Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

44-46

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ricius, Paulus

Titel/Untertitel:

Schriften zur christlichen Kabbala. Sal foederis (1507/1511/1514/1541). Kritisch hgg. u. übers. v. Frank Böhling. Mit einer Einleitung versehen v. Frank Böhling u. Wilhelm Schmidt-Biggemann.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2022. LIV, 378 S. = Clavis Pansophiae, 11,1. Lw. EUR 84,00. ISBN 9783772828515.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Das Werk des etwa um 1480 in Trient geborenen und wahrscheinlich um 1506 getauften Juden Paulus Ricius (genannt auch Riccius, Ritius, italienisch Paolo Ricci oder in deutscher Sprache Ritz) ist bibliographisch nicht leicht zu erfassen: Es wurde zu Lebzeiten des Autors in unterschiedlichen Auflagen gedruckt (1507 und 1511 im lombardischen Pavia, 1514 und 1515 in Augsburg, hinzu kommt eine stärkere Umarbeitung für die Ausgabe letzter Hand der Werke des Autors, die 1541 unter dem Titel Über den himmlischen Landbau erschien). Die besprochene Edition legt den Erstdruck zugrunde (mit entsprechender Paginierung am Seitenrand), arbeitet »aber eindeutige Korrekturen und geringfügige stilistische Verbesserungen von 1511« ein. Die Abweichungen der Augsburger Ausgaben erscheinen »in der Regel« im Apparat (XXXVII f.).

In den frühen Ausgaben war der Titel – »Salz des Bundes« ist eine Allusion auf Lev 2,13 – auf dem Titelblatt nur in einer etwas verspielten Form zu erkennen. Ein Zeitgenosse nannte das Buch vielleicht deswegen einfach De Christiana veritate libellum (306). Wollte er mit diesem Titel die apologetische Absicht des Autors kennzeichnen? Handelt es sich überhaupt um ein in engerem Sinn kabbalistisches Werk? Für die nach Plan in den kommenden Jahren vorgesehenen weiteren Teilbände der Clavis Pansophiae-Reihe – Riccis Isagoge in Cabalistarum eruditionem aus den Jahren 1515/1541 (Band 11/2) und Riccis 1516/1541 unter dem Titel Portae Lucis erschienene lateinische Übersetzung eines der Hauptwerke des spanischen Kabbalisten Josef Gikatilla Sha’are Ora (Band 11/3) – ist diese Frage mutmaßlich leichter zu beantworten. Im vorliegenden Band wecken aber bereits viele Zitate aus der griechischen Philosophie, dem Talmud und den Schriften des Maimonides Zweifel am kabbalistischen Charakter der Ausarbeitung. Überhaupt stimmt die Definition der Kabbala, die der Autor vorauszusetzen scheint, nicht mit dem überein, was heutige Leser sich in der Regel unter »jüdischer Mystik« vorstellen: Im ersten Trakat des Buches wird die Vorstellung von der Rebellion der Engel, die Ricci dem spätantiken Midrasch Pirqe de Rabbi Elieser entnimmt, kurzerhand für »kabbalistisch« erklärt (23). Wenige Seiten später folgt unter der Überschrift »Quod cabalistice fides insinuat« eine als »kabbalistisch« bezeichnete Erörterung des Glaubensbegriffs, die dem Autor zufolge aber bei dem Kirchenvater Hieronymus und im Neuen Testament zu finden ist (29). Man muss sich für die Zeit der Renaissance und des Humanismus, in der die meisten Texte der jüdischen Tradition noch ungedruckt waren, immer wieder klarmachen, dass selbst belesene Autoren wie Paulus Ricius und Johannes Reuchlin weder präzise noch gefestigte Vorstellungen von dem hatten, was eigentlich »Talmud« und »Kabbala« heißt.

