Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

63-66

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd u. Annette Merz

Titel/Untertitel:

Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht. Ein Lehrbuch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (UTB) 2023. 592 S., 58 Tab. Kart. EUR 35,00. ISBN 9783825261085.

Rezensent:

Jens Schröter

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine grundlegende Neubearbeitung des 1996 von Gerd Theißen und Annette Merz im selben Verlag publizierten Lehrbuchs »Der historische Jesus«, das seinerseits vier Auflagen erlebt hatte. Im Vorwort wird betont, dass daraus »ein neues Buch geworden« ist. Die Anlage ist zwar im Wesentlichen gleichgeblieben, einige Veränderungen sind gleichwohl zu konstatieren (dazu gleich mehr). Vor allem aber wurde das Buch insgesamt im Horizont der »erinnerungshermeneutischen Wende« überarbeitet. Der Charakter eines Lehrbuchs, das sich an Lehrende und Studierende der Theologie gleichermaßen richtet, wurde dabei bewahrt. Durchgehend weggefallen sind allerdings die im Vorläufer zahlreich vorhandenen Arbeitsaufgaben. Gewidmet ist das Buch Christoph Burchard, einem langjährigen Kollegen von Theißen an der Heidelberger Theologischen Fakultät, der 2020 verstorben ist.

Die Neubearbeitung zielt darauf ab, die in den zurückliegenden ca. 25 Jahren entwickelte »Erinnerungsperspektive« mit der historischen Fragestellung zu verbinden. Damit wird ein zentrales Anliegen der erinnerungshermeneutischen Sicht aufgenommen. Dieser ging und geht es – jedenfalls in der Form, in der sie in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in die Jesusforschung eingebracht und seither weiterentwickelt wurde – um eine methodisch-hermeneutische Reflexion der historisch-kritischen Jesusforschung. Es soll in die historische Fragestellung einbezogen werden, dass Quellen vergangene Wirklichkeit im Medium ihrer Rezeption bzw. Interpretation zu erkennen geben und diejenigen, die die Vergangenheit aus späterer Perspektive rekonstruieren, selbst Teil dieses Rezeptions- und Interpretationsprozesses sind. Die Deutung des Wirkens und Geschicks Jesu gehört deshalb von Beginn an zur Darstellung seiner Person hinzu und kann von dieser nicht getrennt werden. Der Erinnerungsperspektive geht es demnach – jedenfalls in der auch von Theißen und Merz vertretenen Form – weder darum, durch »authentische« Erinnerungen von Augenzeugen einen Zugang zum historischen Jesus zu bahnen, noch darum, historisch-kritische Arbeit an den Quellen hermeneutisch zu überblenden. Vielmehr soll der Prozess, in dem aus Ereignissen Geschichte wird, reflektiert und in die historische Arbeit integriert werden.

Paragraph 1, »Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«, beginnt, wie auch im Vorgängerbuch, mit Hermann Samuel Reimarus, die Aufteilung in fünf Phasen der Leben-Jesu-Forschung wurde allerdings aufgegeben. Dafür findet sich im Anschluss an die Darstellung der »third quest of the historical Jesus« als neuer Abschnitt: »Der ›erinnerte‹ Jesus als kognitiver Ansatz« (24–27). Hier werden, ausgehend von Jan Assmanns Publikation »Das kulturelle Gedächtnis« von 1996, von der die erinnerungshermeneutische Wende in der Jesusforschung maßgebliche Impulse empfangen hat, Ansätze dieses Zugangs dargestellt (Schröter, Dunn, Allison). Als Merkmal wird herausgestellt, dass die »erinnerungshistorische Suche nach Jesus […] weniger nach textexternen realen und sozialen Konstrukten sucht, sondern nach kognitiven Strukturen in den Texten und ihrer Eigendynamik«. Damit sei sie eingebettet in eine allgemeine »kognitive Wende« in den Geisteswissenschaften.

Der erste Teil, »Die Quellen und ihre Auswertung«, beginnt mit den nichtchristlichen Quellen (nicht mehr, wie noch im Vorgänger, mit den christlichen). Diese werden unterteilt, auch das eine Neuerung, in jüdische (Josephus und rabbinische Texte), römische (Plinius, Tacitus, Sueton) sowie nicht-römische Zeugnisse (Lukian, Mara bar Sarapion, Galen, Kelsos). Bei den christlichen Quellen wird die Gleichwertigkeit kanonischer und außerkanonischer Quellen betont. Hinzugekommen ist ein Abschnitt »Mündliche Jesusüberlieferung«, der den formgeschichtlichen Ansatz der Suche nach typischen Verwendungssituationen von Jesusüberlieferungen mit der neueren Mündlichkeitsforschung vermittelt. Die Ausführungen zu den apokryphen Texten sind durchgehend im Horizont der aktuellen Forschung überarbeitet worden. Papyrus Egerton 2, Papyrus Oxyrhynchus 840 und das Petrusevangelium werden zu einem neuen Abschnitt »Synoptisch geprägte apokryphe Evangelienfragmente« zusammengestellt. Als weitere apokryphe Evangelien werden das Thomasevangelium, »gnostische Dialogevangelien«, »apokryphe judenchristliche Evangelien« sowie in einem Exkurs »Evangeliennovellen von Geburt und Kindheit« vorgestellt. In der Auswertung zu diesem Teil (97–113) werden statt »Dreizehn Einwänden historischer Skepsis« nunmehr »Vierzehn Argumente historischer Skepsis« diskutiert, die sich gegen die historisch-kritische Jesusforschung vorbringen ließen. Dabei wurde nicht einfach ein weiterer Einwand ergänzt, vielmehr wurde dieser Teil im Horizont der neueren Diskussion grundlegend überarbeitet. So ist etwa aus dem »mythischen Christus der Paulusbriefe« nunmehr »Das minimalistische Jesusbild der Paulusbriefe« als möglicher Einwand gegen die historische Jesusforschung geworden etc. Der Teil hat dadurch an Profil deutlich gewonnen. An den »Kriterien« der Jesusforschung halten die Autoren fest, reflektieren sie aber im Horizont des erinnerungshermeneutischen Zugangs. Zu denen der »historischen Wirkungsplausibilität« und »historischen Kontextplausibilität« tritt dabei dasjenige der »historischen Gestaltplausibilität«. Es besagt, dass sich »Erinnerungsmuster« der Person Jesu oft eindeutiger zuordnen lassen als einzelne Elemente. An einer früheren Stelle wird das als »milieuauthentisch«, »persontypisch« und »tendenzwidrig« beschrieben (26).

