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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

3-24

Kategorie:

Aufsätze
Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Moritz Holzgraefe/Nils Ole Oermann

Titel/Untertitel:

Digitale Plattformen und die mit ihnen verbundenen ethischen Dilemmata1

I Einführung



Über Wohl und Wehe von Digitalplattformen und damit verbundene ethische Dilemmata wird gegenwärtig in der Öffentlichkeit viel diskutiert. Unbestreitbar sind die weitreichenden Einflüsse, welche Unternehmen wie Alphabet (Google), Amazon, oder X (früher Twitter) auf beinahe alle Aspekte des gesellschaftlichen wie individuellen Lebens haben. In unserem Beitrag wollen wir uns auf die damit verbundenen Probleme fokussieren, indem wir der Beobachtung nachgehen, dass diese Plattformen eine Form von Macht ausüben, die zunehmend direkt mit der Souveränität von Nationalstaaten konkurriert und womöglich die Menschenwürde jedes Einzelnen tangiert.

Max Weber definiert »Macht« wie folgt: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«2 Demnach üben die sogenannten Digitalplattformen – von Google über Facebook bis Amazon – zweifellos enorme Macht aus, wie noch näher auszuführen sein wird.

Dann ergibt sich jedoch die fundamental ethische Frage, ob, wann und wie diese Machtausübung legitimiert werden kann. Die Grundproblematik dabei ist, dass sich die genannten Konzerne letztlich selbst ermächtigen. Digitalkonzerne würden möglicherweise argumentieren, dass es nicht sie selbst, sondern ihre Nutzer seien, die sie als Kunden marktwirtschaftlich autorisieren, und dass sie doch gar nicht oder bestenfalls selten »hoheitlich« tätig werden. Außerdem seien ihre Projekte für den Staat oft von hohem Nutzen und öffentliche Projekte ohnehin nur für einen relativ kleinen Teil ihrer Umsätze verantwortlich.

Unabhängig davon, ob solche Einlassungen faktisch korrekt oder nur Schutzbehauptungen sind: Derlei Argumente laufen in einem zunehmend digital ausgehöhlten, immer weniger souverän agierenden Gemeinwesen zunehmend ins Leere. Es bedarf daher anderer Quellen, die digitale Macht legitimieren oder – anders herum – es braucht gute Gründe, wenn die Herrschaft des demokratischen Staates legitim ersetzt werden soll. Zentraler Maßstab dafür wäre nicht nur, aber gerade auch theologisch fundierbar der Schutz der Menschenwürde, die einerseits den besonderen Rang einer Person innerhalb der Gesellschaft markiert (dignitas) und andererseits die besondere Stellung des Menschen in seinem Menschsein und Personsein in Relation zu anderen Lebewesen/im Kosmos markiert.3

Aktuell mangelt es wissenschaftlich weithin an fundierten Bei­trägen, die strukturiert erörtern, wie Staat und Demokratie als Wächter der individuellen Menschenwürde durch die Big Tech-Unternehmen herausgefordert werden – konkret: inwieweit die ein­zelnen demokratischen Säulen von den Digitalplattformen neugestaltet, relativiert, angegriffen oder schlussendlich gar ausgehöhlt werden. Diese Lücke ist dringend zu füllen, und zwar nicht nur aus Sicht der Staats- und Rechtswissenschaft – so unverzichtbar deren Einsichten für dies Problem auch sind –, sondern ebenso aus Sicht der Ethik. Denn durch die ausufernde »Plattformmacht« ist letztlich nicht nur der Staat, sondern die ganze Gesellschaft mit der Frage konfrontiert, welche Konsequenzen sich aus dieser neuen Form von Macht für das staatliche Monopol hoheitlicher Gewalt ergeben und wie diese einzuordnen sind.

In der theologischen Ethik ist diese Art von Fragen bislang kaum thematisiert worden. In theologischen Beiträgen zu den Grundlinien christlicher Rechtsethik kommen Begriffe wie »Internet« oder »Digitalisierung« – etwa in Wolfgang Hubers überzeugendem Standardwerk »Gerechtigkeit und Recht« (3. Aufl., Gütersloh 2006/ 2013) – wenig überraschend noch gar nicht vor. Digitalisierung mit ihren gravierenden Konsequenzen scheint bis heute in der Theologischen Ethik noch weitgehend »Neuland«, während die Relevanz und der Durchgriff digitaler Plattformen auf unser Leben immer weiter steigt.

Die folgenden Überlegungen können daher nur einige erste Ansätze vortragen. Nach einer Übersicht über das Phänomen digitaler Plattformen (II) wenden wir uns im folgenden Teil (III) dem Zusammenhang von Demokratie und Legitimität zu. So wird es dann möglich, die Frage nach dem Ort von Digitalplattformen im Staat ethisch zu reflektieren (IV), das sich dadurch ergebende ethische Risiko abzuschätzen (V) bzw. das inzwischen bestehende Problem einer Anmaßung staatlicher Funktionen durch Digitalplattformen zu diskutieren (VI).

II Was sind Digitale Plattformen?



Digitale Plattformen sind Konzerne, die Nutzer und Anbieter mittels einer standardisierten Digitaltechnologie verbinden und deren ökonomischer Mehrwert aus diesem Grunde mit wachsender Nutzerzahl stetig steigt (sogenannter Netzwerkeffekt).4 Um den Kern dieser Plattformmodelle sind in den letzten Jahren globale Großkonzerne entstanden, deren Geschäftsmodelle vielfach verzweigt sind und die mittels der Besetzung von Schlüsseltechnologien dazu führen, dass Staat und Bürger zunehmend von ihnen abhängen. Dies trifft auf Unternehmen wie Alphabet (Google, Android, Chrome), Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp) und Amazon (Amazon Prime, Twitch, Kindle) genauso zu wie auf Apple (iPhone, iOS, iTunes), Microsoft (Windows, Bing, Azure) sowie ihre chinesischen Pendants (Baidu, Tencent und Alibaba), deren Tageskursschwankungen an der Börse durchaus den Wert eines großen DAX-Konzerns aufweisen können.5

Ende 2022 gehörten Google, YouTube und Facebook weltweit zu den meistbesuchten Websites mit monatlichen Zugriffswerten in zweistelliger Milliardenhöhe. Über 70 Prozent der weltweiten Webseitenanfragen von Mobiltelefonen wurden zuletzt über ein Smartphone mit dem Android-Betriebssystem von Google gestellt.6 Und in Deutschland erreicht dessen Mutterkonzern Alphabet zusammen mit seinen übrigen Diensten sogar bis zu 100 Prozent aller Internetnutzer.7 Aus diesen Gründen wird auch von sogenannten Plattform-Leviathanen gesprochen, Unternehmen, die den gesellschaftlichen Alltag eines Großteils der Bürger und Nutzer mitprägen und aufgrund ihrer Verbreitung zugleich über enorm heterogene Datenbestände verfügen,8 die zu einer Vorhersagemacht von Verhalten führen.9

Ein Kernmerkmal der digitalen Plattformunternehmen ist ihre internationale Aktivität. Anders als für andere globale Unternehmungen betrifft dies nicht nur einen Teil der Wertschöpfungskette, sondern ist Wesen der digitalen Produkte, wie sich etwa an den grenzüberschreitenden Datenflüssen und dem globalen Abrufen von Inhalten zeigt. Ihre Globalität und Grenzenlosigkeit kann aus Souveränitätsgesichtspunkten allerdings zum Problem werden, da staatliche Gesetze und Regeln vor allem national wirken. Zugleich erlauben unterschiedliche nationale Gesetze ein race to the bottom, wie etwa die bewusste Unternehmensansiedlung im besonders plattform- und wirtschaftsfreundlichen Irland durch digitale Unternehmungen in Europa zeigt. Die fehlende Raumbindung ist aber für das herkömmliche Staatsverständnis und letztlich den Staat selbst die vielleicht größte ethische wie legale Herausforderung.10

III Der Zusammenhang von Legitimität und Demokratie



Ethik wird im Folgenden im Sinne von Trutz Rendtorff verstanden als »Begleit- und nicht als Bescheidwissenschaft«, wobei Rechtswissenschaften und Informatik die jeweiligen Bezugswissenschaften/Bescheidwissenschaften einer digitalen Ethik als deren Begleitwissenschaft im öffentlichen Raum bilden. Um zu sehen, was für ethische Probleme durch digitale Plattformen entstehen, muss der Zusammenhang von Legitimität/Ethik, informationeller Selbstbestimmung und Demokratie als Garantin individueller Menschenwürde näher in den Blick genommen werden. Das lenkt das ethische Interesse zwangsläufig auf die Rechtfertigungsquellen der dazu nötigen hoheitlichen Machtausübung, die die Grundrechte des einzelnen Bürgers als Abwehrrechte sichert. Nur eine dieser Quellen ist der demos.

Bereits Aristoteles’ Beziehung zur Demokratie war bekanntermaßen ambivalent. Und auch heute befindet sich die Demokratie weltweit in einer Akzeptanzkrise.11 Sie ist allerdings die einzige Staatsform, die hinreichend würdigt, dass es einen Wert gibt, der allen Menschen gleichermaßen zugeschrieben wird und den gerade die Theologie als das proprium einer theologischen Ethik des Staates fundiert: die Würde des Individuums, welches theologisch betrachtet ein Geschöpf Gottes ist, das anderen Geschöpfen gegenüber gleichberechtigt ist.

Diese christlich-aufklärerische Überzeugung verlangt es, allen Bürgern auch einen Anspruch auf freie und gleichberechtigte Teilhabe an der öffentlichen Gewalt zuzusprechen.12 Manche Humanisten gingen dabei davon aus, dass es zur Würde des Menschen gehöre, sich in jeder Hinsicht – sowohl im Sinne seiner miseria als auch seiner excellentia – selbst schaffen zu können. Zu diesem Selbst gehörte auch das soziale Selbst und damit eng verbunden die politische Selbstbestimmung.13 Dem ist zwar theologisch immer wieder entgegengesetzt worden, dass der von Gott geschaffene Mensch eben nicht selbstreferentiell sei. Bei aller Zeitabhängigkeit und Wandelbarkeit der Legitimitätsanforderungen ist aber in jedem Fall der in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch auf Gestaltung der Gesellschaft, in der er lebt, richtigerweise im Folgenden der legitimatorische Bezugspunkt unserer ethischen Überlegungen.

