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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

84-86

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schneider, Camilla

Titel/Untertitel:

Die Lutherdenkmäler zwischen 1817 und 1917. Denkmalforschung, Lutherrezeption und protestantische Erinnerungskultur.

Verlag:

Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2023. IX, 452 S. mit 44 Abb. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 156. Kart. EUR 124,95. ISBN 9783111054322.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Diese interessante, von Harry Oelke betreute Studie wurde im Wintersemester 2021/22 von der Münchner Evangelisch-Theologischen Fakultät als Dissertation angenommen und ist für die Drucklegung nur geringfügig überarbeitet worden. Die Verfasserin Camilla Schneider setzte sich, ausweislich der knappen, als 1. Kapitel gezählten »Einleitung« (1–8) sowie ebenfalls knappen Hinweisen zu Beginn des 3. Kapitels (80–87), das reizvolle Ziel, mit ihrer Untersuchung »herauszuarbeiten, wie Luther zwischen 1817 und 1917 im Medium Denkmal erinnert wurde« (7). Dabei möchte sie unter einem Lutherdenkmal »lediglich eine auf einem Postament platzierte Statue des Wittenberger Reformators« verstanden wissen, räumt freilich sogleich ein, dass diese »enge Definition« (80) im Zuge der Durchführung gelegentlich auch »aufgeweicht« (81) werden müsse. Die an den Jahrhundertfesten des Reformationstags orientierten Eckdaten des avisierten Untersuchungszeitraums finden sich vorab nicht eigens begründet, plausibilisieren sich im Fortgang der Arbeit dann aber zwanglos von selbst.

Zentrales Herzstück der Studie ist das 3. Kapitel (80–389), das sich in großer, unermüdlich scheinender Detailfreude dem im Obertitel des Bandes genannten Gegenstand widmet. Hier arbeitet S. auf einer soliden, sorgfältig eruierten Literatur- und Quellenbasis; die Zahl und Streubreite der von ihr konsultierten Archive, aus denen sie vielfältige Dokumente erhebt, ist eindrucksvoll und erheischt Respekt. Die aufgerufene Zeitspanne teilt S. weithin sinnvoll in vier Phasen ein. Deren erste betrifft die »Etablierung der Lutherdenkmaltypen« (87–148). Sie setzt, kaum überraschend, mit Johann Gottfried Schadows Wittenberger Lutherdenkmal ein, dessen Grundstein zwar 1817 gelegt wurde, das aber erst vier Jahre später zur Enthüllung kam und dessen Vorbereitung bis in das Jahr 1801 zurückreicht; insofern markiert das titelgebende Jahr 1817 doch eher ein symbolträchtiges Datum. Den Ausgang nahm das Unternehmen von der Denkmalinitiative der Vaterländisch-Literarischen Gesellschaft zu Mansfeld, die einen weitgestreuten Spendenaufruf ausgehen ließ und deren Projektausschreibung nicht weniger als 22 eingereichte Entwürfe, die von S. allesamt portraitiert werden, zur Folge hatte. Im weiteren Verlauf ging die Initiative dann zusehends auf den preußischen König Friedrich Wilhelm III. über, der sich direktiv sogar in die Auswahl der Sockelinschriften des Schadowschen Entwurfs einmischte, dann freilich der von S. überaus breit vergegenwärtigten Einweihungsfeier am 31. Oktober 1821 fernblieb.

