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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

79-82

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Burkardt, Johannes

Titel/Untertitel:

Gerhard Tersteegen. Die Bernières-Louvigny-Übersetzungen.

Verlag:

Bielefeld: Luther Verlag 2023. 1120 S. = Siegener Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung, 5. Kart. EUR 29,90. ISBN 9783785808634.

Rezensent:

Frank Stückemann

Vorliegender Titel ist nicht nur aufgrund der Seitenzahl ein sperriges Buch: Johannes Burkardt, Leiter des NRW-Landesarchivs Detmold, stellt mit seiner editionsphilologischen Pionierleistung die weitgehende Selbstbeschränkung der bisherigen Pietismusforschung im deutschen Sprachraum nachhaltig in Frage. Selbst an dem bis heute unübertroffenen Standardwerk Geschichte des Pietismus, zwischen 1993 und 2004 von Friedhelm Ackva, Johannes van der Berg, Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler, Hartmut Lehmann und Martin Sallmann in vier Bänden herausgegeben, kritisiert er völlig zu Recht die einseitige Fokussierung auf den Protestantismus im deutschsprachigen Raum, in Skandinavien, in den Niederlanden und in den Vereinigten Königreichen samt Kolonien; für Parallelerscheinungen außerhalb dieser Forschungsgrenzen wie die spanische, quietistische oder chassidische Mystik sei in diesem Schema kein Raum (18 f.).

Dieser blinde Fleck der Forschung ist umso bemerkenswerter, als Jean de Bernières-Louvigny (1602–1649) und der ihm folgende französische Quietismus nicht nur auf Tersteegen einen unübersehbaren, geradezu archetypischen Einfluss ausgeübt haben. Tersteegen dürfte über den französischen Mystiker Pierre Poiret (1646–1719), dessen Bibliothek ihm zugänglich war, auf Bernières-Louvigny gestoßen sein. Auch die Übersetzung von Jean de Labadies 1668 erschienenem Traktat Manuel de Pieté, 1727 unter dem Titel Hand-Büchlein der wahren Gottseligkeit erschienen, gehört in den Zusammenhang mystischer Erbauungsliteratur (86).

Die Bernières-Louvigny-Übersetzungen Tersteegens erstreckten sich ab 1720 über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Sie erschienen 1728, 1737, 1747 und 1756 in immer wieder neu überarbeiteten Fassungen und wurden schließlich noch durch die handschriftlich überlieferten Auszüge der »geistlichen Liebes-Kerne« sowie durch die »Auszüge aus dem Leben der Seeligen Maria von der Menschwerdung« ergänzt. Die Übersetzungen quietistischer Erbauungsliteratur machen quantitativ und qualitativ einen Großteil im Werk des Mülheimer Mystikers aus. Mehr noch: für seine innerweltliche Askese und die Auffassung des Christentums als direkte Nachfolge des Herrn in der eigenen Lebenspraxis hat Bernières-Louvigny ganz offenbar Modell gestanden.

Tersteegen war nicht der Einzige, der solche Vorlieben hegte. Die ebenfalls nur marginal gewürdigte Übersetzung Fenelon’s Werke religiösen Inhalts aus der Feder des Lutheraners Matthias Claudius, ab 1800 bei Perthes erschienen und 2015 unter dem Titel Gedanken zur reinen Gottesliebe wieder aufgelegt, entstammt exakt derselben, jedoch etwas späteren Tradition des französischen Quietismus. Ausweislich der zugehörigen »Vorrede« des Übersetzers hatte Fenelon für ihn dieselbe erbauliche Vorbildfunktion wie Bernières-Louvigny für Tersteegen. Inhalte und Begrifflichkeit fanden ihren Niederschlag weniger in den dogmatischen Auffassungen der Übersetzer als vielmehr in deren Liedgut; hier verweist B. vor allem auf Tersteegens Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen von 1729 (120).

Aber auch ohne die von B. nicht erwähnte Parallele zu Claudius dürfte die weit über den Bereich des deutschsprachigen Protestantismus hinausgehende ökumenische Dimension quietistischer Mystik deutlich geworden sein. Sie spiegelt sich sowohl in etlichen früheren Übersetzungen von Bernières-Louvigny ins Deutsche und Niederländische aus katholischer Feder als auch in weiteren Übersetzungen, die durch Tersteegens Leistung in Schweden oder auch in den protestantischen Generalstaaten angestoßen wurden. Diese Art der Erbauungsliteratur war nicht nur im Katholizismus, sondern auch im reformierten und lutherischen Pietismus buchhändlerisch sehr erfolgreich und blieb es bis weit ins 19. Jh. hinein.

Man wird nicht fehlgehen, die weit verbreitete Mystik quietistischer Provenienz als ein dezidiertes Gegenprogramm des inwendigen Menschen aus sämtlichen christlichen Konfessionen zur vermeintlichen Rechtgläubigkeit der verfassten Kirchen und ihrer jeweiligen Herrschaftsstrukturen anzusehen. Von daher erklärt sich die vor allem durch Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) betriebene Indizierung der Werke von Bernières-Louvigny in den Jahren 1689 und 1692 wie auch die Ablehnung dieses und ähnlichen mystischen Schrifttums durch die protestantische Orthodoxie und Aufklärung. Hierbei spielten sicherlich auch Zentralisierungs- und Normierungstendenzen im Absolutismus eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Vor allem aufgrund französischer Forschungsergebnisse vermag B. die Biographie von Bernières-Louvigny detailliert und kompakt vorzustellen. Dieser hohe Finanzbeamte aus Caen erlebte den ökonomischen und kulturellen Niedergang seiner Heimatstadt aus unmittelbarer Nähe und kannte als Teil der absolutistischen Administration und ihrer Missgriffe die Gründe hierfür aus erster Hand. Der militärischen Niederschlagung von Arbeiteraufständen und der Unterdrückung der reformierten Konfession setzte er das karitative Engagement des frühen Quietismus entgegen, dessen organisatorisches und erbauungsliterarisches Programm sich zunächst im Rahmen der 1644 gegründeten Compagnie du Saint-Sacrement in Caen und sodann in dem 1646 bis 1649 errichteten geistlichen Zentrum der »Ermitage« mitten in der Stadt manifestierte. Das dazugehörige Schrifttum von Bernières-Louvigny sollte erst posthum unter den Titeln L’Intérieur Chrétien bzw. Le Chrétien intérieur ou la conformité intérireure und Œuvres spirituelles veröffentlicht werden.

