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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

87-89

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Travanti, Eleonora

Titel/Untertitel:

Lessings exoterische Verteidigung der Orthodoxie. Die Wolfenbütteler Beiträge gegen die Aufklärungstheologie (1770–1774).

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2023. XV, 336 S., m. 29 Abb. u. 7 Tab. = Frühe Neuzeit, 251. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110792164.

Rezensent:

Steffen Götze

Gotthold Ephraim Lessing ist ein wegweisender Aufklärer – auch des Christentums. Wie die Art seiner religiösen Aufklärung charakterisiert werden kann, bleibt indes umstritten. Referenzpunkt für die verschiedenen religionsphilosophischen und theologischen Standortbestimmungen Lessings ist meist sein Spätwerk, allen voran die Texte zum Fragmentenstreit (1777/78) und das dramatische Gedicht Nathan der Weise (1779). So beschreibt Hannes Kerber Lessings Intention bei der Veröffentlichung der Fragmente eines Ungenannten als »restitutio ad integrum« der Orthodoxie (Die Aufklärung der Aufklärung. Lessing und die Herausforderung des Christentums, 2021 passim), als eine Kritik orthodoxer Apologetik mit Mitteln der orthodoxen Dogmatik. Daniel Zimmermann nennt den späten Lessing da- gegen einen »Retter der Offenbarung« (Göttliche Zufälligkeiten. G. E. Lessings Vernunftkritik als Theodizee der Religionen, 2023, 273, Anm. 345). Die Studien unterscheiden sich unter anderem darin deutlich voneinander, wie sie die religiöse Haltung Lessings rekonstruieren: Während bei Kerber offenbleibt, ob Lessing sich der von ihm eingeforderten idealen Orthodoxie auch persönlich verpflichtet fühlt, geht Zimmermann von einer geläuterten altersfrommen Position aus. Beide Positionen finden durchaus Anhalt an den späten Texten.

Die Uneindeutigkeit, die daran sichtbar wird, ist Stein des Anstoßes für die zu besprechende Monographie. Es handelt sich um die von Winfried Schröder betreute und 2021 an der Philosophischen Fakultät in Marburg eingereichte Dissertation von Eleonora Travanti. T. beschäftigt sich mit Lessings »rätselhafte[r] Verteidigung der Orthodoxie« (6) in den frühen Wolfenbütteler Publikationen Leibniz von den ewigen Strafen (1773), Des Andreas Wissowatius Einwürfe gegen die Dreieinigkeit (1773) und Von Adam Neusern, einige authentische Nachrichten (1774). T. stellt also kleine und eher unbekannte Texte des Spätwerks ins Zentrum ihrer Arbeit. In ihnen findet T. den Schlüssel zu allen öffentlichen Äußerungen des späten Lessing zur Religion. Diese Schwerpunktsetzung erweitert den Blickwinkel und bereichert die Lessing-Forschung.

T. entfaltet ihre Argumentation mit beeindruckender Stringenz. Die Einleitung (1–13) benennt die Herausforderung problembewusst und stellt den eigenen Zugang in die Tradition der Lessing-Deutung von Leo Strauss. Diese Anknüpfung ruft eine anregende Stimme in der Philosophiegeschichtsschreibung in Erinnerung (besonders 221–233). Nachdem T. das weite Feld der Lessing-Forschung souverän ordnet (14–29), gibt sie einen ausführlichen philosophiegeschichtlichen Überblick über die Verwendung der doppelten Lehrart seit Aristoteles (30–75). Das auf den ersten Blick abseitig scheinende Thema verweist auf einen reichen Traditionsstrang von Reflexionen über die Form des Philosophierens und bereitet so die anspruchsvolle Analyse der Lessing’schen Publikationstätigkeit gut vor.