Erstaunlicherweise kam es nach der Wittenberger Installation erst 40 Jahre später zu weiteren Lutherdenkmälern. Deshalb könnte man fragen, ob sich diese gewaltige Pause, deren Ursachen S. nicht zu eruieren sucht, tatsächlich als Teil einer »Phase« sachgemäß verbuchen lässt. Das 1861 enthüllte Denkmal in Möhra und das 1862 eingeweihte Lutherstandbild im baltischen Kegel analysiert Sch. ebenfalls sachkundig und quellennah. Den Abschluss der ersten Phase markiert das monumentale, 1868 enthüllte, bereits mehrfach beforschte Reformationsdenkmal in Worms. Hier gab es wiederum eine initiative Vereinsgründung, später dann freilich keine Ausschreibung, weil die Wahl alsbald einmütig auf den spätklassizistischen Bildhauer Ernst Rietschel fiel, dessen Weimarer Goethe- und Schiller-Denkmal von 1857 ihn nun auch in Worms konkurrenzlos empfahl. Vorbereitung, Planung und Ausführung der Wormser Anlage werden von S. minutiös dargestellt. Dabei widmet sie auch den innerprotestantischen Spannungen, die jenen Prozess begleiteten, sowie der dabei zu beobachtenden Verschmelzung von protestantischen und deutsch-nationalen Mo­tiven gesammelte Aufmerksamkeit. Sogar die gleich nach der Einweihung ausgegebenen »Gedenkblätter« bringt S. in ermüdender Ausführlichkeit zur Darstellung (vgl. 135–145).

Als zweite Phase (148–268) firmiert der um den 400. Geburtstag Luthers 1883 zu verzeichnende »Denkmalboom« (148). S. berichtet nacheinander jeweils eingehend von den Aufstellungen in Kaiserslautern, Eisleben, Leipzig, Asch, Alt-Schwanenburg (Lettland), Erfurt, Eisenach und Berlin. Deren Vorbereitung, Planung und Realisierung folgte mehr oder minder einem ähnlichen Muster: von einer Vereinsgründung über ausgedehnte, meist zunehmend obrigkeitlich dominierte Ausschreibungen und Konzeptionen bis hin zu den detailreich wiedergegebenen Einweihungsfeiern. Vier Besonderheiten fallen dabei ins Auge. So hat das 1883 eingeweihte Unionsdenkmal in Kaiserslautern die Figuren von Luther und Calvin steif nebeneinandergestellt, ohne dass zwischen den beiden steinernen Reformatoren irgendeine visuelle oder symbolische Interaktion zu erkennen wäre. Im Eislebener Denkmal von 1883 identifiziert S. erstmals manifeste antikatholische Züge, die sie als Reflex auf den Bismarckschen Kulturkampf zu deuten versucht, obwohl dieser damals bereits historisch zu werden begann. Erinnerungswürdig ist das von dem Rietschel-Schüler Johannes Schilling errichtete Leipziger Denkmal von 1883, das zwischen dem sitzenden Luther und dem sich zu ihm hinabbeugenden Melanchthon ein signifikantes Bedeutungsgefälle ins Bild brachte und 1943 kriegsbedingt eingeschmolzen wurde. Als weiterer Kriegsverlust hat das ausgreifende Berliner Erinnerungsmonument von 1895 zu gelten, das, in unverkennbarer konzeptioneller Nähe zu Worms, eine pathetisch-kolossale Reformationsbühne erstellte.

Eine dritte Phase (269–350) erkennt S. in der Zeit um 1900. Jetzt verschob sich der Standort aus dem öffentlichen in den musealen und kirchlichen Raum. Das eine wird ausführlich an der Wittenberger Schlosskirche und dem Melanchthonhaus in Bretten, das andere an zahlreichen Gotteshäusern aus dem damals gesamtdeutschen Bereich demonstriert. Als Sonderfall kommt der Kirchplatz des Hamburger Michel ins Spiel, wo die Luthergestalt 1912 als schlichter »Lückenbüßer« (341) »zum bloßen Schmuck degradiert« (347) worden sei. Zweifache Beachtung findet die vielfältige, selbst in die USA ausstrahlende Rezeption der Wormser Lutherstatue Rietschels (195–213. 324–330). Und dass der Reformator nun vermehrt, auf den 31. Oktober 1517 anspielend, mit Thesenrolle und Hammer ausstaffiert wurde, möchte S. als Hinweis auf zunehmende katholisch-protestantische Verwerfungen gedeutet wissen (vgl. 336). Wenn S. festhält, um 1900 seien die Gottesdiensträume mit der Aufstellung von Lutherstatuen zugleich zu »Erinnerungsorten« und »Denkmälern« (349) geworden, so ließe sich fragen, ob dieser funktionale Diversifizierungsprozess nicht schon viel früher mit der Möblierung von Heiligenbildern und -statuen begonnen hatte.