Dass die Gattung dieses Textes etwas schwer zu fassen ist, bestätigt bereits das ausführliche Inhaltsverzeichnis, das Ricius seinem ansonsten auch gut gegliederten Werk vorangestellt hat. Im ersten Traktat geht es um den »Unglauben der Juden« und die historischen und sachlichen Gründe für ihn: zunächst die jüdische »Blindheit« aufgrund der Gier und des Fanatismus der Pharisäer, später die profunditas rei cognoscendae (was die Juden hätten erkennen sollen, war ihnen zu tief verborgen), schließlich ihre allgemeine imbecillitas cognoscentis. Dieser Erkenntnisschwäche stellt Riccius etwas überraschend dialektisch den Reichtum der talmudischen Überlieferung gegenüber: »Jeder, der billig urteilt, wird mit Recht zugeben, dass dieses Werk ein Füllhorn natürlichen wie göttlichen, politischen wie rechtlichen Wissens ist« (27).

Der zweite Traktat dient dem Nachweis, dass der jüdische und der christliche Glaube übereinstimmen. Ricius legt hier dar, dass Christen die Grundlehren des Tora-Gesetzes billigten und dass das Annehmen dieser Gebote zum Heil führe. Auch die Hauptlehren von Juden und Christen (der grundsätzliche Glaube an das Kommen des Messias, die Lehre vom Endgericht, der Glaube daran, dass die »Tora vom Himmel« her offenbart worden sei, auch die Gebetspraxis) stimmten überein. Selbst die Vorstellung, dass der Messias von einer Jungfrau geboren wurde oder künftig geboren werden muss, vermag Ricius mit Vernunftgründen und »naturwissenschaftlichen« Beobachtungen für Juden zu plausibilisieren: »Kein Gesetzesprinzip [nihil igitur legis radicum] steht dieser Lehrmeinung entgegen, und auch keine Vernunft hat hier Einwände.« (115)

Im dritten Traktat, unter der Überschrift »Nur der Glaube an Christus macht selig«, werden die rationalistischen Überlegungen zum Heilsgeschehen weiter untermauert. »Die Vernunft sagt uns, dass Christus von einer Jungfrau geboren wurde. […] Deshalb war es ein Erfordernis der Vernunft, dass Christus leiden musste.« (139) Originell ist die Behauptung, dass das Alte Testament von der Trinitätslehre und der Inkarnation einstweilen schwieg, um das alte Israel vor dem Irrtum des Götzendienstes zu schützen (149). Der vierte Traktat, in der editio princeps eine Kompilation von Überlegungen zum aristotelisch-galenischen Begriff des Wissens, die im Grunde ohne kabbalistisches Gedankengut auskommt, ist in den beiden folgenden Auflagen weggefallen. Stattdessen steht hier ein Verweis auf Riccis »kabbalistische Einleitung« (d. h. den bei fromman holzboog in Vorbereitung befindlichen Teilband 11/2). Wollte Ricci, so die Frage der Herausgeber Böhling und Schmidt-Biggemann, »in der aufgeheizten Stimmung des Reuchlinstreits vermeiden, durch die Publikation christlicher Apologetik zusammen mit kabbalistischen Schriften den antijudaistischen Gegnern der christlichen Kabbala […] zusätzliche Munition zu liefern?« (XXII). Die dritte Auflage des Buches von 1515 enthielt dann einen Neu-Abdruck dieser »Einführung in die Literatur der Kabbalisten«, auf die zuvor nur verwiesen worden war (und auf deren Lektüre die Leser der Clavis Pansophiae-Reihe noch warten müssen).