1. Demokratische Anforderungen dies- und jenseits der Partizipation



Was meint Gestaltung der eigenen Gesellschaft, und was genau meint »Demokratie«? Eine der ersten Definitionen aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges, Demokratie als die »Herrschaft des Volkes«,14 wird heute erweitert: Robert Dahl, einer der wichtigen Demokratietheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,15 gab 1971 auf die Frage, was unter Demokratie zu verstehen ist, eine zunächst eher knappe Antwort: »public contestation and the right to participate«.16 Solche partizipativen Ansätze vertikaler politischer Kontrolle, die vor allem die rechtswissenschaftliche Behandlung dominieren, lenken den Fokus auf den formalen Aspekt der demokratischen Legitimation. Die Basis, die Legitimität bewirken soll, wird insofern auf die reine »Input-Legitimation« verengt.17 Entscheidend für die Legitimität der Herrschaftsgewalt ist allein das Durchlaufen von rechtsstaatlich vorgesehenen Verfahren im Zuge einer Wahl der Repräsentanten durch das Volk, zunächst ohne Blick auf die Ergebnisse der Herrschaftsgewalt.18 Grundsätzlich werden dafür zumindest freie, gleiche, geheime und regelmäßig stattfindende Wahlen als notwendige Bedingung zugrunde gelegt.19 Ein solch formalistischer demokratischer Legitimationsansatz ist aber nur die eine Seite der Medaille. Traditionell steht in der demokratietheoretischen Diskussion dem Lager des inputorientierten Legitimationsmodells ein soziologischer Ansatz gegenüber, der nach dem materiellen Output der Herrschaftsgewalt fragt.20 Bereits in der berühmten Gettysburg-Formel von Abraham Lincoln (1863) erschöpft sich die Legitimation nicht in einem government of the people oder einem government by the people, sondern es wird gleichberechtigt auf das Konzept des government for the people Bezug genommen.21 In der französischen Verfassung findet sich eine ähnliche Formulierung: »Son principe est: gouvernement du peuple, par le peuple et pour le peuple.« Damit gemeint ist eine inhaltliche Bewertung der Politik, ihrer ausgeübten Partizipationsmöglichkeiten und einer erfolgreichen staatlichen Aufgabenerfüllung als Gradmesser der Legitimität.22 Im Nationalstaat stehen, dem folgend, inhaltlich gut begründbare, input- und output-orientierte Legitimationsargumente nebeneinander und verstärken sich auch materiell wechselseitig.23

Dies überzeugt spätestens dann, wenn man würdigt, dass das dargestellte (formale) Konzept einer reinen Input-Legitimation den heutigen legitimatorischen Anforderungen der Beherrschten mangels gesellschaftlicher Akzeptanz augenscheinlich nicht mehr genügt.24 Das reine technokratische Durchlaufen formaler Verfahren (wie etwa Wahlen) bewirkt unter massiv veränderten Umfeldbedingungen, veränderten Erwartungshaltungen der Bürger sowie zunehmender Ergebnisverfehlung der Verfahren immer weniger Legitimität und höhlt so den Staat letztlich aus. Für ein ausreichend hohes Legitimationsniveau ist somit eine formelle Legitimation (nur) die notwendige, eine zusätzliche materielle Legitimität demgegenüber die hinreichende Bedingung.25 Denn auch der demokratische Verfassungsstaat darf seine Herrschaftsgewalt nicht zweckfreitechnokratisch, zeitlos und schon gar nicht willkürlich ausüben, sondern ist – wie jede andere Staats- und Herrschaftsform auch – kohärenten inhaltlichen Zwecken und zeitgemäßen Zielen verpflichtet, wenn er seine Legitimität erreichen, bewahren und für die Zukunft sichern will.26 In systemtheoretischer Modellierung spricht daher viel dafür, dass eine Sicherung der demokratischen Legitimation des politischen Systems sowohl auf der Input-Seite (Partizipationsmöglichkeiten) als auch auf der Output-Seite (Effektivität der Entscheidungen) geschieht.27 Input- und Output-Legitimation sind dabei beidseitig eng aufeinander bezogen und stärken oder schwächen sich gegenseitig.28 Letztlich hängen sie aber immer am Individuum, das in einem Rechtsstaat »Bürger« genannt wird.

2. Output-Legitimation



Die Bestimmung der materiellen demokratischen Legitimation ist weitaus komplexer als die Feststellung der formalen demokratischen Legitimation. Denn Demokratie wird abhängig von Ort und Zeit unterschiedlich interpretiert und inhaltlich gefüllt.29 Demokratisches Zusammenleben findet in einer großen Bandbreite statt, und es gibt aus gutem Grund im europäischen, geschweige denn im internationalen Rechtsraum kein einheitliches Verständnis über diese Form der Herrschaftsgewalt.30 Hinzu kommt: Demokratische Praxis ist einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen.31 Im digitalen Zeitalter gilt dies umso mehr, eben aufgrund der damit verbundenen Beschleunigung von Prozessen und Märkten. Oft ist das Idealbild einer Demokratie auch von einer bestimmten Weltanschauung geprägt.32 Bis ins Detail ausdifferenzierte Grundsätze der Demokratie jenseits des bloßen formal-partizipatorischen Elements, die einen allgemeinen Geltungsanspruch für sich reklamieren, sind daher angreifbar. Und doch schließt all dies nicht aus, unterschiedliche materielle Merkmale demokratischer Legitimation herauszuarbeiten, die zwar noch hinreichend Raum für Konkretisierung und Gestaltung lassen, aber diese Herrschaftsform zugleich im Sinne eines stabilen Grundgerüsts krisenresistenter machen. Unser Ziel ist es daher, nachfolgend ein hinreichend akzentuiertes Bild davon zu entwerfen, welche ethisch begründeten Erwartungen dem demokratisch legitimierten Staat heute entgegengebracht werden können und welche nicht. Denn nur so ist uns möglich, in einem weiteren Schritt herauszuarbeiten, inwiefern Digitalplattformen dies determinieren. Wir wagen daher, drei Minimalanforderungen zu bestimmen, um den Rückhalt des Souveräns auch zukünftig zu sichern: eine hinreichende, rechtssichere Gewährleistung ihrer Freiheitsrechte als Grundlage der politischen Teilhabe; einen effektiven Schutz spezifischer Grundrechte wie der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts sowie – letztlich als theologisch wie säkular begründbare Grundlage dessen – eine Sicherstellung des Monopols hoheitlicher Gewalt des Staates. Diese normativen Grundsätze halten wir für die Begründung eines anerkannten demokratischen Staates für mindestens notwendig.33 Sie sind deshalb von hervorgehobener Bedeutung, weil sie allesamt in Wechselwirkung mit den digitalen Plattformen geraten und in diesem Zuge unter erheblichen Druck gesetzt werden.

a) Hinreichende Gewährleistung von Freiheits- und Menschenrechten

Bereits die Attische Demokratie erkannte an, dass die Demokratie nur dann volle Wirkung entfalten konnte, wenn die Freiheit garantiert wurde, offen mit anderen zu diskutieren.34 Ethisch betrachtet könnte man auch sagen: Demokratie ohne Freiheit ist von jeher ein »Widerspruch in sich«.35 Dieser Konnex von individueller und kollektiver Freiheit wurde grundlegend von Jürgen Habermas begründet, herausgearbeitet und just von diesem aktualisiert.36 Demnach können die Bürger ihre öffentliche Autonomie nur dann wirksam ausüben, wenn auch ihre private Autonomie gesichert ist.37 Habermas spricht in diesem Zusammenhang von »Gleichursprünglichkeit«.38

Es kann allerdings nicht nur um politische Teilhabe gehen. Denn Demokratie ist kein Selbstzweck. Im Gegenteil hat ein solches Verständnis zur derzeitigen Krise der Demokratie beigetragen. Dies wirft unweigerlich die grundsätzliche Frage des Verhältnisses von Demokratie und Menschenrechten auf, die als Zielbild zur Verwirklichung der individuellen Freiheit verstanden werden können.39 Vor diesem Hintergrund ist auch der bekannte Gerechtigkeit-als-Fairness-Ansatz des amerikanischen Philosophen John Rawls zu sehen. Ihm folgend dient Demokratie der Verwirklichung der Menschenrechte.40 Dies steht in der Tradition von John Locke, der den Standpunkt vertritt, dass eine Regierung verpflichtet sei, das Leben, die Freiheit und das Eigentum des Einzelnen zu sichern.41

Doch welche Menschenrechte umfasst dies genau? Rawls selbst hat eine (minimalistische) Liste (human rights proper42) mit universellem Gültigkeitsrang vorgeschlagen, die das Recht auf Leben (inklusive körperlicher und psychischer Unversehrtheit), auf Freiheit (beinhaltet Gewissens- und Gedankenfreiheit), auf persönliches Eigentum und das Recht auf formale Gleichheit umfasst.43 So sehr das Grundkonzept der Menschenrechte als normative Rahmenbedingung eines demokratischen Staates auf viel positive Resonanz gestoßen ist und auch uns im Ergebnis überzeugt, so sehr war die konkrete Liste an Menschenrechten in der Literatur erheblicher Kritik ausgesetzt, nicht zuletzt weil sie zahlreiche Menschenrechte, die aus prominenten Menschenrechtsdokumenten bekannt sind, nicht abdeckt.44 Es gibt demgegenüber einen internationalen Konsens, der in der formaljuristisch nicht bindenden,45 aber mittlerweile teilweise völkergewohnheitsrechtlich anerkannten46 Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 194847 Niederschlag gefunden hat48 und im Wesentlichen einen Versuch darstellt, das Konzept der »Menschenwürde« operational zu machen.49 Zu diesen Menschenrechten gehören unter anderem ein Verbot der Diskriminierung, ein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit sowie der Schutz der Freiheitssphäre des Einzelnen. Unbestritten ist abgesehen davon, dass zusätzlich die jeweiligen verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte oder andere kodifizierte Freiheitsrechte (nur) für ihre konkreten Gesetzgeber Bindungswirkung entfalten.50 Sie sind Ausdruck der einzelstaatlich konkretisierten Output-Legitimation.