Als vierte und letzte Phase (350–389) sieht sich das Umfeld des Reformationsjubiläums 1917 bezeichnet, das in dreifacher Gestalt »das ganz andere Lutherdenkmal« (350) realisiert habe. Zwar sind damals etliche Denkmalpläne, etwa in Nürnberg (vgl. 350–355), gescheitert. Tatsächlich präsentieren aber der Lutherbrunnen in Mansfeld (fertiggestellt 1913), die fast unbekleidete Reiterstatue auf der Veste Coburg (enthüllt 1914) und das 1917 eingeweihte Denkmal in Stuttgart jeweils ganz neuartige bildnerische Deutungsansätze. So dominiert in Stuttgart der zentral und erhaben dargestellte auferstandene Christus, dem Johannes Brenz und Luther demütig zu Füßen sitzen, der eine in kauernder Nachdenklichkeit, der andere in meditativer Seherpose.

Am Ende fasst das 4. Kapitel (390–409) die Erträge der Arbeit zusammen. Was S. dabei zum »erinnerungskulturelle[n] Lutherbild im Spiegel von Denkmälern« (390) notiert, ist durchweg plausibel und hilfreich, hätte freilich durch vergleichende Einbeziehung der im 19. Jh. vielfältig ausgebreiteten theologischen, philosophischen und literarischen Lutherdeutung noch an Tiefenschärfe gewonnen. Gleichsam als Appendix verweist das 5. Kapitel (410–415) auf die aktuellen, einstweilen nicht realisierten Versuche, den verlorenen Lutherdenkmälern in Leipzig und Berlin ein zeitgemäßes Nachfolge-Monument zu errichten.

Dass sich S., um ihr gutes, interessantes Thema kompetent zu bearbeiten, vorab der politischen, gesellschaftlichen, theologischen und medialen Geschichte Deutschlands im 19. Jh. vergewissern musste, ist selbstverständlich. Bei kundigen Lesern hätte diese Orientierung freilich ebenso selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Deshalb wäre auf das einleitende 2. Kapitel (9–79), welches »das lange 19. Jh. im Zeichen des politischen, gesellschaftlichen und kirchlich-theologischen Wandels« (9) nachzuzeichnen bestrebt ist, getrost zu verzichten gewesen, zumal hier lediglich aus den gängigen Lehr- und Standardwerken kritikfrei und zitatreich referiert wird. Zudem fallen fast nur dabei neben etlichen grammatischen Unebenheiten auch einige sachliche Schwächen ins Gewicht. So hat Luther auf der Wartburg nicht »die Bibel« (10, ähnlich 241), sondern das Neue Testament ins Deutsche übersetzt. Auch der unbedacht gebrauchte Ausdruck »der Franzose« (11) ist problematisch. Die Mitteilung, in den 1880er Jahren sei eine »gesteigerte Aggressivität gegenüber Feindbildern« (23) zu verzeichnen, lässt immerhin erahnen, was damit gemeint ist. Wenn es indessen heißt, im Verlauf des 19. Jh.s sei »im Protestantismus das stille Ergriffensein zugunsten von Unterhaltung und Inszenierung abgelöst« (71) worden, so lässt dies den Rezensenten und die Rezipienten gleichermaßen ratlos zurück.

Gleichwohl: In seinem materialen Kern ist dies ein fleißig recherchiertes, informatives, anschaulich bebildertes Buch, das unsere Kenntnis der im 19. Jh. kultivierten Luther-Memoria substantiell bereichert und vielleicht auch zu einer neuerlichen, nun gründlich informierten Studienreise nach Wittenberg, Worms oder Eisenach anregen wird.