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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

70-72

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Grazianskij, Michail

Titel/Untertitel:

Kaiser Justinian und das Erbe des Konzils von Chalkedon.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021. 317 S. = Altertumswissenschaftliches Kolloquium, 30. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783515088428.

Rezensent:

Mischa Meier

Das hier anzuzeigende Buch geht auf eine Dissertation zurück, die im Wintersemester 2005/06 am Graduiertenkolleg »Leitbilder der Spätantike« in Jena entstanden ist, danach mehrfach überarbeitet wurde und 2016 in russischer Sprache erschien. Der vorliegende Text entstand auf Basis der ursprünglichen Fassung, die um Teile der russischsprachigen Monographie ergänzt und um neuere Literatur erweitert wurde. Der verschlungene Entstehungsprozess hat der Arbeit nicht gutgetan.

Ziel der Untersuchung ist, »die Religionspolitik des Kaisers Justinian gegenüber der antichalkedonischen Bewegung in ihrer Gesamtheit auszuwerten und deren Auswirkungen auf die spätere Entwicklung der Beziehungen zwischen den Pro- und Antichalkedoniern zu verfolgen« (12). Dabei geht Michail Grazianskij von der Prämisse aus, dass Justinian, theologisch hochgebildet, stets um Einigung bemüht und seine Religionspolitik von Kompromissangeboten und Rücksichtnahme gegenüber antichalkedonisch-miaphysitischen Gruppen im Osten geprägt war (vgl. 14). Eine gewisse Bewunderung gegenüber dem zentralen Akteur seiner Ar­beit kann G. dabei nicht verhehlen, wenn er etwa vom »Zeitalter Justinians des Großen« spricht (19) oder einleitend festhält:

»Dieser [Justinian, M. M.] hat Oktavians Werk in der Entwicklung des römischen Rechts, Diokletians Werk als Reformer der Zivilverwaltung und das Werk von Konstantin und Theodosios als Kirchengestalter abgeschlossen. Er war Friedensstifter und Eroberer, der einem Trajan nicht nachstand, und ein Gesetzgeber, dessen Name dem Begriff ›Gesetz‹ für die römische Zeit gleichsteht. Somit beansprucht die Person Justinians, Inbegriff und Verkörperung des römischen Geistes für alle Epochen des römischen Kaiserreiches zu sein.« (11)

Drei längere Kapitel haben eher hinführenden Charakter. Zunächst arbeitet ein ausführlicher »Abriss der Forschungsgeschichte« (19–68) systematisch wichtige Arbeiten zur Religions- und Kirchenpolitik Justinians seit ca. 1900 auf. Dabei geht G. nicht zuletzt mit Eduard Schwartz hart ins Gericht, dem er – sicherlich zu Recht – »eine Reihe von kategorischen Urteilen« (28), dann aber auch einen »grundsätzliche[n] Fehler« (30) vorhält. Ob Unterschiede in der historischen Bewertung mit Kategorien wie »Fehler« zu vermessen sind, halte ich indes für fraglich. Mitunter erliegt Grazianskij auch Missverständnissen. So habe ich in meiner Justinian-Studie aus dem Jahr 2003 nicht behauptet, »Justinian sollte also nicht davor zurückschrecken, die Kirche und das Reich in eine dauerhafte kirchenpolitische Krise zwischen Ost und West hineinzustürzen, um seine Eitelkeit zu befriedigen« (48). Vielmehr ging es mir darum, (u. a. in Auseinandersetzung mit dem seit Schwartz vielfach bemühten Diktum vom »Zickzack-Kurs«) eine konsequente Linie in der kaiserlichen Religionspolitik aufzuzeigen. Mit der jüngsten thematisch einschlägigen Monographie, die P. Brimioulle im Jahr 2020 zum Konzil von Konstantinopel 536 vorgelegt hat, mag G. sich hingegen nicht auseinandersetzen, weil dort seine Dissertation nicht berücksichtigt worden sei (vgl. 67 f.: »[…] würdigt […] meine Dissertation nur eines Hinweises und kritisiert mich in einem unbedeutenden Punkt. […] Daher fühle ich mich dazu berechtigt, auf die Präsentation von Brimioulles Behandlung der einzelnen Fragen und seiner Ergebnisse zu verzichten und mich mit der Anmerkung zu begnügen, dass sie mit meinen früheren und jetzigen Resultaten weitgehend übereinstimmen«). Es folgt ein Abriss der kirchenpolitischen Entwicklungen vom Ende des Konzils von Chalkedon 451 bis zum Beginn des Vitalian-Aufstandes 513 (69–118), der sich im Wesentlichen auf Ereignisgeschichte beschränkt. »Die Vorbereitung der prochalkedonischen Wende« ist Gegenstand des letzten hinführenden Abschnitts (119–148), in dem die Grundlagen für die nachfolgenden Überlegungen gelegt werden (vgl. etwa 147: »Justinian, der scheinbar ein ziemlich friedfertiger Mensch war, schwebte selbstverständlich zunächst ein Kompromiss vor«) und eine Periodisierung angeboten wird, auf der die anschließenden Kapitel beruhen (147 f.). Bereits dieser Abschnitt verweist indes auf einen wesentlichen Schwachpunkt der Arbeit: die fehlende Berücksichtigung jüngerer Forschungsliteratur. So hätte man in den Passagen zu Anastasios eine Heranziehung der Monographie von F. Haarer (2006) erwarten dürfen.