Das Herzstück der Arbeit ist die akribische Interpretation der Lessing-Texte. T. gelingt ein Meisterstück an historischer sowie philologischer Präzision und Gelehrsamkeit. Anschaulich flankiert von den Tabellen im Anhang weist sie nach, dass Lessing während seiner Tätigkeit als Bibliothekar mit der Anschaffungspolitik und der neugegründeten Bibliothekszeitschrift ein religionsphiloso-phisches Programm verfolgt (76–100). Als Anstoß für Lessings neuerliches Interesse an der Religionsphilosophie gibt T. die Reimarus-Lektüre kurz vor der Berufung nach Wolfenbüttel an. Die Arbeiten der ersten Jahre in der dortigen Bibliothek beschreibt sie als ein durchdachtes Vorspiel für den Fragmentenstreit. In der ideengeschichtlichen Kontextualisierung (101–145) nähert sich T. dem Interesse Lessings inhaltlich an: Der Bibliothekar tritt vordergründig nur als Herausgeber von interessanten Funden auf. T. kann aber zeigen, dass die Auswahl der Texte in Verbindung mit der Kommentierung eine deutliche Kritik an der zeitgenössischen Theologie mit sich führt – allen voran an der Neologie, aber auch am Sozinianismus und am Deismus. In der Interpretation (146–182) stößt T. schließlich auf das eigentliche Anliegen Lessings: Er rettet Leibniz vor dem Vorwurf der Unaufrichtigkeit, indem er die Dialektik von Esoterik und Exoterik in den Schriften des Philosophen näher erläutert. Leibnizens exoterische Schreibart dürfe keinesfalls als Heuchelei abgetan werden. Vielmehr sind die beiden Lehrarten aufeinander bezogen, gebrauchen aber mit Blick auf eine je verschiedene Leserschaft Argumentationen mit unterschiedlichem er­kenntnistheoretischem Status (159–166). T. versteht Lessings Leibniz-Interpretation ferner als programmatische Selbstaussage über die eigenen Texte. Wenn Lessing mit Leibniz coram publico orthodoxe Glaubenssätze verteidigt, drücke er damit keineswegs seine eigentliche religiöse Überzeugung aus, sondern bediene sich einer für die breite Masse tauglichen Lehrart. Hinter seiner Verteidigung von Leibniz und der exoterischen Parteinahme für orthodoxe Glaubenssätze erkennt T. das an Spinozas Tractatus theologico-politicus orientierte Anliegen einer scharfen Unterscheidung zwischen Glaube und Vernunft. T.s Interpretation gelingt es, Lessings vielstimmige Theologiekritik mit seinen deutlichen Äußerungen im Briefwechsel mit Bruder Karl stimmig zu verbinden. Für die Klarheit in der Darstellung nimmt T. in diesem Abschnitt zahlreiche Redundanzen in Kauf.

Die Kapitel sieben (183–220) und acht (221–250) wenden sich auf dieser Grundlage der Charakterisierung von Lessings Aufklärung zu. Dafür befasst sich T. mit dem von F. H. Jacobi überlieferten Spinoza-Gespräch und mit dem rätselhaften Dialog Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (1778). Die Bemerkung Jacobis, Lessing sei kurz vor seinem Tod Spinozist gewesen, wird ausführlich besprochen. Dazu liegt jedoch kein Selbstzeugnis vor (193). Die detaillierte Sichtung aller Kryptozitate und entfernten Allusionen in Lessings Werk kommt zu dem vorsichtigen Ergebnis, er sei allenfalls ein »scharfsinniger Leser Spinozas« (220) gewesen. Die sich anschließende Interpretation des Freimaurer-Dialogs kann das hohe Niveau der Quellenarbeit nicht halten. T. schlägt hier Vorbilder aus Antike und Mittelalter für Lessings aufklärerisches Wirken vor. Die Verbindungen, die sie zu diesem Zweck vom Lessing’schen Dialog zu Seneca und Maimonides zieht, muten – verglichen mit der präzisen Quellenarbeit zuvor – eher spekulativ an.

T. schließt mit ebenso streitbaren wie diskussionswürdigen Thesen ab (251–261). Sie löst Lessing aus altbekannten Deutungsmustern der Philosophiegeschichtsschreibung (Spinozist, Vorläufer von Hegel usw.) und nennt ihn einen »Aufklärer sui generis« (259 f.). Seinen Bezug zum Christentum beschreibt sie rein funktional. »Lessings Aufklärung ist keineswegs eine religiöse Aufklärung« (253). Wenn er Dogmen vor der Marginalisierung oder einer rationalen Umdeutung rette, verweise Lessing die Theologie in die Geltungsschranken irrationaler Glaubensüberzeugungen. Ihm gehe es dabei nicht eigentlich um die Reinheit der christlichen Lehre, sondern um die Freiheit des philosophischen Denkens. Darin erkennt T. ein dezidiertes Gegenprogramm zur Neologie. Sie nennt dies eine »vormoderne Aufklärung« (260). Lessing wolle »das philosophische Licht nur vorsichtig verbreiten und das Volk langsam erziehen« (260).

T. bietet eine originelle Deutung von Lessings Spätwerk. Mit dem Hinweis auf seine Rezeption der Dialektik von esoterischer und exoterischer Lehrart bahnt sie einen anregenden Zugang zu Lessings vieldeutigen Texten und seinem hintergründigen Anliegen. Ob es indes allein die Absicht des altgewordenen Pastorensohns gewesen ist, das Christentum auf hintergründige Weise zu sistieren, muss angesichts seiner wertschätzenden Rede von der inneren Wahrheit der Religion noch diskutiert werden.