Wer sich den konkreten Auswirkungen der Digitalplattformen auf die Demokratie im Allgemeinen und die Menschenrechte im Besonderen ethisch zuwendet, dem fällt allerdings schnell ein völkerrechtlich sowie schöpfungstheologisch nicht unproblematischer Umstand auf: Die Grund- und Menschenrechte verpflichten zunächst nur Staaten.51 Unternehmen werden nur dann unmittelbar und direkt gebunden, wenn das Recht selbst insoweit klare Richtlinien vorgibt, maßgeblich auf die Beziehungen zwischen Privaten bezogen ist und keinen einschlägigen Einschränkungsmöglichkeiten unterliegt. Im Übrigen ist es Aufgabe des Gesetzgebers, die grund- und menschenrechtlichen Vorgaben in konkrete Handlungsrichtlinien umzusetzen.52 Letzterem Gedanken liegt die Schutzpflichtenidee zugrunde, also eine abgeleitete Verpflichtung der Staaten, sich schützend und fördernd vor das in Rede stehende Rechtsgut zu stellen.53 Grund- und Menschenrechte können auf diesem Wege zumindest mittelbar wirken und eine gewisse Schutzpflicht gegenüber Dritten begründen.54 Der Staat muss also sicherstellen, dass der materielle Inhalt der Rechte gewahrt bleibt, und seine Schutzpflicht verlangt ihm ab, wirksame Maßnahmen zu ergreifen und umzusetzen, um entsprechende Men­schenrechtsverletzungen durch Dritte zu verhindern.55 Diese Schutzpflicht obliegt in erster Linie dem Staat, in dem die Menschenrechtsverletzung stattgefunden hat. Da dieser Staat aber häufig nicht über die notwendigen Kapazitäten verfügt, um multinationale Unternehmen effektiv in seinen Grenzen zu regulieren, wird zunehmend argumentiert, dass die Heimatstaaten multinationaler Unternehmen auch die Pflicht haben, die extraterritorialen Aktivitäten der in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Unternehmen zu regulieren, um auch Menschenrechtsverletzungen andernorts zu verhindern oder deren Folgen zu mildern.56

b) Sicherstellung des Gewaltmonopols

Unser letzter Minimalanspruch an den demokratischen Staat mag oberflächlich wie ein Zirkelschluss klingen, nämlich die Forderung einer effektiven Aufgabenerfüllung als Gradmesser seiner eigenen Legitimität. Und doch muss dieses Kriterium an dieser Stelle angesichts der bereits erwähnten und noch weiter auszuführenden Plattformmacht ausdrücklich genannt werden. Ein funktionierender souveräner Staat muss in der Lage sein, sein grundsätzliches Monopol hoheitlicher Gewalt und damit seine Handlungsfähigkeit zu sichern.57 Dies gilt zumindest dann, wenn man die (von Volksvertretern geschaffene) demokratische Verfassung als eine die Politik und das Recht bindende, höchste Autorität akzeptiert, die einen außerhalb der Gesellschaft stehenden, abrufbaren Ausschuss – den Staat – mit den entsprechenden Aufgaben betraut.58 Dieses Gewaltmonopol des demokratischen Staates spiegelt die Notwendigkeit wider, die Beziehungen zwischen dem Staat und der ihm Legitimität verleihenden Bevölkerung sowie privaten Vereinigungen verbindlich zu regeln.59 Es muss demnach nicht nur eine Kontrolle des Staates geben, die im demokratischen Staat vertikal im Wesentlichen durch Wahlen im Sinne der Input-Legitimation und horizontal durch Gewaltenteilung (Checks and Balances) gewährleistet wird,60 sondern auch eine Kontrolle durch den Staat.61 Eng damit hängt das Rechtsstaatsprinzip zusammen, das die Unabhängigkeit der Justiz und den Vorrang und die unbedingte Geltung des Rechts umfasst.62 Dieses Prinzip sichert nicht nur diese Kontrolle durch den Staat ab, sondern garantiert auch die soeben beschriebenen Freiheiten seiner Bürger. Ohne Rechtsstaatlichkeit ist jede individuelle Freiheit gefährdet. Sie ist daher eine weitere Mindestanforderung, welche die Brücke zu den legitimen Ansprüchen des Individuums an einen demokratischen Rechtsstaat schlägt.63

c) Keine sonstigen universalisierbaren Erwartungen

Die Gewährleistung von Freiheitsrechten zur politischen Teilhabe, der Schutz anerkannter Menschenrechte und die Sicherstellung des Monopols hoheitlicher Gewalt sind damit nach obiger Darstellung zwingende Elemente der Output-Legitimation, hinter die der demokratische Staat keinesfalls zurückfallen darf. Bei Lichte betrachtet handelt es sich bei diesen Elementen allerdings eher um einen allgemeinen Funktionsrahmen, den der demokratische Staat sicherstellen muss. »Inhaltliche Zielsetzungen« im Sinne einer bestimmten materiellen Programmatik sind davon höchstens umfasst, soweit man die Wirkkraft der Freiheits- und Menschenrechte besonders weit interpretiert und mit einem entsprechend umfassenden staatlichen Handlungsauftrag versieht. Damit drängt sich die Frage auf, ob auch die Wirksamkeit politischer Maßnahmen bei der Lösung spezifischer kollektiver Probleme oder die Effizienz staatlicher Stellen bei der Erbringung besonderer öffentlicher Dienstleistungen als Beispiele für Quellen der Output-Legitimität anerkannt sein sollten64 – und falls ja, was dann davon erfasst ist.

Im Ergebnis ist die Frage, ob der Bürger heute an den demokratischen Staat berechtigte universalisierbare Erwartungen stellt, die einen vergleichbaren Stellenwert wie die obigen Kriterien haben, allerdings klar zu verneinen. Letztlich widerspräche ein solches Konzept bereits prinzipiell dem der Demokratie inhärenten Gestaltungsspielraum. Zwar sind im demokratischen Staat die mit der Herrschaftsausübung betrauten Organe verpflichtet, sachgerechte Lösungen für politische Probleme zu finden, oder, allgemeiner und gleichzeitig unschärfer formuliert, dem Gemeinwohl zu dienen. Es kann aber freilich keine absolute und zeitlich fixierte Wahrheit für die Bestimmung des ethisch allzu leicht aufladbaren Begriffs »Gemeinwohl« geben, sodass der Begriff inhaltlich offen bzw. der Ausgestaltung des jeweiligen Souveräns vorbehalten bleiben muss.65

3. Öffentlichkeit und Vertrauen



Laut dem berühmten Böckenförde-Diktum lebt der freiheitlich-säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Basis eines Grundvertrauens in den Rechtsstaat ist eine intakte demokratische Öffentlichkeit, womit verschiedene, in der Regel miteinander verbundene Dimensionen von öffentlicher Kommunikation gemeint sind.66 Sie schaffen einen Raum, in dem um Wahrheit gerungen wird, sich politische Macht formiert und Herrschaft wahrnehmbar und wirksam wird.67 In seinem grundlegenden Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962 konzeptualisierte Jürgen Habermas die politische Öffentlichkeit als Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft und Parlament.68 Diese politische Öffentlichkeit, im weiteren Verlauf analog Habermas Public Sphere genannt, stellt somit ein erstes wichtiges Bindeglied zwischen Input- und Output-Legitimation dar. Damit wird zugleich deutlich, welche Bedeutung Öffentlichkeit für die Rechtfertigung und Effektivität der Demokratie hat.69 Öffentlichkeit ermöglicht und gewährleistet die beobachtende Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung; ohne sie kann dieser für den demokratischen Verfassungsstaat konstitutive Prozess nicht funktionieren.70 Öffentlichkeit ist also nicht etwas, das Herrschaftssubjekte gewähren, sondern Öffentlichkeit legitimiert ihrerseits erst demokratische Macht.71

Und es gibt noch ein zweites Bindeglied zwischen Input- und Output-Legitimation, das eher den in der theologischen Ethik stark gemachten, interpersonalen Aspekt betont: Vertrauen.72 Menschen, die das Vertrauen in die institutionalisierte Politik verloren haben, gelten als »demokratiemüde«.73 Dafür gibt es im Einzelfall oftmals so gute wie rationale Gründe. Vertrauen ist die Überzeugung, dass die Akteure oder Institutionen, denen Vertrauen geschenkt wird, den Vertrauensgebern mindestens willentlich oder wissentlich keinen Schaden zufügen und bestenfalls in ihrem Interesse handeln.74

Große Bedeutung kommt dabei bürgerlicher Partizipation und Transparenz zu. Transparenz gibt der Öffentlichkeit die Sicherheit, dass Entscheidungen nicht die Ausübung von Sonderinteressen widerspiegeln, sondern dem Mehrheitswillen entsprechen.75 Der Staat muss außerdem hinreichend Informationen und Daten in seinem Zugriff haben und bereitstellen, da dies zentral für Vertrauen in seine Handlungsfähigkeit und Kompetenz ist. Abermals zeigt sich dadurch die Bedeutung von Öffentlichkeit im Allgemeinen und freier und unabhängiger Medien im Besonderen. Nur wenn Medien frei und unabhängig arbeiten können und keiner Zensur unterliegen, können sie Transparenz herstellen und damit einen zentralen Beitrag zur Demokratie leisten.

IV Plattformen als Teil des Staates



Es sollte deutlich geworden sein, wie wichtig es auch aus ethischer Sicht ist, dass der demokratisch legitimierte Staat autark im Sinne seiner Legitimationssubjekte als gleichberechtigte Geschöpfe handeln kann. Wie sich im Folgenden aber zeigen wird, ist eine solche Gefahr der Souveränität akut bereits dadurch gegeben, dass der Staat Digitalplattformen wissentlich zur Erfüllung seiner ureigensten hoheitlichen Aufgaben einsetzt. Ein komplexer Zustand kann hier nur im Ansatz beschrieben werden. Ohne eine solche Beschreibung ist jedoch die bestehende ethische Herausforderung nicht zu verstehen.