Der eigentliche Hauptteil der Arbeit beginnt mit einem Kapitel zur »Rolle Theodoras in der Religionspolitik Justinians« (149–168). G. betont zunächst die Selbständigkeit der Augusta, um dann abzuwägen und – in Übereinstimmung mit der jüngeren Forschung – herauszuarbeiten, dass diese »bei allen äußerlichen Abweichungen letzten Endes doch im Sinne der Politik Justinians agierte, jedenfalls immer mit seinem Wissen« (166). Dass auch im Forschungsüberblick, der das Kapitel eröffnet, neben anderem die Theodora-Monographie von H.-G. Beck (1986) und der einschlägige Aufsatz von H. Leppin (2002) nicht berücksichtigt wurden, überrascht allerdings.

»Die Religionspolitik Justinians in den Jahren 532–536« (169–194) ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels, das vom Religionsgespräch 532 ausgeht, mit dem G. »die Grundlage der kaiserlichen Politik für die folgenden zwanzig Jahre« gelegt sieht (170). Interessant ist die Bewertung des Anthimos, der als überzeugter Agent des kaiserlichen Kurses gezeichnet wird: »Anthimos scheint seinen Standpunkt derart aufrichtig verfochten zu haben, unter großer Selbstaufopferung und zum Teil auch mit einer bestimmten Rücksichtslosigkeit, dass man ihn, sei es auch mit Vorbehalt, einen der wichtigsten Autoren des justinianischen Versöhnungsprogramms nennen darf.« (190)

Den Weg in den Dreikapitelstreit zeichnet G. in einem ausführlichen Kapitel nach (195–251), das den Anfängen der Kyrill-Rezeption des Kaisers nachgeht, Übereinstimmungen zwischen theologischen Positionen Justinians und des Severos von Antiocheia offenlegt und plausibel nachzeichnet, wie sich daraus eine Verurteilung der Drei Kapitel ergeben musste. In der Silverius-Affäre sieht G. Justinian als treibende Kraft, mit dem Ziel, »einen dem Kaiser gefügigen Papst mit Blick auf weitere Schritte auf dem Weg zur Union mit den Antichalkedoniern einzusetzen« (210). Ausführlich werden die Missionsunternehmungen der 540er Jahre betrachtet; auch hier versucht der Autor, die Initiative weniger bei Theodora als bei Justinian festzumachen: Es sei »legitim anzunehmen, dass die Maßnahmen, und zwar die Entsendung des Johannes nach Kleinasien, des Julianos nach Nubien und des Jakob Baradai zu den Gassaniden, eher eine koordinierte Aktion des Kaisers war« (226). Insbesondere Johannes von Ephesos habe stets im Einklang mit Kaiser und Reichskirche agiert (244).

Seltsam kurz erscheint das Kapitel über den Dreikapitelstreit (252–269), in dem G. – m. E. zu Recht – die in den Quellen betonte Urheberschaft des Theodoros Askidas infragestellt und – m. E. zu holzschnittartig – von einer Rückkehr zu Verhältnissen spricht, »die für die Henotikon-Politik des Zeno charakteristisch waren« (268).

Die letzten Jahre Justinians (553–565) stehen im Zentrum des abschließenden Kapitels, in dem G. selbst den sogenannten Aphthartodoketismus des Kaisers, ein »bis heute ungelöstes Problem« (279), für seine übergreifende These eines Versöhnungsprogramms fruchtbar zu machen sucht.

Dass Justinian »sich ernsthaft bemühte, die theologische Wahrheit zu erschließen« (292), wird in der Zusammenfassung (288–293) hervorgehoben, die ansonsten noch einmal nachdrücklich auf die »Idee der Versöhnung« (291) verweist.

Der Mehrwert von G.s Buch liegt in der intensiven Analyse des Quellenmaterials, die verschiedentlich interessante und erwägenswerte Aspekte zutage fördert. Diese hätten sich freilich noch schärfer konturieren lassen, wenn das Buch sich auf dem aktuellen Stand der Forschung bewegen würde und G. nicht wichtige Arbeiten der jüngeren Zeit außer Acht gelassen hätte. Zudem vermisst man eine Einbettung der Religions- und Kirchenpolitik in den Kontext der allgemeinen Politik des Kaisers. Die Vorstellung, Justinian habe über seine gesamte Herrschaft hin an einem Kompromiss mit den Antichalkedoniern gearbeitet, erscheint sowohl als Prämisse wie als Ergebnis der Untersuchung, wie denn überhaupt methodische und konzeptionelle Schwächen auffallen. G. ist sehr schnell mit scharfen Kategorisierungen (»Ägypten, das Herkunftsland der antichalkedonischen Doktrin«, 164), wodurch mitunter notwendige Differenzierungen verloren gehen. Zentrale Kategorien wie »Ideologie« werden verwendet, ohne sie zu erklären (vgl. 153 zu Theodora). Und kann man überhaupt von einer »Religionspolitik« Theodoras sprechen? Hier hätte man sich nuanciertere Abwägungen gewünscht.