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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

104-406

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lauxmann, Lydia

Titel/Untertitel:

Die Entdeckung der Menschenwürde in der theologischen Ethik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XVII, 468 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 15. Geb. EUR 94,00. ISBN 9783161612534.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Eine Vorbemerkung: Lydia Lauxmann hat sich für ein Modell gegenderter, inklusiver Sprache entschieden, das aber in diesem Fall mit der Theologiegeschichte insofern kollidiert, als sie zum Beispiel wiederholt auch dann von »Theolog*innen« spricht, wenn nur männliche Theologen gemeint sind. So spricht sie zum Beispiel für die Nachkriegszeit von »Theolog*innen«, die die Menschenwürde abgelehnt hätten. In der Anmerkung dazu werden dann nur Männer, Karl Barth und Emanuel Hirsch, genannt (23). Die Vfn. begründet ihr Verfahren kurz und schlagwortartig (21 f.). Aber wenn das ein wichtiges Thema ist, so hätte man erwartet, dass das Fehlen von Beiträgen von Theologinnen, Politikerinnen, Juristinnen zum Thema Menschenwürde in der Frühzeit der Bundesrepublik eigens thematisiert wird.

Zum Thema Menschenwürde ist in den letzten Jahrzehnten eine Flut von Publikationen erschienen, neben juristischen und philosophischen auch eine Vielzahl von theologischen Arbeiten. Die Vfn. dieser von der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen angenommenen Dissertation hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Würde-Diskurse der evangelischen Ethik und Theologie von der Verabschiedung des Grundgesetzes bis zum Wende-Jahr 1989 zu analysieren.

Sie geht der Frage nach, »wie es von der schroffen Ablehnung der Menschenwürde in der Jahrhundertmitte zur heutigen selbstverständlichen Verbreitung der Menschenwürdefigur in der theologischen Ethik kam.« Gleichzeitig will sie einen Beitrag zum Verständnis des Protestantismus in der Gegenwart (5) leisten. Dabei bezeichnet sie ihre Arbeit zum einen ausdrücklich als theologiegeschichtlich (6), spricht aber zugleich auch von einer systematisch-theologischen Arbeit (9). Sie beschränkt sich auf den Menschenwürde-Diskurs im Protestantismus, in der Bundesrepublik (und nicht in der DDR) und auf den Zeitraum zwischen 1949 und 1989. Nach einer Einleitung (1–22) verhandelt sie zunächst die Ablehnung der Menschenwürde in der evangelischen Theologie nach 1945 (23–50), danach widmet sie sich dem Umschlag der Bewertung und der entstehenden positiven Rezeption des Würdebegriffs (51–150) in der Nachkriegszeit. Die nächste Fallstudie verfolgt Menschenwürdekonzeptionen in den evangelischen Menschenrechtsdebatten ab den siebziger Jahren (150–250). Die letzte Fallstudie gilt dem Würdebegriff in der Bioethikdebatte (251–368). Ein Fazit schließlich fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen (369–414).

Nach dem 2. Weltkrieg lehnten viele evangelische Theologen den Begriff der Menschenwürde als zu individualistisch und zu liberal ab. Die Kritik strich die fehlende Dimension der menschlichen Sünde heraus. Das änderte sich erst bei Ernst Wolf, bei dem die Vfn. bislang nicht beachtete Vorträge und Artikel zum Würdethema analysiert. Juristisch waren die fünfziger Jahre durch eine Renaissance des Naturrechts (Radbruch’sche Formel) bestimmt, was zusätzlich zur Ablehnung der Menschenwürde durch evangelische Theologen beitrug. Ernst Wolf, Erik Wolf und Gustav Heinemann markieren den Beginn einer evangelischen Neuinterpretation. In den sechziger Jahren entwickelten Wolf und Heinemann, Helmut Simon und Ulrich Scheuner eine auf der Barmer Erklärung aufruhende christologische und rechtfertigungstheologische Begründung der Menschenwürde, die die Vfn. als bruderschaftlich bezeichnet (139). Diese stand in Beziehung zur klassischen juristischen Deutung der Menschenwürde, die Günter Dürig (124–130) vorgetragen hatte. Die Vfn. arbeitet dafür die Wechselwirkung zwischen protestantischem Selbstverständnis und neuer Deutung des Grundgesetzes heraus (145).

Der Protestantismus rezipierte allerdings das Grundgesetz, Menschenwürde und Menschenrechte nur mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Die Vfn. verficht eine ausgesprochene Spätdatierung dieser Würderezeption und geht damit auf Distanz zu den Thesen von Hans Joas, der von einem Prozess der Sakralisierung des Menschen durch die Menschenrechtstheorien spricht, der schon im 18. Jh. begonnen hatte (168 ff.). In den siebziger Jahren erfuhr der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Menschenwürde eine intensive theologische Interpretation, was die Vfn. an Jürgen Moltmann (182 ff.), Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt (184 ff.), Trutz Rendtorff (186) und Martin Honecker (189) zeigt. In diesen theologischen Menschenrechtsdebatten erscheint Menschenwürde nun als begründende Fundamentalnorm der Menschenrechte. Sie wird zu einem »Brückenbegriff« (243) zwischen christlichem Glauben und anthropologischer Grundlegung der Menschenrechte.