Die »Ermitage« war sicherlich ein Ort der geistlichen Einkehr mit engen Verbindungen zum franziskanischen Mönchtum, aber beileibe kein Refugium kontemplativer Weltentrücktheit. Im Vordergrund standen vielmehr die Armenpflege an dem durch Landflucht verstärkten Lumpenproletariat der Stadt, die Organisation der katholischen Kanada-Mission in »Nouvelle Acardie« am Sankt-Lorenz-Strom und – ähnlich wie bei Franz von Sales – die Wiedergewinnung der Hugenotten durch ein weitgehend entdogmatisiertes, durch die Mystik der tätigen Nachfolge Christi geprägtes Religions- und Bildungsprogramm.

Entsprechend handelt es sich bei den Schriften von Bernières-Louvigny nicht um gelehrte theologische Abhandlungen von dogmatisch-orthodoxer Standpunktfreude, sondern um dezidiert seelsorgerliche Korrespondenz. Zu diesem Netzwerk gehörten u. a. Marie des Vallées (1590–1656), Jean-Chrysostomos de Saint-Lo (1594–1644), Jean Eudes (1601–1680), Gaston de Renty (1611–1649), Jacques Bertot (1622–1681), Henry Marie Boudon (1624–1702), Pierre Poiret (1746–1719), Jeanne-Marie de Guyon (1648–1717) und François de Fenelon (1651–1715).

Bereits kurz nach dem Ableben von Bernières-Louvigny wurde dessen Korrespondenz durch den Kapuziner Louis-François d’Argentan (1615–1680) und sodann durch den Ordensmann Robert de Saint-Gilles (gest. 1673) gesammelt und in mehr oder weniger stark redigierter Form herausgegeben. Diesem Bearbeitungsprozess schließt sich, wie B. an diversen Textbeispielen nachweist, auch Tersteegen als Übersetzer an; dabei ging es ihm sehr viel weniger um editionsphilologische als vielmehr um erbauliche Gesichtspunkte. Nach B. »wird die spröde und abgehärmte Theologie und Lebensweise des normannischen Frommen für ein deutsches, evangelisches, vor allem aber pietistisch sozialisiertes Leserpublikum gefiltert und präsentabel gemacht« (122). So folgt denn die vorliegende Edition der vierten Ausgabe von Tersteegens Übersetzung letzter Hand.

Besagte Art der erbaulichen Redaktion fand im späteren Pietismus weite Verbreitung, so auch bei Tersteegens posthum edierter Korrespondenz Gottesfürchtige und erbauliche Briefe über verschiedene Gegenstände, die das innere Leben oder die fortwährende Ausübung des Christenthums betreffen. Die sprachliche Nähe zu dem von Tersteegen übersetzten Titel Le Chrétien intérieur ou la conformité intérireure von Bernières-Louvigny ist auch hier mit Händen zu greifen, gleiches gilt für die dahinterstehende seelsorgerliche Grundhaltung und die mystische Auffassung der Christusnachfolge in karitativer Hingabe. Trotz deutlicher Kritik an ihren jeweiligen Kirchen und ihren Institutionen separierten sich Bernières-Louvigny und Tersteegen nicht von diesen. Dabei erstaunt, dass der reformierte Mystiker aus Mülheim die schroffe Ablehnung von Kunst und Musik bei seinem französischen Vorbild keineswegs teilt (103).

Mit seiner ebenso voluminösen wie inhaltlich gewichtigen Textausgabe ist es B. in philologisch einwandfreier Weise gelungen, eine zentrale Quelle für das Selbstverständnis von Gerhard Tersteegen zugänglich zu machen. Dieses war, so muss abschließend konstatiert werden, dezidiert pastoraltheologisch geprägt gewesen und sehr viel weniger dogmatisch als in der bisherigen Forschung angenommen. Damit öffnet B. einen bislang weitgehend ignorierten Zugang zur Erbauungsliteratur nicht nur des Pietismus, sondern auch anderer Konfessionen und Frömmigkeitsrichtungen. Sie ist nur aus ihren jeweiligen Quellen und Denkvoraussetzungen zu verstehen und kann nicht länger unter der bisherigen sprachlich sowie konfessionell limitierten Forschungsperspektive betrachtet bzw. als Materialsammlung für spätere theologische Positionen zweckentfremdet werden.

Den Orthodoxien sämtlicher Denominationen stellt B. hier exemplarisch die Paradoxie mystischer Erbauungsliteratur gegenüber, die in ihrem seelsorgerischen Interesse, in ihrer ökumenischen Weite und in ihrer lebenspraktischen Ausrichtung eine veritable Alternative zum weitgehend dumm gewordenen Salz der Erde bietet – damals wie heute. Wie gesagt: ein wohltuend sperriges und daher überaus lesenswertes Buch.