Pilgerns, wie tradierte Praxisformen in neuen Kontexten heute wieder Bedeutung gewinnen können. »Sie vereinen, wenn sie als Ausdruck der christlichen Lebensform praktiziert werden, die drei Modi der Kommunikation des Evangeliums: das gegenseitige Helfen zum Leben, das gemeinschaftliche Feiern sowie das Lehren und Lernen.« (261) Veränderungen der Organisationsformen von Kirche und Pluriformität sowie Offenheit für einen Wandel christlicher Lebensform seien unverzichtbar. Dieses erfordere »Menschen, die immer wieder die Impulse erinnern, die vom Auftreten, Wirken und Geschick Jesu ausgehen und diese dann mit anderen kritisch auf gegenwärtige Herausforderungen beziehen.« (265) Dass das nicht erst heute versucht wird, belegt das Buch eindrücklich.

Allerdings sind auch kritische Anfragen zu stellen. Das beginnt beim Begriff »Liturgie«. Ist Liturgie schon mit »Kommunikation des Evangeliums« (I) hinreichend erfasst? Müsste nicht der Zuspruch Gottes und damit das Unverfügbare im Gottesdienst stärker betont werden? Das Buch referiert die Geschichte von Liturgie, Bildung und Spiritualität notgedrungen in einem Schnelldurchgang. Diese Geschichte auf so knappem Raum darstellen zu wollen, ist ein gewagtes Unterfangen, zumal G. kaum eigenen historischen Studien folgt, sondern bekannte Forschungen und ihre Quellen mit einem deutlichen Interesse an Herausforderungen der Gegenwart auswertet. Leider fällt das Bild von Liturgie und Frömmigkeitsgeschichte wenig differenziert aus, was bei einer so komprimierten Darstellung auch kaum zu vermeiden ist. Nur ein Beispiel: Es trifft zu, dass sich die römische Kirche nach dem Tridentinum neu und sehr zentralistisch ausgerichtet hat, doch muss man wissen, dass das nicht von heute auf morgen geschah, sondern ein jahrhundertlanger Vorgang in wechselnden kirchlichen und kulturellen Zusammenhängen war. Ebenso stimmt die Beobachtung einer wachsenden Kluft zwischen kirchlicher Lehre und tatsächlicher Lebenserfahrung für die Zeit nach dem Tridentinum, aber hier müsste doch deutlich differenziert und gesagt werden, was das im Detail meint (184 f.).

Doch keine Frage: Aufbrüche, wie sie im Buch beschrieben und gefordert werden, sind um des Evangeliums willen immer wieder notwendig. Insofern bieten die Ausführungen hilfreiche Anstöße und theologische Impulse.