Im Teil über Menschenwürde und Bioethik analysiert die Vfn. die Themen Schwangerschaftsabbruch (256–306), Embryonenschutz und Stammzellforschung (306–350) sowie in grundsätzlicher Perspektive den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Technik. Dabei gelangt sie zu folgendem Résumé: »Die theologische Ethik hatte die Menschenwürde als Figur entdeckt, mit der sie auf die Schattenseiten der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen der Moderne reagieren konnte.« (359) Ebenso reagiert die evangelische Ethik auf in der Gesellschaft sich abzeichnende Individualisierungsprozesse.

Daneben wurde es für den Begriff der Menschenwürde wichtig, daß man sich mit seiner Begriffsgeschichte beschäftigte und so etwas wie »Ahnenzeugung« (363), zum Beispiel bei Kant oder Pico della Mirandola, betrieb. In ihrem Fazit konstatiert die Vfn. eine Vielzahl von Würdekonzeptionen (370), und sie spricht von der »Multiperspektivität« der theologischen Zugänge zum Würdebegriff (379). Sie schließt sich an Reiner Anselms Formulierung von der relativen Absolutheit des Würdeargumentes (389) an. Damit ist die Interpretation der Menschenwürde als Leerformel abgelehnt, stattdessen spricht sie lieber von einer »Grundsätzlichkeitsformel« (391). In ihrer Auswertung bettet sie ihre Würdekonzeption ein in das Konzept des öffentlichen Protestantismus. Menschenwürde ist danach zweierlei, zum einen Orientierungsbegriff für die Gesellschaft (391), auf der anderen Seite aber auch Identitäts- und Selbstverständigungsbegriff für den Protestantismus, mit dessen Hilfe dieser sich seiner öffentlich-theologischen Funktionen versichert. Das mündet in das folgende, eher formale Fazit, wonach Menschenwürde eine »changierende Dopplungsfigur« sei, die »stets Reaktion und Konstruktion« umfasse (403).

An dieses Konzept seien am Ende drei Fragen gestellt: 1. Die Konzentration auf evangelische Ethik und auf evangelische Juristen läßt die Frage entstehen, ob es in den Rechtswissenschaften und vor allem in der katholischen Ethik und Theologie nicht ähnlich gelagerte Entwicklungen gab, die dann gar nicht als innerprotestantische Entwicklungen zu kennzeichnen wären. Hier wäre auch auf die Forschungen Axel Schildts zur Intellektuellengeschichte in der Nachkriegszeit einzugehen, wo sich solche gemeinsamen Ausgangsvoraussetzungen bundesrepublikanischer Identitäts- und Orientierungsdebatten beschrieben finden. 2. Es wäre auch zu fragen, ob es nicht hätte hilfreich sein können, dass die Vfn. die statistisch-digitalen Hilfsmittel zu Rate zieht, die mit dem Aufkommen der digital humanities und den Forschungen von Franco Moretti und anderer zur Verfügung stehen. 3. Die Vfn. legt die Betonung auf die Wandelbarkeit des Würdebegriffs und seiner Interpretationen. Sie versteht ihn als eine Art deutungsoffenen umbrella term, den die protestantischen Theologen in immer wieder neuen Deutungen an die Erfordernisse der gerade aktuellen juristischen, sozialen und innerprotestantischen Debatten anpassen. Damit erscheint die systematisch-ethische Debatte als abhängig von den historischen Bedingungen, und es wäre die Frage, ob diese Perspektive nicht auch einmal umzukehren wäre, dahingehend, ob nicht der Begriff der Würde an sich schon bestimmte konstitutive Elemente enthält, die von keiner aktuellen Interpretation aufgelöst oder wegdiskutiert werden können. 4. Wenn man die diskursanalytischen Überlegungen der Vfn. teilt, wäre nun weiter zu fragen, was dann in den Jahren nach 1989 geschah: Gab es so etwas wie eine menschenrechtliche Würderezeption oder -kritik in der DDR bzw. in den Jahren nach dem Fall der Mauer? Darüber hinaus: Es könnte sein, dass wir uns mitten im Prozess der Herausbildung von auch theologischen, gendersensiblen Würdekonzeptionen befinden, die dann nicht wie die frühen Überlegungen Ernst Wolfs Würde und Freiheit, sondern Würde und Gleichheit herausstreichen. Diese theologischen Bewegungen zu analysieren, wäre ein sinnvolles Forschungsprogramm.