Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

100-102

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Huber, Johannes

Titel/Untertitel:

Das Gesetz des Ausgleichs. Warum wir besser gute Menschen sind. M. e. Nachwort v. P. Sloterdijk.

Verlag:

Wien: edition a 2020. 368 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 9783990014257.

Rezensent:

Thomas Bohrmann

Gut und böse, richtig und falsch sind moralische Kategorien, die jeden Tag das Leben von uns Menschen bestimmen. Wir stellen uns – ob bewusst oder unbewusst – ständig die grundlegenden Fragen der Ethik, nämlich: Was soll ich tun? und Wie ist ein gutes und gelingendes Leben möglich? Der katholische Theologe und Mediziner Johannes Huber erweitert diese Perspektiven nach dem richtigen Handeln, indem er in seinem Buch die Frage stellt, »warum es sich auszahlt, ein guter Mensch zu sein« (15). Seine Antwort ist überraschend, denn gut zu sein ist für H. nicht einfach eine moralische Verpflichtung, sondern vielmehr die beste Therapie gegen innere Leere, Antriebslosigkeit und Depression. Moralisches Verhalten erhält die Gesundheit, wohingegen böse Taten negative physische und psychische Folgen haben, so seine bemerkenswerte These.

H. entwickelt seine Ausführungen anhand von drei Teilen. Im ersten Teil beschreibt er, wie wir bessere Menschen werden können. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass alle Menschen dies prinzipiell erreichen können, wenn sie wollen und zudem bereit sind, das Gutsein zu üben. H. zählt fünf konkrete Handlungsanweisungen auf, die er als »Fitness-Parcours der Seele mit seinem Fitness-Code« (35) bezeichnet und die uns zu besseren Menschen machen können. Für ihn sind erstens ausreichender Schlaf, der das glymphatische System aktiviert, von grundlegender Bedeutung, denn dadurch werden die zellulären Abfallstoffe im Zentralnervensystem entsorgt, und die verbrauchte Energie des Tages revitalisiert sich. Unser Gehirn wird »von den Spuren von Stress und negativen Gedanken wie Ängsten, Sorgen und Wut« (36) gereinigt. Zweitens kann im Gespräch mit einem anderen Menschen unser Gehirn durch die Selbstreflexion und das Reden über unsere Fehler entgiftet werden. Ein solches Gespräch kann mit einem Geistlichen (traditionell in der Beichte), einem Psychotherapeuten oder einem vertrauten Freund geführt werden. Kompromisse und Kooperationen mit anderen zu schließen sind drittens ein weiterer Aspekt, das Gutsein mit sich und mit anderen zu üben. Für H. ist viertens das Nachgeben »eine erweiterte Form des Kompromisses« (62) und eine zusätzliche Stufe, um ein besserer Mensch zu werden. Schließlich vertraut er fünftens auf die Kraft der Natur, die uns Lebendigkeit und Glücksgefühle schenkt.

Im zweiten Teil erläutert H., was wir durch das Gutsein für uns gewinnen können, wie das Gutsein sich also für uns auszeichnet. Auch in diesem Kapitel stellt er einen Fünf-Punkte-Trainingsplan für unsere Seele auf. »Es liegt dem Wesen des Menschen zugrunde, dass er nicht nur im evolutionären Auftrag überleben und sich fortpflanzen will, sondern dass er ein gutes Leben führen will. Ein glückliches, ein gesundes, eines in Frieden.« (86) Um dieses gute Leben und friedliche Zusammenleben zu erreichen, sind Regeln wichtig, wie sie etwa im Codex Hammurapi und im Dekalog niedergeschrieben worden sind. H. stellt fünf Gebote des Dekalogs heraus, die nach wie vor als aktuelle Anleitungen gut für uns und die Welt sind. So kommen erstens der Generationenvertrag und die soziale Funktion der Familie zur Sprache. »Wenn die Jungen mit den Alten nichts mehr anfangen können, und umgekehrt, wankt das Gesellschaftssystem. […] Die jeweils Jüngeren lernen von den jeweils Älteren, was es heißt, für andere da zu sein. Am Ende sind alle füreinander da, zuerst die einen für die anderen, dann die anderen für die einen.« (104). Zweitens wird das Tötungsverbot als Regel für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben herausgestellt, das H. aber im digitalen Zeitalter aktualisiert, denn durch die Verbreitung von Hassbotschaften in den sozialen Medien können Menschen nicht nur beleidigt, sondern sogar auch »digital« getötet werden. Drittens trägt auch ein gutes partnerschaftliches Leben in der Zweisamkeit von Frau und Mann zu einem guten Leben bei. H. plädiert viertens – ganz im Sinne von Erich Fromm – für mehr Sein als Haben im Leben. Habsucht, Geiz und Gier sind die Geißeln der Menschheit, die den sozialen und individuellen Frieden verhindern. »Durch sie verpassen wir das richtige Leben, das gute Leben im doppelten Wortsinn des Wortes ›gut‹.« (158). Wahrhaftigkeit trägt fünftens zu einem guten und gesunden Leben bei. »Warum sollen wir die Wahrheit sagen? Ganz einfach: Sie hält uns gesund. Mit einer Lüge schaden wir uns mehr oder weniger selbst. Wir schlafen besser, wenn wir ehrlich sind.« (170)