Der zweite Teil heißt »Der Rahmen der Geschichte Jesu« und behandelt das Judentum zur Zeit Jesu sowie den chronologischen, geographischen und sozialen Kontext seines Wirkens. Neu gegenüber dem Vorgänger ist, dass auch das Wirken Johannes des Täufers in diesen Teil eingeordnet wird. Jesus wird, wie auch im Vorgänger, in eine »Kette innerjüdischer Erneuerungsbewegungen« eingeordnet, die sich angesichts des Drucks der hellenistischen Kultur um die Bewahrung und Erneuerung des Judentums bemüht hätten. Man könnte fragen, ob das jüdisch geprägte Galiläa, dessen Wirtschaft unter Antipas aufblühte und das nicht römisch besetzt war, tatsächlich den Nährboden für eine solche antihellenistische Erneuerungsbewegung geliefert hätte. Diese Diskussion, die vor allem angesichts archäologischer Funde seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Galiläaforschung intensiv geführt wird und zu einem anderen Bild Galiläas zur Zeit Jesu geführt hat, kommt hier nicht vor. Sie hätte diesen Teil etwas differenzierter erscheinen lassen und womöglich zu einer anderen Einschätzung des sozialen und politischen Kontextes Jesu führen können.

Der dritte Teil behandelt »Das Wirken und die Verkündigung Jesu«. Abfolge und Bezeichnung der Paragraphen (Jesus als Charismatiker – als Prophet – als Heiler – als Dichter – als Lehrer) sind dabei die gleichen wie im vorausgehenden Lehrbuch. Neu ist Paragraph 14: »Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein«. Hier wird diskutiert, inwiefern das Wirken Jesu zur Entstehung der Christologie bzw. des christlichen Glaubens geführt oder zumindest dazu beigetragen hat. (Im Vorgängerbuch war dies in einem Schlussparagraphen »Der historische Jesus und die Anfänge der Christologie« behandelt worden.) Es wird ein Überblick über die Diskussion von Reimarus über Wrede, Bousset, Bultmann und Käsemann hin zu dem ganz anders gelagerten Ansatz Hengels und schließlich zu erinnerungshistorischen Aspekten (Allison) gegeben. Ein möglicher Ansatz zur Ausbildung der Christologie wird vor allem im Gebrauch des Ausdrucks »Menschensohn« durch Jesus gesehen, aber auch in dem Anspruch, den er durch sein Wirken geltend machte, ohne dabei eine bestimmte Hoheitsbezeichnung zu gebrauchen. Wichtig sei auch, dass Jesus von seinen Anhängern und Sympathisanten vermutlich schon zu Lebzeiten eine exklusive Rolle als Repräsentant Gottes zugeschrieben wurde. Schließlich sei auf die »implizite Christologie«, also das Geschichts- und Gottesverständnis Jesu, zu achten, das sich in verschiedenen Facetten seines Wirkens, etwa seiner Lehre, seinen machtvollen Taten und seinem Anspruch, Sünden zu vergeben, ausdrückt. Es folgt ein längerer Teil zu den Hoheitsbezeichnungen und ihren Wurzeln in jüdischer Überlieferung.

Der vierte Teil heißt »Passion und Ostern«. Zunächst werden die historischen Abläufe der Passionsereignisse rekonstruiert, in den beiden anschließenden Paragraphen geht es um die Diskussion über die Deutung der Ostertexte (»Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung«) sowie die Transformationsprozesse vom Wirken Jesu zur Entstehung des Christusglaubens (»Vom historischen Jesus zum Christusglauben« – präziser wäre: »Vom irdischen Jesus …«).

Der letzte Paragraph: »Wer war Jesus? Eine Zusammenfassung«, lässt die verschiedenen Facetten, unter denen zuvor auf die Person Jesu geblickt wurde, noch einmal Revue passieren. Er beginnt mit dem Satz »Wir stoßen in unseren Texten nie direkt auf den historischen Jesus, sondern immer nur auf Erinnerungsspuren von ihm, die wir zu Erinnerungsmustern zusammenfügen können.« (542) Diese hermeneutische Perspektive zieht sich durch das Buch und macht es zu einem lesenswerten und zur Auseinandersetzung herausfordernden Entwurf. Nach über einem Vierteljahrhundert Jesusforschung mit zahlreichen Publikationen, darunter auch Überblicksdarstellungen und Handbüchern, ein Lehrbuch auf den aktuellen Stand der Diskussion zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen. Das ist Theißen und Merz hervorragend gelungen und nötigt hohen Respekt ab. Das Buch bietet damit, ganz im Sinn der eingangs erklärten Absicht, Lehrenden und Studierenden der Theologie einen informativen, hermeneutisch reflektierten Zugang zur Diskussion über Jesus als historische Person und Initiator des christlichen Glaubens auf dem aktuellen Forschungsstand.