1. Gezielte Verflechtung von Staaten und digitalen Plattformen in der Praxis



Ein markantes Beispiel der gezielten Verflechtung von Staaten und digitalen Plattformen stellt die Verwendung von Microsoft-Produkten dar. Welchen Verbreitungsgrad Microsoft in der öffentlichen Verwaltung tatsächlich hat und welche Kosten dafür anfallen, ist weltweit uneinheitlich und nicht vollkommen transparent. Zumindest für Deutschland führte das Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers (PWC) 2019 im Auftrag des deutschen Bundesministeriums des Innern eine detaillierte Marktanalyse für die hiesigen Bundesbehörden durch. Das Ergebnis: »Die Abfrage zeigt, dass beispielsweise Produkte von Microsoft in allen Schichten des Software-Stacks eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere für Büro-Software, Arbeitsplatz- und Server-Betriebssysteme, wo 96 % aller unmittelbaren Behörden Microsoft Office sowie Windows und 69 % Windows Server verwenden.«76 Im Jahr 2021 überwies Deutschland erneut mehr als 200 Millionen Euro an Microsoft, unter anderem für die Verwaltungssoftware im Verteidigungsministerium, Finanzressort und Bundesministerium des Innern. Und auch zuletzt arbeiteten die rund 500 000 Beschäftigten der Bundesverwaltung unverändert überwiegend mit Software des Großkonzerns.77

Für Themen der staatlichen Daseinsvorsorge lassen sich ähnliche Abhängigkeiten konstatieren. 2017 veröffentlichte die New York Times einen Artikel, in dem von einer »Googlification« des amerikanischen Klassenzimmers gesprochen wurde.78 Umfassend geschildert wird, wie es Googles Vertrieb trotz einiger Datenschutzbedenken79 gelang, innerhalb weniger Jahre seine Produkte zum integralen Bestandteil vieler privater und öffentlicher Schulen zu machen, indem offenbar Lehrer direkt angesprochen und Verantwortliche in den Schulbezirken umgangen wurden. Und auch viele öffentliche Mobilitätslösungen und Smart City-Anwendungen bauen auf (Karten-)Diensten von Apple und Google auf. Sogar die vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) bereitgestellte Warn-App NINA nutzt Google Maps und Apple Maps.

Es ließen sich eine Vielzahl weiterer Beispiele nennen, die alle zu einem Ergebnis führen: Verwaltung, Politik und Sicherheitsarchitektur des Staates vertrauen auf die Leistungen der Plattformen und bauen zugleich auf der Macht der Plattformen auf. Die Plattformen sind aufgrund ihrer Marktdominanz ein substanzieller Teil unzähliger Staaten geworden. Für Territorialstaaten hat sich die wahrgenommene Notwendigkeit verringert, eine Ressource selbst zu besitzen, wenn der dauerhafte Zugang zu ihr gewährleistet zu sein scheint.80 Der Ausfall einzelner Plattformdienste hätte folglich massive Auswirkungen für jeden einzelnen Bürger.

2. Ethische Folgen



Die beschriebenen Zusammenhänge gehen mit zahlreichen Problemen hinsichtlich der ethischen Legitimation von Demokratie einher: Wenn Plattformen zu einem unverzichtbaren Teil menschlichen Lebens werden, ohne dazu auf Basis einer (wirklich) freien staatlichen Entscheidung unter Berücksichtigung der Gleichberechtigung aller Geschöpfe ermächtigt worden zu sein, etwa aufgrund mangelnder Alternativen am Markt oder schwer rückgängig zu machende Verflechtungen, fehlt es an einer hinreichenden demokratischen Kette zum Legitimationssubjekt, dem Bürger.

Wenn Plattformen selbstermächtigt mehr und mehr zum unverzichtbaren Partner und damit Teil des Territorialstaates werden, determiniert dies außerdem eine weitere der beschriebenen Komponenten demokratischer Legitimation: das Vertrauen der Bürger. Ein in diesem Zusammenhang zu nennendes Sonderproblem, das nicht zuletzt unmittelbare Spannungen mit Grund- und Menschenrechten erzeugt, ist das Phänomen einer »unheiligen Allianz« zwischen Plattformen und Staaten, die sich zur Kontrolle der Bürger entsprechender Plattformmacht bedienen könnten, insbesondere durch die Nutzung der von ihnen gesammelten Daten. Sollte der Zweck (etwa eine effektive Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung) auch legitim und die Versuchung81 groß sein, stellt der demokratische Staat auf diesem Wege die ihn tragende fides ganzheitlich ins Risiko – und riskiert damit langfristig weitaus mehr, als er gewinnt. Damit ist freilich keineswegs gemeint, dass eine staatliche Datennutzung bereits per se ausgeschlossen ist. Sie muss sich aber bei den persönlichsten Daten der Bürger auf Ausnahmefälle beschränken und Grund- und Menschenrechte hinreichend berücksichtigen. Keinesfalls ließe sich dadurch etwa eine individuelle Rückverfolgung rechtfertigen, um etwa bloße Ordnungswidrigkeiten (statt schwerer Straftaten) zu sanktionieren oder ohne Anfangsverdacht gegen Bürger zu ermitteln.

V Plattformen als ethisches Risiko?



Abgesehen von den beschriebenen technologischen Abhängigkeiten82 stellen die Plattformen aus mehreren Gründen grundsätzliche legitimatorische Risiken für jedes Gemeinwesen gleichberechtigter Individuen dar: aufgrund der mit ihnen einhergehenden Neuvermessung der politischen Öffentlichkeit, aufgrund ihrer enormen Datenmacht und des damit einhergehenden Wissensvorsprungs sowie aufgrund der mit ihnen verbundenen Verletzung staatlicher Schutzpflichten.83

1. Neujustierung von Öffentlichkeit



Noch nie war es für Individuen so einfach, die eigene Meinung zu äußern, Inhalte zu teilen und Standpunkte weltweit zu diskutieren. Maßgeblichen Anteil daran haben die sozialen Netzwerke, die im digitalen Zeitalter ihre Nutzer ohne Vorkenntnisse oder eine besondere Stellung in der Gesellschaft in die Lage versetzen, Inhalte einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Hürden für politische Partizipation werden erheblich verringert, das Gegenteil einer »Elitendemokratie« ist die Folge.84 Das ist die eine Seite der Medaille. Ihre Kehrseite war in der Diskussion lange Zeit zunächst unterrepräsentiert: Es geht um die disruptiven Auswirkungen sozialer Netzwerke auf etablierte Demokratien.85

Die Relevanz der Plattformen für die öffentliche Meinungsbildung ist mittlerweile ausgesprochen hoch. Bei einer weltweiten Gesamtbetrachtung lagen altersgruppenübergreifend soziale Medien mit 24,4 Prozent auf Platz 1 der Hauptnachrichtenquellen der Befragten.86 Volle 60 Jahre nach seinem ersten, die wissenschaftliche Debatte nachhaltig prägenden Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit veröffentlichte Jürgen Habermas vor diesem Hintergrund mit dem Werk Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit eine Aktualisierung seiner Thesen von 1962, mittels derer er sich erstmals eingehend87 mit den kommunikativen Fragen der digitalen Räume auseinandersetzt. Habermas zeichnet darin ein ambivalentes Bild: Einerseits weist er darauf hin, dass sich durch die neuen Medien »der egalitär-universalistische Anspruch der bürgerlichen Öffentlichkeit auf gleichberechtigte Inklusion aller Bürger« endlich zu erfüllen schien. Andererseits sei im Silicon Valley »die Lava dieses zugleich antiautoritären und egalitären Potenzials, die im kalifornischen Gründergeist der frühen Jahre noch zu spüren war«, alsbald zur »libertären Grimasse weltbeherrschender Digitalkonzerne erstarrt«.88 Er greift in diesem Zusammenhang zahlreiche Sorgen im Hinblick auf die neuen Kommunikationsräume auf, die sich besonders zugespitzt in seiner Aufgabenbeschreibung der Massenmedien widerspiegeln, deren »gelenkte öffentliche Kommunikation« aus seiner Sicht den alleinigen Bereich bilde, »worin sich die kommunikativen Geräusche zu relevanten und effektiven öffentlichen Meinungen verdichten können«.89

Der Beitrag, der vielen digitalen Kommunikationsräumen im Ergebnis ihre Daseinsberechtigung abspricht, ist nicht frei von Kritik geblieben. Der US-amerikanische Journalist Jeff Jarvis, der 2009 mit seinem Buch Was würde Google tun? breitere Bekanntheit erlangte, betonte kurz nach der Veröffentlichung, dass es produktiver gewesen wäre, das Netz als das zu begreifen, zu dem es sich entwickelt, und seine Weltanschauung entsprechend anzupassen. Stattdessen sei Habermas’ Buch davon geprägt, dem Internet die eigene Ideologie aufzudrücken.90

Vor dem Hintergrund einer Prüfung der legitimatorischen Folgen möchten wir uns daher an dieser Stelle auf eine Begründung von neuen »Spielregeln« für die digitale Öffentlichkeitsbildung beschränken, die auf die staatliche Souveränität erhebliche Auswirkungen haben. Zu diesen grundlegenden neuen Spielregeln gehört unter anderem die mit der Digitalisierung einhergehende Erweiterung des relevanten politischen Raumes. Aufgrund der prinzipiell nicht an staatlichen Grenzen haltmachenden digitalen Verbreitung von Inhalten und Meinungen ist das Volk91 als Legitimationssubjekt der demokratischen Herrschaftsordnung nicht mehr zwingend mit der relevanten Öffentlichkeit deckungsgleich.92 Die inländische Öffentlichkeit kann aus diesem Grunde ohne Weiteres durch externe Kommunikatoren (aus einem anderen politischen System und Rechtskreis) leicht beeinflusst werden. Und zweitens: Bürgern und Staat ist es heute schneller, leichter und direkter möglich, miteinander kommunizieren. Die Schattenseite: Medienangebote können einer ihrer Kernaufgaben, der Einordnung und Moderation des öffentlichen Diskurses, nur noch in abnehmender Art und Weise nachkommen, was die Verbreitung von falschen Informationen befördert.93 Weitere Änderungen der Öffentlichkeitsbildung kommen hinzu.94

Die Folgen dieser Entwicklungen sind gravierend: Der Wahlentscheidung des Souveräns, aus der die Regierung ihre Legitimität zieht, mangelt es nämlich an der entsprechenden substanziellen Grundlage, wenn der Meinungs- und Willensbildungsprozess nachhaltig gestört ist. Letztlich entsteht durch die beschriebenen Entwicklungen folgendes Paradoxon: In der Theorie konnten noch niemals in der gesamten Menschheitsgeschichte so viele Menschen wie heute mühelos miteinander kommunizieren und – nach dem Ideal der Aufklärung – sachlich über die besten Argumente streiten, damit der vernünftigste Konsens im Sinne aller erreicht wird.95 In der Praxis aber zersplittert die Gemeinschaft Jahrhunderte später in verschiedenste Enklaven, die ihre eigenen Positio-nen zuweilen radikalisieren. Minderheiten – vor allem besonders laute Minderheiten – drohen auf diese Weise schnell zu (gefühlten) Mehrheiten zu werden, sodass Repräsentativität verloren geht. Zugleich wird die Politik in Versuchung geführt, Stimmungen unreflektiert aufzugreifen und gezielt zu bedienen. So wird die staatlich organisierte repräsentative Demokratie zunehmend fragil.96

Ethische Folgefragen wären: Wer kommuniziert letztlich mit/über wen? Wer kann wen manipulieren und die Menschenwürde jedes Einzelnen damit in Frage stellen? Und wie steht es mit fairer Partizipation im Rawls’schen Sinne, wenn eine sehr kleine Zahl von Individuen aus Tech-Firmen Milliarden andere Menschen zu kontrollieren und mittels algorithmischer Ausspielungen zu beeinflussen vermag? All dies sind auch Kernthemen der theologischen Ethik, die u. a. die Datenintegrität betreffen, aber auch weit über diese hinausgehen.

