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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

91-94

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Loewen, Nathan R. B., and Agnieszka Rostalska [Eds.]

Titel/Untertitel:

Diversifying Philosophy of Religion. Critiques, Methods and Case Studies.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury Academic 2023. 344 S. Geb. GB£ 117,00. ISBN 9781350264021.

Rezensent:

Matthis Christian Glatzel

Seit Platon sind religionstheoretische Überlegungen stetig Teil philosophischer Reflexion gewesen. Stand hierbei im Zuge der mittelalterlichen Scholastik vornehmlich die Plausibilisierung theologischer Aussagen auf rationalem Grund im Fokus, trat im Zuge der Aufklärung auch die kritische Auseinandersetzung mit der in den Vordergrund. Als Teil der akademischen Philosophie teilt damit die Disziplin der Religionsphilosophie allerdings ein Problem, das in der späten zweiten Hälfte des 20. Jh.s im Hinblick auf die gesamte geisteswissenschaftliche Forschung hin offengelegt wurde: Ihre Perspektive ist vorwiegend auf den westlichen Kulturraum beschränkt, und wenn sie andere Räume in den Blick nimmt, dann geschieht dies in einer an den eigenen Kulturformen orientierten Lesart. Der in diesem Jahr publizierte Sammelband von Nathan R. B. Loewen und Agnieszka Rostalska hat es sich zur Aufgabe gesetzt, neue Wege der Disziplin zu erkunden, die einer Perspektivenvielfalt Rechnung tragen. Während Loewen in Alabama lehrt, ist Rostalska an der Ghent University in Belgien tätig. Die Autoren und Autorinnen des Bandes wiederum stammen vorwiegend aus den USA, aber auch etwa aus Indien oder Japan. Das Grundparadigma eines multiperspektivischen Dialoges wird demnach bereits durch die Autorenauswahl erstrebt. Gleichzeitig steht der Band im Zentrum einer Debattenlage im vornehmlich angelsächsischen Raum: Im Kontext der American Academy of Religion sind in den Jahren zwischen 2009 und 2021 zahlreiche Bände erschienen, die an einer Reformation dieser philosophischen Teildisziplin arbeiten. Einem Kontext, in den sich der Sammelband explizit stellt (5–7).

Formal ist der Band geteilt in zwei große Abschnitte: Der erste Teil stellt die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Religionsphilosophie unter den Vorzeichen dekonstruktivistischer Theorieströmungen, vornehmlich der post-colonial studies, während der zweite Teil konkrete Fallstudien bietet, die versuchen die im theoretischen Teil geforderte Multiperspektivität in die Praxis zu überführen. Ich möchte mich in dieser Rezension vor allem auf den ersten Teil konzentrieren, da hier die theoretischen Erkundungsgänge erarbeitet werden, die um eine zentrale Frage kreisen: Die Frage nach der Bedingung von Möglichkeit einer Religionsphilosophie, die den Forderungen der post-colonial-studies Rechnung trägt. Die verschiedenen Antwortversuche des Bandes vereint das Bestreben, die Religionsphilosophie in einen multiperspektivischen Diskurs zu überführen, der keine philosophische oder theologische Tradition mehr ausschließt.

Den Start macht eine Problemanalyse: Jacob Holsinger Sherman betont, dass der Zugriff auf nichtwestliche Formen von Religion ein begriffliches Instrumentarium mit sich bringt, dass aus der Beschäftigung mit den westlichen Religionsformen stammt und damit für bestimmte Phänomene blind zu werden droht. Auch eine anthropologisch ausgerichtete Religionsphilosophie, wie sie prominent mit Schleiermacher verbunden wird (28), stünde vor dem Problem metaphysischer Annahmen, die nicht bedenkenlos auf einen anderen Kulturraum übertragen werden könnten. Die Beschreibung religiöser Erfahrungen, so Sherman, rekurriere keinesfalls auf vermeintlich anthropologische Grundkonstanten, sondern sei vielmehr ihrerseits »diverse cultural constructions of religious realities« (30). Vor diesem Hintergrund erscheinen ebenfalls die Kategorien von säkular und supranatural nach Sherman als übergriffig. Solche Unterscheidungen könnten aus einer etischen Perspektive nicht getroffen werden. Stattdessen schlägt Sherman vor, etische und emische Perspektiven in ein gegenseitiges Ergänzungsverhältnis zu überführen. Die Lösung sieht Sherman demnach in einem Dialog vielfältiger Perspektiven. Diese Einsicht Shermans teilen auch Andrew B. Irvine und Purushottama Bilimoria, die die Notwendigkeit eines »cross-cultural dialogues« (47) betonen. Demnach müsse eine moderne Religionsphilosophie von indigenen Personen lernen und deren Perspektiven in ihre Überlegungen mit einbeziehen, um die epistemische Gewalt klassischer Religionsphilosophie zu vermeiden, wie sie Irvine und Bilimoria etwa bei Descartes und Hegel nachweisen. Dabei geht es ihnen nicht darum, westliche Ideen per se abzulehnen, sondern vielmehr unter den neuen Vorzeichen des Austauschs neu zu denken. In seiner Dekonstruktion besonders radikal erweist sich Timothy D. Knepper, der die Zweckmäßigkeit des Religionsbegriffs für religionsphilosophische Forschung in Frage stellt und stattdessen für den Begriff »ultimacy [Ultimität]« (63) wirbt. Hierbei verweist er auf die vielfältigen Bedeutungszusammenhänge, in denen der Begriff im Zuge seiner Geschichte stand. Allerdings erweist Knepper die Unzulänglichkeit des Begriffs anhand einer plakativ schlechten Definition aus (»Systems of belief about God« (56)). Von hier aus kommt er schließlich zu dem Schluss, der Begriff der Religion sei zu eng für die sich zeigenden Phänomene. Die Fragen, welchen Mehrwert der Begriff Ultimität tatsächlich bietet und ob es nicht ausreicht, wenn der Begriff Religion in einem deutlich weiteren Sinne verstanden wird, bleibt Knepper schuldig.

