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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

42-44

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Osten-Sacken, Peter von der

Titel/Untertitel:

Kleine Texte zu großen Fragen. Israel und Deutsche, Christen und Juden.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 272 S. = Studien zu Kirche und Israel. Neue Folge, 17. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374072811

Rezensent:

Ernst Michael Dörrfuß

Kurze Zeit vor seinem Tod am 28.06.2022 übersandte der emeritierte Berliner Professor für Neues Testament und Christlich-Jüdische Studien Peter von der Osten-Sacken, jahrzehntelanger Leiter des Instituts Kirche und Judentum sowie »Lehrer der Kirche im Dienst der Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses nach der Shoa« (Gudrun Holtz), dem Verlag das jetzt Buch gewordene Manuskript. In ihm wird ein weiter Bogen gespannt, der nicht nur den Zeittraum von sechs Jahrzehnten umfängt, sondern persönliche Erinnerungen umfasst, institutionelle Kontexte beschreibt und zu grundlegenden theologischen Fragen ebenso pointiert Stellung bezieht, wie zu politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich mit den Themen »Israel und Deutschland, Christen und Juden« verbinden.

Zum Teil an entlegener Stelle publiziert, zum Teil erstmals veröffentlicht, zum Teil für den Band neu verfasst, ist jeder einzelne Beitrag gehaltvoll, in allgemeinverständlicher Sprache brillant formuliert und inhaltlich vielfältig anregend. Das Spektrum der Textgattungen reicht von Vorträgen, Predigten und Interviews über kleinere Publikationen oder Grußadressen bis hin zu Predigthilfen, nicht nur zum Israelsonntag.

Gegliedert ist die Sammlung in fünf Teile: Historische Kontexte: Erfahrungen (I), Institutionelle Kontexte (II), Biblisch-jüdische und biblisch-christliche Themen (III), Theologische und politische Zusammenhänge (IV) sowie Ausblick (V). Eine Vorstellung aller Beiträge würde den Rahmen dieser Rezension sprengen – einige Blitzlichter müssen genügen.

Teil I beschreibt eindrücklich die Anfänge, erste Reisen nach Israel zu Beginn der Sechzigerjahre des 20. Jh.s, Aufenthalte z. B. im Kibbuz Gevim und damit verbundene Begegnungen und sich entwickelnde Freundschaften, unter anderem mit Jaakov Flohr, Pierre Lenhardt, David Flusser oder Herbert Stein. Sie haben den Autor nachhaltig geprägt und zeigen auf je ihre Weise, »dass für das deutsch-israelische und das christlich-jüdische Verhältnis und seine jeweils heilsame Gestaltung nach wie vor Begegnungen zwischen den Menschen beider Seiten das A und O sind« (5 f.).

Auch die Gedanken von Rabbiner Sanford Ragins – »Wie ich mein deutsches Problem löste« (73–75) – unterstreichen eindrücklich die Bedeutung von Begegnung. Dabei ist das abschließende Fazit von der Osten-Sackens Erkenntnis und Verpflichtung zugleich: »Wir schulden Jüdinnen und Juden nicht mehr und nicht weniger als den Gewinn von begründetem Vertrauen.« (75)

Teil II nimmt zunächst das Studienprogramm »Studium in Israel« in den Blick (53.57–61; vgl. auch 247–251), zu dessen Initiatoren und Gründungsvätern von der Osten-Sacken zählte und dem er durch aktive Mitarbeit lange eng verbunden war. Bleibend will das Programm »dem Studium jüdischer religiöser und kultureller Lebenszusammenhänge« Räume eröffnen und so dazu beitragen, »die jüdische Lebenswelt kennen und verstehen zu lernen um ihrer selbst willen und als Wurzelgrund der eigenen Religion.« (61)

Der 2005 erstmals publizierte Beitrag »Zum Verhältnis von Christen und Juden« stellt »Neue Perspektiven in Exegese, Theologie und Kirche« vor (62–67). Zu deren Voraussetzung gehört die Christen und Juden betreffende »Absage« an überkommene Denkmuster und an ein »Erklären allein in Unterschieden, Gegensätzen und Alternativen« (64). Exemplarisch benannt sind das Verständnis von Röm 9–11 (dazu auch die Beiträge 151–157.159–161), die Rechtfertigungslehre, das jüdische Gesetzesverständnis sowie die Einsicht, dass Juden und Christen bleibend »unterschiedliche Rezipienten der Schrift« sind, die »ihre Auslegungen miteinander ins Gespräch […] bringen« und so »voneinander lernen und lernen können« (67).