2. Datenmacht und vernachlässigte Schutzpflichten



Ein wesentlicher Pfeiler, damit Bürger einem Herrschaftsträger nachhaltig zutrauen, Macht über sie auszuüben, ist die Tatsache, dass sie ihm eine besondere Kompetenz zuschreiben. Dass es erhebliche Auswirkungen auf eine Organisationsform hat, wenn die »Beherrschten« zunehmend das Gefühl haben, dass der »Herrscher« weniger Kompetenz – meist gleichbedeutend mit Wissen – mitbringt als sie selbst oder jemand Drittes, lässt sich in allen sozialen Umfeldern nachweisen. Der Verantwortliche mag zwar noch formal legitimiert sein, büßt jedoch schnell seine gesamte Autorität ein. Die Folge: Die Beherrschten wenden sich ab. Hier lassen sich angesichts der bereits beschriebenen Datenmacht der Plattformen aber zahlreiche Machtverschiebungen feststellen. Bereits vor zehn Jahren wies der Soziologe Christoph Kucklick darauf hin, dass nur vier zufällig ausgewählte Informationen darüber, wo sich ein Mensch im Laufe eines Tages aufhält, ihn schon mit 95-prozentiger Sicherheit identifizieren.97 Jeder, der ein Smartphone besitzt, das mit den Betriebssystem iOS oder Android ausgestattet ist, und die entsprechenden Lokalisierungs- und Kartendienste aktiviert, kann damit von Apple und Google entsprechend zugeordnet werden. Facebook ist in der Lage, detaillierte Persönlichkeitsmerkmale bis hin zur sexuellen Orientierung aus wenigen Likes abzuleiten.98 Das Wissen über einzelne Personen geht also bis in die tiefsten Persönlichkeitsmerkmale. Und hinzukommt: Die zuletzt maßgeblich von den Digitalplattformen vorangetriebene Künstliche Intelligenz entwickelt sich rasant weiter und kann immer schneller neue Muster erkennen.

All dies mündet letztlich in eine Vertrauenskrise der Bürger in die Fähigkeiten des demokratischen Staates. Das tangiert in erster Linie den Schutz der Privatsphäre, deren Mangel auch Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit hat, sofern es im Ergebnis an privaten Rückzugsräumen mangelt. Anders als der Datenschutz, bei dem es darum geht, Informationen, die sich auf eine bestimmte oder bestimmbare (lebende) natürliche Person beziehen, abzusichern, ist das Recht auf Privatsphäre als allgemeines Menschenrecht anerkannt.99 Hinzu kommt das Vertrauen, dass der Staat das meiste Wissen über seine Legitimationssubjekte und das Geschehen innerhalb seiner Grenzen hat. Und damit noch gar nicht berührt ist das problematische Thema der digitalen Manipulation von Wahlen und politischer Meinungsbildung auf Basis der beschriebenen Datenmacht.

VI Plattformen als Staaten



Angesichts der hohen Bedeutung der digitalen Plattformen drängt sich herrschaftsbegründend die Frage auf, wie eine digitale Neuinterpretation der klassischen Staatsdefinition aussehen könnte. Eine allgemein gültige Definition des Begriffes Staat existiert nicht. Anstelle einer detaillierten staatstheoretischen Begründung ist unser Ausgangspunkt Georg Jellineks berühmte, wenn auch keineswegs unumstrittene100 Drei-Elemente-Lehre. Maßgebliche Staatselemente sind demnach Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt.101

Mit anderen Worten: Der moderne Staat konstituiert sich durch den Anspruch einer Zentralgewalt und ihres Apparats auf politisch-institutionelle Kontrolle über ein spezifisches, abgrenzbares Territorium und die dort lebende Bevölkerung.102 Jellinek lässt dabei keinen Zweifel, dass dem sozialen Staatsbegriff (der Wirksamkeit des Staates) die juristische Erkenntnis des Staates (der Staat als normative Größe) nachfolgt.103 Der Staat sei »zunächst immer etwas Faktisches«, wozu dann Gewöhnung und Recht hinzuträten.104 Mit anderen Worten: Auf einen (ohnehin eher eine geringe Hürde darstellenden) Staatsgründungsakt kommt es nach hier maßgeblichem Verständnis ebenso wenig an wie auf den nach außen transportierten Willen, ein Staat zu sein. Entscheidend sind die materiellen Kriterien.105 Selbst wenn ein Staat im völkerrechtlichen Sinn erst dann angenommen werden mag, wenn er sich selbst als solchen bezeichnet,106 kann dies nur das Ende eines dynamischen Prozesses sein, für den entscheidend ist, inwieweit im Laufe der Zeit immer mehr Staatsfunktionen erfüllt werden.107 Denn: Historisch ist die Entwicklung von Staaten von Anfang an nie linear gewesen, sondern eher in Wellenbewegungen verlaufen.

1. »Staatsgebiet« und »Staatsvolk«



Seit Jahrhunderten hängen Staat und Raum vor allem in Europa und Nordamerika eng miteinander zusammen. Der Staat ist demnach an ein fest definiertes Territorium geknüpft. Selbstverständlich ist dieser Zusammenhang allerdings nicht. Man denke allein an den »Personenverbandsstaat« im Frühmittelalter. Und an einen grenzenlosen virtuellen Raum, wie ihn das Internet heute darstellt, war vor über 100 Jahren natürlich auch nicht einmal ansatzweise zu denken. Ist das Konzept des Territoriums im »digitalen Zeitalter« also gänzlich überholt?

Eine solche geschlossene Frage muss klar verneint werden. Denn die Digitalsphäre existiert keineswegs losgelöst vom analogen Raum. Um der Dynamik und immensen Bedeutung der Digitalisierung andererseits gerecht zu werden, interpretieren wir im Folgenden den von Jellinek geforderten Raumbezug neu und erweitern ihn um eine digitale Ebene, die aber (nur) dann eigenständige Bedeutung hat, soweit über diese eine »exklusive« Zentralgewalt ausgeübt wird.108 Denn auch für Jellinek bezeichnet das Land, auf dem der staatliche Verband sich erhebt, »seiner rechtlichen Seite nach den Raum, auf dem die Staatsgewalt ihre spezifische Tätigkeit, die des Herrschens, entfalten kann«.109 Wie es um diese Exklusivität bestellt ist, ist die zentrale Frage.

Laut Jellinek bilden die dem Staate zugehörigen Menschen in ihrer Gesamtheit das »Staatsvolk«, wobei das »Staatsvolk« mit dem »staatlichen Herrschaftsbereich« zusammenfällt.110 Diese Verknüpfung ist entscheidend. Wenn wir also soeben den Raumbezug um eine digitale Ebene erweitert haben, gehören zu dem relevanten »Volk« automatisch diejenigen Menschen, über die digitale Herrschaft in dem jeweiligen Raum exklusiv ausgeübt wird. Diese Kriterien sind für den erweiterten Staatsbegriff notwendig und auch hinreichend.111 Legt man dieses Parallelkonzept zugrunde, bedarf es keiner zusätzlichen soziologischen Kriterien für eine Volkszugehörigkeit. Auch hier bleibt also entscheidend, wie weit und im Sinne des Friedens von Münster und Osnabrück »souverän« die »Staatsgewalt« in der digitalen Sphäre wirkt.

2. »Staatsgewalt« von Plattformen



Das dritte Jellinek’sche Kriterium ist das entscheidende. Zugleich ist es das komplexeste. Nach Jellinek bedeutet Staatsgewalt, unbedingt befehlen und Erfüllungszwang ausüben zu können.112 Staatsgewalt umfasst mit anderen Worten die exklusive Befugnis, das Verhalten der Menschen in der Gemeinschaft verbindlich zu regeln und gegebenenfalls auch zu sanktionieren. Entscheidend ist damit, wie die Kräfteverhältnisse in den virtuellen Räumen faktisch sind. Ob man Plattformmacht wirklich mit Staatsgewalt gleichsetzen kann, hängt mit anderen Worten von zwei Faktoren ab: von der gesetzesgleichen Wirkung der Plattform-Regeln und von der Exklusivität des Wirkungsanspruchs.

Zunächst erscheint der geschilderte Befund, dass Plattformen innerhalb ihres Hoheitsbereiches eigene Regelungen aufstellen (zum Beispiel Gemeinschaftsstandards in sozialen Netzwerken), nach denen sich alle Nutzer richten müssen, schierer Ausdruck ihrer wirtschaftlichen Freiheit zu sein. Spiegelbild der Freiheit, Rechtsverhältnisse frei ausgestalten zu dürfen, ist allerdings die Freiheit, sich gegen die vertragliche Bindung an sich und für Alternativen am Markt entscheiden zu können, was bereits bei Duopolen deutlich erschwert wird. Mit anderen Worten: Nutzungsbedingungen von de facto alternativlosen und systemrelevanten Plattformunternehmen wird man in der Tat eine gesetzesgleiche Wirkung attestieren können. Hierbei kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an.

Die zweite Voraussetzung, die Exklusivität dieses Wirkungsanspruchs, ist das kritischste Kriterium. Es ist nur dann zu bejahen, wenn die Plattform für ihren virtuellen Raum etwaige gegensätzliche staatliche Regeln nicht (mehr) akzeptiert. Hier ließen sich in der Vergangenheit verschiedene »Emanzipationstendenzen« von Plattformunternehmen feststellen, etwa als Meta trotz gegenteiliger Vorgaben der Europäischen Kommission Daten und Konten von WhatsApp und Facebook zusammenführte113 oder sich Apple weigerte, einer richterlichen Anordnung nachzukommen, um Daten eines Handys herauszugeben.114 Es ließen sich weitere Beispiele nennen.