Der dritte Teil des Buches bietet eine Einführung in das ethische Denken, indem grundlegende theoretische Perspektiven über die Frage nach Gut und Böse, nach dem richtigen und falschen Handeln aufgezeigt werden. Dabei wird die evolutionäre Entwicklung des Menschen und die damit verbundene allmähliche Ausbildung des Großhirns beschrieben und mit der Entwicklung der Ethik verknüpft. In der Geschichte der Menschwerdung spiegelt sich somit auch die Geschichte der Moralität wider. »Mit dem Cortex hat die Evolution dem Homo sapiens also etwas übergeben, das ihm hilft, die Triebsteuerung, die bis dahin alle Säugetiere beherrscht hatte, zu verfeinern und aggressive Impulse zu kontrollieren. Dieses wunderbare Instrument der Deeskalation ermöglicht es uns auch, uns zu ändern. Wir können mit seiner Hilfe sowie mit der Kraft unseres Willens von groben zu gesitteten und von egoistischen zu altruistischen, also von schlechten zu guten Menschen werden.« (200) Der Philosoph Peter Sloterdijk hat ein ethisches Nachwort geschrieben, das H.s Buch als »Stimme, die zum Guten rät« (293) würdigt. »Die stille Weltmacht der gelehrten Freundlichkeit hat in H. einen überzeugenden Botschafter gefunden.« (294)

H., der mittlerweile viele wissenschaftliche Sachbücher zu medizinischen und theologischen Fragen geschrieben hat, legt mit seinem neuen Buch eine interdisziplinäre Studie vor, die besonders aufgrund der Verbindung von medizinisch-naturwissenschaftlichen mit theologisch-ethischen Überlegungen instruktiv und nachdenkenswert ist. Er war als Professor von 1992 bis 2011 Leiter der klinischen Abteilung für gynäkologische Endokrinologie im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Zudem ist er in Wien als Arzt tätig. Bis 2007 war er Vorsitzender der österreichischen Bioethik-Kommission. Außerdem war er von 1973 bis 1983 einer von zwei persönlichen Sekretären von Kardinal Franz König in Wien. In seinem Buch kommen immer wieder seine beiden akademischen Disziplinen zur Sprache, die er gekonnt miteinander verzahnt und gewinnbringend in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs einbringt. Die Aussagen in seinen drei Kapiteln werden immer wieder mit neueren naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen aus Biologie, Medizin und Psychologie belegt, so dass das Buch nicht thesenhaft bleibt, sondern auf eine gute empirische Basis zurückgreifen kann.

Einige wenige Punkte sind aber dennoch zu kritisieren. Formal wäre es wünschenswert gewesen, wenn alle zitierten Autoren und Buchzitate auch mit einer Quellenangabe versehen worden wären, was leider nicht immer der Fall ist. So verwundert es, dass die Goldene Regel weder in ihrer negativen (nämlich Tob 4,15) noch in ihrer positiven Formulierung (nämlich Mt 5,12) mit der exakten Bibelstelle angegeben wurde (vgl. 235–236). Bibelkundige Leser und Leserinnen kennen die entsprechenden Stellen sicherlich, aber das Buch richtet sich ja auch an ein breiteres Publikum. Inhaltlich kann das Buch anhand zweier thematischer Fokussierungen kritisiert werden. Das Kapitel über die Familie und das 4. Gebot (90–123) ist zwar informativ geschrieben, doch spiegelt es teilweise ein traditionelles Familienbild wider, das, wenn es positiv gelebt wird, sicher viele soziale Vorteile hat, sich in der Realität aber oftmals nicht so idealtypisch präsentiert. In diesem Sinne sind nicht alle »alternativen Möglichkeiten des Zusammenlebens« (112) schlecht. Ob eine Erosion oder Schwächung der Familie wirklich dazu führt, »jedes Individuum leichter manipulierbar« (113) zu machen und dahinter vielleicht sogar ein »Masterplan« zur »Kontrolle der Massen« (113) steht, sind zwar pointierte, insgesamt aber doch wenig differenzierte Aussagen. Ebenso wäre es wünschenswert gewesen, auch die Frage nach der moralischen Verantwortung gegenwärtiger Menschen für historische Schuld differenzierter zu behandeln. In diesem Sinne hätte die Aussage »Heutige Menschen sind nicht für die Taten früherer Generationen verantwortlich« (230) präziser behandelt werden sollen. Es ist richtig, eine individuelle moralische Verantwortung kann es für Taten, die in der Vergangenheit von anderen ausgeführt wurden, nicht geben. Dennoch haben gegenwärtige und auch zukünftige Generationen die Pflicht, sich an die schuldhafte Vergangenheit zu erinnern und die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass sich solche Taten nicht wiederholen.

Trotz so mancher einseitiger Positionierung ist H.s Buch zu würdigen und zu empfehlen, da es auf der Höhe wissenschaftlicher Forschung sehr grundlegende philosophische Fragen der menschlichen Existenz in einer angenehmen Sprache beantwortet und immer wieder zum Nachdenken über das eigene moralische Handeln einlädt. H. hat eine Anleitung zum Gutsein und zum Glücklichsein geschrieben, die sich zu lesen lohnt.