Sonia Sikka schlägt demgegenüber keinen Begriffswechsel vor, sondern legt den Fokus auf den kritischen Blick, dessen Mehrwert sie darin erkennt, Selbstverständlichkeiten zu durchbrechen. Dieser zeigt beispielsweise auf, dass die Distinktion von Theologie und Philosophie durch den westlichen Blick determiniert ist. Ähnliche Überlegungen bei Locke, Hume einerseits, den Strömungen indischer Philosophie wie der Advaita-, Nyāya- und Mādhyamaka-Schule andererseits werden im westlichen Beispiel als philosophische Reflexion interpretiert und ausgelegt, während das Gegenstück vornehmlich unter der Brille theologischer Reflexion verstanden wird. Der westliche Blick, so Sikka, verstehe das Andere immer als Religion und relativiere es damit in seinem Geltungsanspruch gegenüber westlicher Philosophie. In ähnlicher Hinsicht wie bereits Sherman, macht sich auch Sikka dafür stark, auf andere Stimmen zu hören und ihre Perspektive vermehrt zu würdigen. Welchen Mehrwert ein solcher Austausch bieten könnte, zeigt etwa Leah Kalmanson, die in ihrem Beitrag Theorien und Methoden der Religionsphilosophie der chinesischen Song-Dynastie erkundet. Sie zeigt, dass diese Form der Religionsphilosophie in deutlich größerer Distanz zur Religion selbst steht und dort jedoch ähnlich prinzipientheoretische Fragen stellt. Solch neue Perspektiven können, so Kalmanson, bereichernd für die religionsphilosophische Forschung insgesamt sein. Es ist schließlich Gereon Kopf, der sich in seinem Beitrag daran versucht, diese in den Beiträgen dominant geforderte Multiperspektivität auf eine theoretische Basis zu stellen. Er benennt das Konzept eines »multi-entry approach« (121). Unter dieser Vokabel bezeichnet Kopf einen Zugang, der im Bewusstsein um die Relativität des eigenen Standpunktes in einen freien Diskurs eintritt (124). Dadurch, so Kopf, erlebe der eigene Zugriff eine Transformation. In Rekurs auf entwicklungspsychologische Forschung hebt Kopf hervor, dass der bloße Dialog einen solchen Mehrwert nicht leisten könne, weil hier der Fokus auf den Differenzen liege, träten jedoch mehr Parteien in den Diskurs, würden vor allem die Gemeinsamkeiten betont. Demnach kulminiert Kopfs Beitrag in der Forderung nach einem engagierten »multilogue« (142).

Dem allgemeinen Zugriff des Vergleichs, des offenen Dialoges – wie er sich in allen Beiträgen, vor allem in denen von Knepper und Robert Cummings Neville artikuliert – liegt jedoch ein Problem zu Grunde: Durch den Vergleich verschiedener Traditionen und theoretischer Reflexionen über religiöse Fragen, drohen die Disziplingrenzen von Religionsphilosophie und Religionswissenschaft zu verwischen. Reflektiert wird diese Gefahr explizit in Kevin Schilbracks Beitrag (298): Wenn Philosophie ihr Charakteristikum in normativen Aussagen sieht, die bis zu einem gewissen Grade Allgemeingültigkeit beanspruchen, wie kann sie diesen Zugriff mit einem zurückhaltenden Geltungsanspruch verbinden, wie ihn etwa die post-colonial-studies fordern? Schilbrack schlägt vor, dass eine Religionsphilosophie, die dieser Herausforderung Rechnung trägt, zum einen die Frage nach den Grenzen des Religionsbegriffs stellen muss. Also die Frage nach der Bedeutung des Begriffs in einem multiperspektivischen Zugriff. Es geht demnach für Schilbrack nicht darum, die Kategorie als solche zu beerdigen, sondern in produktiver Hinsicht nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zu fragen. Darüber hinaus soll eine solche Form der Religionsphilosophie, so Schilbrack, die leibliche Dimension von Religion notwendig mit einbeziehen, da somit eine Vielzahl an neuen Phänomenen in den Blick geraten, die ohne eine solche Perspektive zu entgehen drohen.

Schilbrack endet in der wichtigsten Frage, der Frage nach der normativen Wertungskategorie von Religionsphilosophie. Auch nach der Lektüre bleiben solche Fragen bestehen, gerade auch weil das Urteil der Autoren heteronom ausfällt. Gemein ist den Positionen die Einsicht, dass eine moderne Religionsphilosophie nicht ausschließlich aus einer westlichen, vornehmlich christlichen Tradition heraus argumentieren kann, da sie sonst andere Konzepte immer aus dieser Brille betrachten wird. Die Herausforderung besteht darin, die Geltungsfrage in einem multiperspektivischen Zugriff nicht aus den Augen zu verlieren. Rückt diese in den Hintergrund, dann unterscheidet sich die Religionsphilosophie nicht mehr von der Religionswissenschaft und geht als eigene Disziplin verloren. Sie steht damit in der Spannung der Hypostasierung einer Tradition und der Aufgabe von Normativität und Wahrheitsanspruch. Dieses Spannungsfeld weiter erkundet und erforscht zu haben, ist ein nachdrückliches Verdienst des besprochenen Bandes.