Eines ganz besonderen Augenmerks bedürfen die inhaltlichen Vorgaben sozialer Netzwerke. Denn diese haben, wenn sie eine zentrale kommunikative Rolle einnehmen, nicht nur wirtschaftliche Folgen, sondern direkte Effekte auf die Bildung der öffentlichen Meinung. Wenn beispielsweise ein Netzwerk wie Facebook qua AGBs darüber bestimmen kann, ob es sich bei einem Medienbericht über ein »menschengemachtes« Corona-Virus um eine (zu unterdrückende) Verschwörungstheorie handelt, während diese Art der Äußerung im jeweiligen Staat der Meinungsfreiheit unterliegt, ist dies kritisch.

Damit aber an dieser Stelle kein falscher Eindruck entsteht: Erstens kommen Plattformen heute »natürlich« in der ganz überwiegenden Zahl den Vorgaben der einzelnen Territorialstaaten nach und verhalten sich in der Regel und nach derzeitigem Ermessen gesetzestreu.115 Und zweitens ist selbstverständlich nicht jede Weigerung, einer staatlichen Anforderung nachzukommen, zugleich eine Infragestellung seiner Souveränität und Autorität, soweit damit nur rechtsstaatliche Garantien in Anspruch genommen werden. Wenn der jeweilige Territorialstaat aber in Zukunft außerstande ist, in der jeweiligen »digitalen Welt« seine Regeln durchzusetzen, so existiert in diesen Fällen ein paralleler virtueller Raum mit eigenen Regeln.116

VII Schluss



Wir konnten feststellen, dass es im digitalen Zeitalter zu einer zunehmenden Relativierung der Macht des Territorialstaates zugunsten digitaler Plattformen und ihrer Eigentümer kommt. Für Anhänger des Libertarismus – einer besonders im Silicon Valley verbreiteten Philosophie – ist dies nicht per se eine schlechte Nachricht. Ihr zufolge besteht die Freiheit der Menschen in einem natürlichen Recht an der eigenen Person. Staatliche Gewalt und staatlicher Zwang sind grundsätzlich untersagt, weil sie deren natürliche Rechte verletzen. Ein entsprechendes Diktat ist daher ausschließlich zur Vorbeugung und Abwehr von und als Reaktion auf Rechtsverletzungen zulässig.117

Der Libertarismus kann aber aufgrund des damit einhergehenden Dissens zwischen kollektiver und individueller Selbstbestimmung zugleich mit dem demokratischen Grundkonzept und den damit zusammenhängenden staatlichen Strukturen nicht nur ethisch in Konflikt geraten. Denn für Libertäre steht der einzelne Mensch im Vordergrund, der sich Mehrheitsentscheidungen nicht beugen sollte. Dass auch digitale Plattformen »Zwänge« im obig beschriebenen Sinne ausüben, wird dabei geflissentlich ignoriert.

Die Ausprägungen der vielschichtigen Beziehung zwischen Plattformmacht und Libertarismus auf der einen Seite und territorialer Staatsmacht und dem einzelnen Bürger als Grundrechtsträger und gleichberechtigtem Geschöpf auf der anderen Seite können wie folgt zusammenfasst werden:

– Digitalplattformen fallen Schritt für Schritt immer mehr hoheitliche Aufgaben zu. Damit erhöht sich die Abhängigkeit vieler Territorialstaaten von den privatwirtschaftlichen Unternehmen. Der demokratische Staat verliert auf diese Weise Gestaltungsspielräume und beschneidet selbst seine Einflusssphäre. Im schlimmsten Fall sind Entscheidungen nicht mehr auf den einzelnen Bürger deduzierbar.

– Zugleich hat die Neujustierung der digitalen Öffentlichkeit Konsequenzen für die Input-Legitimation des Staates. Durch die beschriebene Störung des Meinungs- und Willensbildungsprozesses leidet die Wahlentscheidung des Souveräns.

– Digitale Plattformen erweisen sich in mancherlei Hinsicht als dem Territorialstaat überlegen. Dies betrifft vor allem ihre Datenmacht, die ihnen gegenüber dem Staat einen erheblichen Informationsvorsprung verschafft. Der Staat verliert seine Position als Informationsgarant.

– Der analog konstituierte Territorialstaat kommt heute nicht allen seinen Schutzpflichten in der Weise nach, wie es geboten wäre. Dies gilt an erster Stelle für den Datenschutz der Bürger gegenüber den Digitalplattformen. Auf vielen Ebenen riskiert die Demokratie aus all diesen Gründen, das Vertrauen seiner Bürger einzubüßen.

– Digitalplattformen lassen sich in vielerlei Hinsicht mit »Staaten« im Jellinek’schen Sinne vergleichen. Dies führt zumindest zu einer immer stärker werdenden »Staatsähnlichkeit«. 118

Ein Libertärer wird aus obigen Gründen wenig Anstoß daran nehmen, wenn mehr und mehr hoheitliche Aufgaben an Plattformen abgegeben werden. Dagegen sind die Probleme aus der Perspektive einer christlich begründeten, politischen Ethik beträchtlich, wenn etwa Individuen im digitalen Raum nicht mehr als gleichberechtigte Bürger, sondern nur noch als ökonomisches Mittel/Objekt und nicht mehr als Zweck an sich selbst behandelt werden. Staatliche Souveränität und Demokratie sind für Bürger kein Selbstzweck, sondern sie sichern ihre unveräußerliche Würde (Art. 1 GG) und ihre Grund- und Freiheitsrechte. Diese sind eben nicht nur Abwehrrechte gegen Staat, sondern gerade im digitalen Raum auch Abwehrrechte gegen den Zugriff von privaten Unternehmen auf die bürgerliche Privatsphäre und Datensicherheit. Für die demokratischen Territorialstaaten, die sich nach dem Souveränitätsverständnis von 1648 definieren und auf dieser »Software« laufen, sind all dies hochriskante Entwicklungen. Und für das Individuum ist all dies wie gezeigt mit unübersehbaren ethischen Risiken hinsichtlich seiner Menschenwürde und Gleichberechtigung verbunden. Auch theologisch betrachtet sind Menschen dabei als Individuen zwar nicht gleich, aber gleich vor Gott und gleichberechtigt untereinander und entsprechend zu behandeln.

Im Zuge der Digitalisierung hat dieser alte Befund eine ganz neue Aktualität und Virulenz, die analoge Ethiken und Staatstheorien offenbar noch gar nicht berücksichtigen: Der demokratische Territorialstaat muss reagieren, wenn er seinen Souveränitätsanspruch und sein darauf fußendes Gewaltmonopol auch auf digitalem Feld durchsetzen und verteidigen möchte. Denn Souveränität ist nicht teilbar – genauso wenig wie Menschenwürde. Und ein Staatswesen ohne Legitimation ist schnell keines mehr.

Abstract



The article examines the new ethical and legitimization risks connected with the increasing power of digital platforms. These risks, the virulence of which is often underestimated, relate to the competition between the emerging private-sector and an indivisible state claim to sovereignty and monopoly over the use of force. In a democracy, such constituting pillars of every constitutional state are not an end in themselves; rather, they ultimately safeguard the dignity of every individual, whom theological ethics defines as equal before God and equal in relation to all other individuals.

This indivisible claim to sovereignty and, as a consequence, the dignity of the individual as a self-determined citizen is increasingly being challenged by digital platforms through their monopolis- tic access to social infrastructures and the formation of political opinion.

Fussnoten:

1) Der Beitrag basiert auf dem Buch Holzgraefe, Moritz/Oermann, Nils Ole, Digitale Plattformen als Staaten. Legitimität, Demokratie und Ethik im digitalen Zeitalter, Freiburg i. Br. 2023.
2) Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1985, 28.
3) Huber, Wolfgang, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 3. Aufl. Gütersloh 2006, S. 270–2; Lange, Dietz, Ethik in evangelischer Perspektive. Grundlagen christlicher Lebenspraxis, 2. Aufl., Göttingen 2002, 488 f.; Mühling, Markus, Systematische Theologie: Ethik, Göttingen 2012, 241–243.
4) Ähnlich Belleflamme, Paul/Peitz, Martin, The Economics of Platforms: Concepts and Strategy, Cambridge 2021, 29: Eine Plattform sei eine Instanz, die Wirtschaftsakteure zusammenbringe und aktiv Netzwerkeffekte zwischen ihnen steuere.
5) Kallen, Paul-Bernhard, Wir brauchen einen Kraftakt, Interview in: Handelsblatt vom 3.8.2020, 19, mit Bezug auf Apple und Siemens.
6) Meltwater (Ed.), Digital 2023. Global Overview Report, in: Meltwater.com Januar 2023, abrufbar unter https://www.meltwater.com/en/global-digital-tre nds, zuletzt besucht am 10.2.2023, 73, zu den meistbesuchten Websites (Erhebungszeitraum 1.9.–30.11.2022); 182 zu den sozialen Netzwerken (Eigenangaben; Statistik für 2022); 337 zur Android-Verbreitung (per November 2022).
7) Höppner, Thomas/Piepenbrock, Tom, Digitale Werbung und das Google Ökosystem, Frankfurt a. M. 2023, 7.
8) Gegenhuber, Thomas, Eine Vision für das digitale Europa. Von der widerspenstigen Zähmung der Plattformen zu einem digitalen Humanismus, Bonn 2020, 9, der auch von »Monarchen von technologischen Gnaden« spricht.
9) Vgl. Zuboff, Shoshana, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the new Frontier of Power, London 2019, 197 ff.
10) Vgl. auch Schliesky, Utz, Legitimität. Vergangenheit, Gegenwart und digitale Zukunft des Staates und seiner Herrschaftsgewalt in einem Begriff, Berlin 2020, 62 ff.
11) Vgl. im Detail Economist Intelligence (Ed.), Democracy Index 2021.
12) Vgl. mit Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG beispielsweiseBVerfGE 123, 267.341 f. Auch in Art. 1 EU-Grundrechtecharta ist dieses Grundrecht explizit erwähnt.
13) Vgl. näher Kirste, Stephan, Die Begründung der Demokratie aus den Menschenrechten, in: Zeitschrift für Menschenrechte 02/2018, 8 f. m. w. N.
14) Vgl. Schliesky, Utz, Der lange Weg von Athen nach Thessaloniki. Welchem Demokratiemodell folgt der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags?, in: EuR 2004, 124, mit Bezug auf den antiken Geschichtsschreiber Thukydides (*vor 454 v. Chr.; † vermutlich zwischen 399 v. Chr. und 396 v. Chr.): »Mit Namen heißt unsere Verfassung, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft.«
15) Merkel, Wolfgang/Petring, Alexander, Politische Partizipation, und demokratische Inklusion, in: Mörschel, Tobias/Krell, Christian (Hgg.), Demokratie in Deutschland. Zustand, Herausforderungen, Perspektiven, Wiesbaden 2012, 93.
16) Dahl, Robert, Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971, 5. Später hat Dahl diese konstituierenden Elemente mit Bezug auf eine moderne repräsentative Demokratie weiter ausdifferenziert, Dahl, Political Science Quarterly, Band 120 (2005), 188 f.
17) Näher Schliesky, Utz, Legitimität (s. Anm. 9), 47, mit Verweis auf BVerfGE 44, 125.138.
18) Vgl. Schliesky, Utz, Prekäre Legitimität. Die Staatsgewalt in Zeiten der Pandemie, ZRP 2021, 28.
19) Dahl, Robert, What Political Institutions Does Large-Scale Democracy Require, in: Political Science Quarterly, Band 120 (2005), 188.195: »[If] we accept the desirability of political equality, then every citizen must have an equal and effective opportunity to vote, and all votes must be counted as equal.«.
20) Siebke, Mechthild-Maria, Legitimation, Legitimität und europäische Menschenwürde. Ein Beitrag zur Diskussion über das europäische Recht auf Demokratie, Heidelberg 2018, 25. Zur Differenzierung von Input- und Out-put-Legitimation vergleiche grundlegend Scharpf, Fritz W., Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?, Frankfurt a. M./New York 1999, 16 ff.
21) Vgl. hierzu Birkenstock, Eva/Dellavalle, Sergio, Legitimität im nationa-len, supranationalen und internationalen Kontext, in: Legitimität des Staates, Baden-Baden 2020, 104.
22) Decker, Frank u. a., Vertrauen in Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?, Bonn 2019, 4.
23) Scharpf, Fritz W., Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, MPIfG Working Paper Nr. 97/9, Max Planck Institut, Köln 1997, Teil 3.
24) Bühlmann, Marc u. a., The Quality of Democracy: Democracy Barometer for Established Democracies – Hertie School of Government Working papers Nr. 22, Berlin 2008, 45, begründen die legitimatorische Krise mit einer sich wandelnden Rolle der Medien, der zunehmenden Sichtbarkeit von Korruption, der Globalisierung und der Internationalisierung.
25) Siebke, Legitimation (s. Anm. 19), 204.
26) Schliesky, Legitimität (s. Anm. 9), 139 f.
27) Benz, Arthur, Postparlamentarische Demokratie? Demokratische Legitimation im kooperativen Staat, in: Greven, Michael (Hg.), Demokratie – eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Opladen 1998, 202; Brennecke, Volker, Demokratie und Technik im kooperativen Staat. Zum Dilemma staatlicher Technikregulierung am Beispiel der umwelttechnischen Grenzwertbildung, in: Renate Martinsen/Georg Simonis (Hgg.), Demokratie und Technik – (k)eine Wahlverwandtschaft?, 200.
28) Decker u. a., Vertrauen (s. Anm. 21), 4.
29) Saward, Michael, Enacting Democracy, in: Political Studies, Vol. 51 (2003), 161. Für einen Überblick über die verschiedenen Demokratietheorien von der Antike bis zur Gegenwart vgl. Massing, Peter u. a., Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Schwalbach/Ts, 2017.
30) Streinz, Rudolf (Hg.)-Huber, EUV/AEUV, Vertrag über die Europäische Union, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 3. Aufl., München 2018, Art. 10, Rn. 3.
31) Vgl. auch Dahl, Polyarchy (s. Anm. 15), 9, der den Begriff »Demokratie« für das unerreichbare Ideal einer vollständig demokratischen Staatsform hält.
32) Vgl. Saward, Michael, Enacting Democracy, Political Studies, Band 51 (2003), 161 ff.
33) Ähnlich Gaitán, Ana, Die Begründung der Menschenrechte. Eine Untersuchung zu Kant, Rawls, Habermas und Alexy, Kiel 2010, 11, die ebenfalls Minimalanforderungen an die Begründung eines »gerechten demokratischen Verfassungsrechtsstaates« stellt.
34) Beetham, David, Freedom as the Foundation, in: Diamond, Larry; Morlino, Leonardo (Eds.), Assessing the Quality of Democracy, Baltimore 2005, 62, mit Verweis auf Aristoteles, der die Freiheit als Ziel der Demokratie bezeichnete.
35) Ebd.
36) 1962 erschien Habermas’ erstes Buch mit dem Titel »Strukturwandel der Öffentlichkeit«. 2022 veröffentlichte er die Nachfolgeschrift »Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik«.
37) Vgl. Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechtes und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, 111.151. Vgl. auch Papadopoulou, Theodora, Deliberative Demokratie und Diskurs. Eine Debatte zwischen Habermas und Rawls, Tübingen 2006, 68.
38) Grundlegend Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Vgl. auch ders., European Journal of Philosophy, Band 3 (1995), 17: »Private and public autonomy mutually presuppose each other in such a way that neither human rights nor popular sovereignty can claim primacy over its counterpart.«
39) Alexy, Robert, weist mit Recht darauf hin, dass sich Habermas höchstselbst mit diesem Spannungsfeld auseinandersetzt, wenn er den »Idealismus des Verfassungsrechts« dem »Materialismus einer Rechtsordnung« gegenüberstellt und bemerkt, dass die Mehrheitsregel »durch einen grundrechtlichen Minderheitenschutz eingeschränkt« sei, vgl. kritisch ebd. m. w. N.
40) Vgl. in diesem Zusammenhang Rawls, John, The Law of Peoples, With »The idea of public reason revisited«, 4. Aufl., Cambridge 2002, 79: »A second claim of those who hold that the Law of Peoples is not sufficiently liberal is that only liberal democratic governments are effective in protecting even those human rights specified by the Law of Peoples.«. Ausführlich auch Nussberger, Angelika, Die Menschenrechte. Geschichte, Philosophie, Konflikte, München 2021 sowie: Kirste, Stephan, Zeitschrift für Menschenrechte 02 (2018), 8 ff., mit Hinweis auf Rawls, dort Fn. 8. Rawls versteht dabei Menschenrechte als Rechte von Individuen gegenüber dem Staat, die notwendige Bedingung eines jeden Systems sozialer Kooperation seien, vgl. Mosayebi, Reza, Rawls’ Menschenrechtskonzeption, in: Hahn, Henning/Mosayebi, Reza (Hgg.), John Rawls. Das Recht der Völker, Berlin 2019, 99 m. w. N. Er schreibt den Menschenrechten insofern eine grenzsetzende Rolle für die Souveränität zu (104).
41) Vgl. mit Hinweis auf Locke näher Keynes, Edward, Liberty, Property, and Privacy. Toward a Jurisprudence of Substantive Due Process, Penn State University Park 1996, 8.
42) Rawls, John, The Law of Peoples, With »The idea of public reason revisit-ed«, 4. Aufl., Cambridge 2002, 65.
43) Herr, Ranjoo, Overlapping consensus view of human rights: a Rawls-ian conception, in: International Theory, 15 (1), 15 (1), 4 f.; Mosayebi, Reza, Rawls’ Menschenrechtskonzeption, 107.
44) Mosayebi, Reza, Rawls’ Menschenrechtskonzeption, 104 m. w. N.
45) Vgl. Theodor Maunz u. a. (Hg.), Durner, Grundgesetzkommentar, Loseblatt, 99. Ergänzungslieferung, München 2022, Art. 10, Rn. 33, wonach die Vollversammlung der Vereinten Nationen kein Völkerrecht schaffen kann, sodass es sich um eine nicht bindende Resolution der Generalversammlung handele.
46) Ob und wieweit sie mittlerweile durch Erstarkung zum Gewohnheitsrecht oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz völkerrechtliche Bindungen erzeugt, ist umstritten. Vgl. auch Payandeh, Mehrdad, Einführung in das Recht der Vereinten Nationen, in: JuS 2012, 506.511.
47) Abrufbar unter https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (zuletzt besucht am 17.10.2023).
48) Donnelly, Jack, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca 2003, 40.
49) de Baets, Antoon, A Successful Utopia: The Doctrine of Human Dignity, in: Historein, Band 7, 71.
50) Vgl. etwa die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten als völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedern des Europarats.
51) Mit Bezug auf internationales Menschenrecht beispielhaft Krajewsky, Markus, The State Duty to Protect Against Human Rights Violations Through Transnational Business Activities, in: Deakin Law Review Band 23 (2018), 13 f.18 m. w. N. In eine etwas andere Richtung aber der ehemalige stellvertretende UN-Generalsekretär und UN-Sonderbeauftragte für Unternehmen und Menschenrechte, John Ruggie, in seinem Report of the Special Representative of the Secretary-General on the Issue of Human Rights and Transnational Corporations and Other Business Enterprises, UN Doc A/HRC/8/5 (7. April 2008). Zur Einordnung ausführlich McBeth, Adam, Human rights in economic globalization, in: Sarah Joseph/Adam McBeth (Eds.), Research Handbook on International Human Rights Law, Cheltenham 2010, 152 f.