Die grundlegende Neubearbeitung der ersten drei Traktate des Textes von 1541, im hier vorgelegten Band im zweiten Teil angefügt, stand dann unter dem Zeichen der fortschreitenden Desillusionierung des Autors: Es war Ricius nicht gelungen, Juden und Christen mit Hilfe der Kabbala zu versöhnen; dem standen nicht nur die antijüdischen Tendenzen der Reformation entgegen, auch mit dem altgläubigen Theologen Johann Eck war Ricius in heftigen Streit verwickelt, in dem der Konvertit zeitweise einen schweren Stand hatte (XXXII). Dennoch konnte Ricius seinen späten Text versöhnlich beenden: »Wenn das alles ordentlich berücksichtigt wird, folgt daraus ganz klar, dass jeder, der an Christus glaubt, alle jüdischen Glaubenslehren annimmt und bekennt, und dass deshalb gemäß den Lehren des Talmud jeder, der sich christlicher Frömmigkeit widmet, ein wahrer Israelit ist und einen Anteil am künftigen Leben hat.« (299)

Die komplizierte Editionsgeschichte des Textes, ein Spiegelbild der verwickelten jüdisch-christlichen Beziehungen des 16. Jh.s, lässt die editorischen Entscheidungen des Herausgebers und Übersetzers angemessen erscheinen; unter editionspragmatischen Gesichtspunkten ist auch die Aufnahme von Sal foederis in die »Schriften zur christlichen Kabbala« zu rechtfertigen, obgleich man diesbezüglich sachliche Fragen stellen kann.

In judaistischer Perspektive mangelhaft sind aber die Nachweise der Zitate und Anspielungen aus der jüdischen Traditionsliteratur. Einige Beispiele: 1. Warum kommt der mittelalterliche Bibelkommentator Raschi, hier etwas gespreizt »R. Šlomo« genannt (267), einmal in deutscher, ein anderes Mal in englischer Sprache zu Wort (343 und 350)? 2. Verweise auf Talmudtexte bleiben enigmatisch (der in der Übersetzung in Anführungszeichen gesetzte Beleg bSan 56a [91] war nicht verifizierbar; etwas witzig ist die Angabe »Joma [Jom Kippur] 69b«, 342). 3. Die Targume (Chaldaica translatio) werden (unabhängig davon, um welchen Text aus der in sich doch vielfältigen Gattung der Targume es sich handelt) aramäische »Paraphrase« (55) genannt. Wird damit nicht ein modernes Urteil (»Übertragung – keine Übersetzung«) auf Ricius, der doch translatio schreibt, zurückprojiziert? Angesichts des Durcheinanders hebräischer Buchstaben auf Seite 338 fragt man sich auch, ob die kritische Überprüfung durch einen Sprachkundigen sich nicht gelohnt hätte.

Eine letzte Beobachtung: Das von Ricius dem Talmud zugeschriebene Zitat, man solle »dem [jüdischen] Richter oder Weisen gehorchen, auch wenn er sagt, rechts sei links, links sei rechts, Lüge sei Wahrheit und Wahrheit sei Lüge« (85 und 329), hat der Autor vielleicht nicht (wie der Bearbeiter vermutet) im Midrasch Sifre Deuteronomium, sondern im leichter zugänglichen Raschi-Kommentar zu Dtn 17,11 gefunden. In Sal foederis soll dieser (gewiss missverständliche!) Satz die Flexibilität des Mosegesetzes in rabbinischer Interpretation nachweisen: Ricius geht es um die Vereinbarkeit von jüdischer und christlicher Religionspraxis in nachbiblischer Zeit. Doch wurde das Zitat später in ganz anderen Kontexten diskutiert. Der Genueser Kartäuser Purchetus de Salvaticis nahm Raschis Erklärung zu Dtn 17,11 in seine antijüdische Schrift Victoria adversus impios Hebraeos auf. Diese wurde 1520/21 in Paris gedruckt und kam in den Besitz Martin Luthers. In seiner judenfeindlichen Schrift Vom Schem Ha-Mephorasch und vom Geschlecht Christi (1543) diente diese Passage dem Reformator als Beleg für die »Lügen« der Juden. Bereits aus diesem Grund wäre ein Verweis auf die Wirkungsgeschichte hilfreich gewesen – und eine Erläuterung, wie das Zitat im ursprünglichen Zusammenhang zu verstehen gewesen sein mag.