Teil III wird durch »Christliche Reflexionen zum jüdischen Bekenntnis« Dtn 6,4 f. eröffnet (79–82). Ihnen schließen sich gewichtige Überlegungen »Vom Glauben an den Allmächtigen in biblisch-jüdischer und biblisch-christlicher Tradition« an (83–91). An deren Ende hält von der Osten-Sacken fest: »Neben das Gebet als Ort, an dem mit Gott in seiner Macht und Ohnmacht geredet wird, tritt damit die Hoffnung, die der Macht Gottes im Angesicht dessen, was ihr entgegensteht, den Platz bei den Menschen offenhält.« (91) Die folgenden Beiträge befassen sich aus unterschiedlicher Perspektive mit dem Thema »Jesus aus der jüdischen Familie« und nehmen Texte aus dem Matthäusevangelium ebenso in den Blick wie den Evangelisten Lukas, der »als Christ jüdischer Herkunft« vorgestellt wird (117). Zur Theologie des Paulus findet sich u. a. der wegweisende Vortrag auf dem Berliner Kirchentag 1977 »Paulus und das Gesetz« (133–141). Die wache Zeitgenossenschaft sowie das Interesse des Autors, exegetische Fragen und kirchlich-gesellschaftliche Themen zusammenzudenken, belegt insbesondere der Beitrag »Pfingsten für die Gojim – Apostelgeschichte 10 als Zugang zu einem evangeliumstreuen Umgang mit dem Phänomen gleichgeschlechtlicher Zuneigung« (123–128).

Unter den Beiträgen dieses Teils sind zudem die 1981 erstmals publizierten Überlegungen »Weisheit aus dem Orient – Sprache aus dem Okzident. Das frühe Christentum im Horizont der Begegnung von Judentum und Hellenismus« (163–172) hervorzuheben. Neben einer fein ziselierten Erinnerung an Moses Mendelssohn (163 f.) findet sich hier der Gedanke, die vielfältig-ambivalente »Begegnung von Judentum und Hellenismus« habe es »ermöglicht, dass die urjüdische Verkündigung von Nazareth in Gestalt des griechischsprachigen Evangeliums den Weg in die Völkerwelt hat nehmen können« (171).

Verwiesen sei sodann auf die knappen Ausführungen zu »Jü­dische[n] und christliche[n] Feiern und Feste[n]« (173–187) sowie das Kapitel »Die Geburt des Messias. Zum biblisch–jüdischen Hintergrund von Heiligabend« (189–193).

Teil IV spannt den Bogen von Martin Luther und der unter der Überschrift »Für Recht und Bibeltreue. Drei Mitstreiter und stille Kontrahenten Luthers im Verhältnis zum Judentum« stehenden Erinnerung an Justus Jonas, Andreas Osiander sowie Urbanus Regius (211–214) bis hin zum Thema »Israel und Palästina, der Nahostkonflikt und wir« (233–238) oder »Ein Wort zur Bestreitung des Existenzrechts Israels« (239–241). Hervorzuheben sind hier zudem 1988 veröffentlichte Gedanken zur – bewusst so genannten – »Reichskristallnacht« (215–217) oder zur Erklärung »Dabru Emet« aus dem Jahr 2000 (223–225), versehen mit der Überschrift »Dabru Emet oder der Mut zum Konflikt – Eine jüdische Erklärung im Jahr 2000«.

Teil V schließlich benennt in Form eines Interviews (257–250) das Desiderat einer verpflichtenden Beschäftigung mit dem Judentum im Theologiestudium (250). Am Schluss finden sich neben dem Beitrag »Jesus Christus trennt und eint. Orientierungspunkte für eine Neugestaltung des christlich-jüdischen Verhältnisses« (253–257) »Zehn Leitsätze für das christlich-jüdische Verhältnis« (259–260). – Nachweise des Erstdrucks bereits publizierter Texte sowie ein Personen- und Bibelstellenregister erleichtern den Gebrauch dieses von der ersten bis zur letzten Seite lesenswerten, gewichtigen Bandes.

Die allermeisten der hier thematisierten Überlegungen, Gedanken und Einsichten hat Peter von der Osten-Sacken andernorts ausführlicher entfaltet. Gerade in ihrer prägnant-tiefgründigen Kürze geben nicht allein die exegetischen Pretiosen Grund zum Nach-Denken. Ich nenne nur die deutlich formulierte Kritik am Verzicht auf die Lesung alttestamentlich-messianischer Texte zum Christfest im Evangelischen Gottesdienstbuch (190 f.) oder die Überlegung, ob die Begriffe »Holocaust« und »Schoa« »als fremdsprachige Begriffe […] das Bezeichnete für uns in eine fragwürdige Distanz« rücken (216).

So gibt der Band in überzeugender Weise Einblicke in die Geschichte der Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, ruft komprimiert gewonnene Einsichten in Erinnerung, zieht aus diesen das Denken und das Handeln gleichermaßen umfassende Konsequenzen und regt auf inspirierende Weise zum Weiter-Denken an.