52) Spießhofer, Birgit, Was ist die »gesellschaftliche Verantwortung« von Unternehmen? Die Frage nach der Corporate Social Responsibility, in: IWRZ 2019, 68.
53) Weissbrodt, David, Roles and Responsibilities of Non-State Actors, in: Shelton, Dinah (Ed.), The Oxford Handbook of International Human Rights Law, Oxford 2013, 719.728 (»If a corporation endangers the rights of an individual, the state has a duty to ensure respect for human rights and to take preventive action.«); Schmahl, Stefanie, JuS 2018, 738.
54) Vgl. mit Bezug auf deutsches Verfassungsrecht auch Piallat, Chris, Von der Verantwortungsdiffusion zum Gemeinwohl in der digitalen Welt, in: Piallat, Chris (Hg.), Der Wert der Digitalisierung. Gemeinwohl in der digitalen Welt, Bielefeld 2021, 35, und Maunz, Theodor u. a. (Hgg.), Di Fabio, Udo, Grundgesetzkommentar, Loseblatt, 99. Ergänzungslieferung, München 2022, Art. 2 Abs. 1 Rn. 189 f., wonach der Gesetzgeber beispielsweise dann, wenn eine Schutzpflichtlage besteht, Regelungen schaffen müsse, die geeignet sind, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch vor Beeinträchtigungen von privater Seite zu bewahren.
55) Krajewsky, Markus, The State Duty to Protect Against Human Rights Violations Through Transnational Business Activities, Deakin Law Review Band 23 (2018), 18.
56) Vgl. zum Diskussionsstand Krajewsky, Markus, The State Duty to Protect Against Human Rights Violations Through Transnational Business Activities, Deakin Law Review Band 23 (2018), 14.23 ff. Dies geschieht unter Rückgriff auf das (unter anderem im Umweltrecht anerkannte)no harm-Prinzip, wonach ein Staat sein Hoheitsgebiet nicht dazu benutzen darf, einem anderen Staat zu schaden.
57) Beispielhaft Maunz, Theodor u. a. (Hg.), Scholz, Grundgesetzkommentar, Loseblatt, 99. Ergänzungslieferung, München 2022, Art. 23, Rn. 128 f. mit Verweis aufBVerfGE 123, 358 (»Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem […] das zivile und militärische Gewaltmonopol.«).
58) Vgl. Dobner, Petra, Transnationaler Konstitutionalismus, in: Marcus Llanque/Daniel Schulz (Hgg.), Verfassungsidee und Verfassungspolitik, Berlin 2015, 156 f.
59) Grimm, Daniel, The State Monopoly of Force, in: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Eds.), International Handbook of Violence Research, Dordrecht 2003, 1043.
60) Vgl. Bühlmann u. a., Quality (s. Anm. 23), 12.
61) Im Gegensatz dazu gibt es inRousseaus direkten Demokratien praktisch keine Kontrolle durch die Regierung, und die Identität zwischen Regierten und Regierung ist gegeben. In seiner Fiktion wird dervolonté de tous (Wille aller) auf magische Weise in denvolonté generale (Gemeinwille) verwandelt, der keine Kontrolle durch eine Regierung braucht und verträgt, vgl. Bühlmann u. a., Quality (s. Anm. 23), 10 ff.
62) Vgl. Bühlmann u. a., The democracy barometer: a new instrument to measure the quality of democracy for comparative research, European Political Science, Band 11 (2012), 524.
63) Vgl. näher auch Beetham, Freedom (s. Anm. 33), 61 ff.
64) Vgl. eher allgemein Strebel, Michael/Kübler, Daniel/Marcinkowski, Frank, The importance of input and output legitimacy in democratic governance. Evidence from a population-based survey experiment in four West European countries, in: European Journal of Political Research, 2018, No. 2, 491.
65) Hatje, Daniel, Demokratie als Wettbewerbsordnung, in: Vereinigung der Staatsrechtslehrer (Hg.), Gemeinwohl durch Wettbewerb? Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Graz vom 7. bis 10. Oktober 2009, Berlin 2010, 140 f. Ähnlich Piallat, Chris, Von der Verantwortungsdiffusion zum Gemeinwohl in der digitalen Welt, in: Chris Piallat (Hg.), Der Wert der Digitalisierung. Gemeinwohl in der digitalen Welt, Bielefeld 2021, 48 f., der darauf hinweist, dass Gemeinwohl Prozess und Ergebnis zugleich sei, stets weiterentwickelt und immer wieder akzeptiert werden müsse.
66) Vgl. Neidhardt, Friedhelm, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung, in: Birgit Krause/Benjamin Fretwurst/Jens Vogelgesang (Hgg.), Fortschritte der politischen Kommunikationsforschung, Wiesbaden 2007, 19 ff.
67) Vgl. zur Beobachtung der Politik Schlögl, Rudolf, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, 311 ff.
68) Eingehend Habermas, Jürgen, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022.
69) Beispielhaft Seeliger, Martin/Sevignani, Sebastian, A New Structural Transformation of the Public Sphere? An Introduction, in: Theory, Culture & Society 39 (4), 3.
70) Vgl. auch Lauth, Hans-Joachim, Demokratie und Demokratiemessung. Eine konzeptionelle Grundlegung für den interkulturellen Vergleich, Wiesbaden 2004, 73, wonach demokratische Partizipation auf der Möglichkeit einer ausreichenden Information über die zu entscheidenden Sachverhalte beruhe; Schliesky, Legitimität (s. Anm. 9), 74 f.
71) Beaufort, Maren, Medien in der Demokratie – Demokratie in den Medien: ein demokratietheoretisch fundierter Ansatz zur Erforschung der demokratischen Qualität von Medienrepertoires unterschiedlicher Nutzungsklassen, dargelegt am Beispiel einer zeitvergleichenden Analyse des politischen Informa-tionsangebots in den österreichischen Medien, Hamburg 2020, 11.
72) Zum Gesamten Schliesky, Legitimität (s. Anm. 9), 53 ff
73) Beaufort, Medien (s. Anm. 70), 24.
74) Delhey, Jan/Newton, Kenneth, Predicting Cross-National Levels of Social Trust: Global Pattern or Nordic Exceptionalism, in: European Sociological Review 21 (4), 311; vgl. Zum Vertrauensbegriff auch Decker u. a., Vertrauen (s. Anm. 21), 7 ff.
75) Vgl. näher Stiglitz, Joseph, On Liberty, the Right to Know, and Public Discourse. The Role of Transparency in Public Life, Oxford 1999, 21, der darauf hinweist, dass Offenheit und Transparenz umso notwendiger sind, je mehr Verantwortung delegiert wird.
76) PWC, Abhängigkeiten von Software-Anbietern, Abschlussbericht 2019, 7.
77) Vgl. zu aktuellen Angaben Rosenbach, Marcel/Wiedmann-Schmidt, Wolf, Abhängig von Microsoft, in: Der Spiegel vom 26.2.2022, 58.
78) Singer, Natasha, How Google took over the Classroom, in: Nytimes.com vom 13.5.2017, abrufbar unter https://www.nytimes.com/2017/05/13/technology/google-education-chromebooks-schools.html, zuletzt besucht am 17.10.2023.
79) Unter anderem wurde bekannt, dass Google aus den Schülerkonten Daten sammelte, die außerhalb der Schulanwendung zu Werbezwecken genutzt werden können. Nachdem dies bekannt wurde, wurde diese Praxis offensichtlich eingestellt, vgl. Busch, Christoph, Regulierung digitaler Plattformen als Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, WISO Diskurs 04/2021, Bonn 2021, 14.
80) Rosecrance, Richard, The Rise of the Virtual State, in: Foreign Affairs Vol. 75 (1996), 59.
81) Pessimistisch Ignatieff, Michael, Volksherrschaft ist keine Menüleiste, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte, 1. Aufl., Berlin 2015, 51: »Was die neuen Technologien ermöglichen, werden Staaten auch praktizieren. Es wird nicht leicht sein, dafür zu sorgen, dass diese Instrumente ausschließlich im Dienste der Demokratie eingesetzt werden.« So könnte eine staatliche Datennutzung von einer politischen über eine ökonomische bis hin zu einer gesundheitlichen Bewertung reichen.
82) Insoweit ist die Trennung zwischen »Plattformen als Teil des klassischen Territorialstaates«, »Plattformen als Risiko für den klassischen Territorialstaat« und »Plattformen als Staaten« nicht als vollkommen überschneidungsfreie Klassifizierung zu verstehen.
83) Laut Seemann, Michael, Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021, 303, sei es bereits an sich für die Demokratie ein Problem, dass Facebook den wichtigen Markt der öffentlichen Rede »besäße«.
84) Vgl. Lauth, Hans-Joachim, Demokratie und Demokratiemessung. Eine konzeptionelle Grundlegung für den interkulturellen Vergleich, Wiesbaden 2004, 74.
85) Verschiedene jüngere Untersuchungen sind mittlerweile zu dem Ergebnis gekommen, dass die Auswirkungen digitaler Medien ein zweischneidiges Schwert für die Demokratie sind. Etablierte Demokratien können sie demnach gefährden. Vgl. hierzu die Meta-Studie von Lorenz-Spreen, Philipp u. a., Systematic Review of Worldwide Causal and Correlational Evidence on Digital Media and Democracy, Nat Hum Behav (2022), abrufbar unter https://doi.org/10.1038/s41562-022-01460-1, zuletzt besucht am 26.12.2022, 1.13.
86) Vgl. hierzu und zu den sonstigen Social Media-Werten die Auswertung bei Fidler, Harald, Nachrichtennutzung – Hauptnachrichtenquellen in Österreich und International, Nachrichten über Social Media, Nachrichtenvermeidung, in: dieMedien.at, abrufbar unter: https://diemedien.at/stichwort/nachrichtennutzunghauptnachrichtenquellen-in-oesterreich-und-internationalnachrichten-ueber-social-media/?v=fa868488740a, zuletzt besucht am 17.10.2023.
87) In einem im Jahr 2006 veröffentlichten Aufsatz hatte er das Thema nur angerissen, vgl. Habermas, Jürgen, Political Communication in Media Society. Does Democracy Still Enjoy an Epistemic Dimension? The Impact of Normative Theory on Empirical Research, in: Communication Theory Vol. 16 (2006), 411 ff. Er argumentiert dort auf 423, Anm. 3, dass das Internet nur in einem bestimmten Kontext eindeutige demokratische Verdienste für sich beanspruchen könne: die Untergrabung der Zensur autoritärer Regime. In liberalen Demokratien hingegen führe es zu einer Zersplitterung der öffentlichen Sphäre in eine riesige Anzahl von isolierten Themenöffentlichkeiten.
88) Habermas, Strukturwandel (s. Anm. 67), 45 f.
89) A. a. O., 39.
90) Jarvis, Jeff, Habermas Online, in: Medium.com vom 10.10.2022, abrufbar unter https://medium.com/whither-news/habermasonline-fe9fc95d9d77, zu­letzt besucht am 17.10.2023. Insbesondere bestehe die Rolle der Medien nicht darin, die öffentliche Meinung zu formen, sondern stattdessen die öffentliche Meinung anzuhören, wozu das Internet sie erstmals umfassend befähige.
91) An dieser Stelle sei der Einfachheit halber die rechtlich geschaffene Staatsangehörigkeit maßgeblich.
92) Vgl. hierzu Schliesky, Legitimität (s. Anm. 9), 80 ff.
93) Schäuble, Wolfgang, Das Prinzip Repräsentation – Verkannt, herausgefordert, unverzichtbar, in: FAZ vom 1.7.2021, 6.
94) Holzgraefe/Oermann, Digitale Plattformen (s. Anm. 1), 132 ff.
95) Vgl. hierzu Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, erg. Aufl., Ditzingen 2022, 64: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit Publizität verträgt, sind unrecht.«
96) Seemann, Michael, Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021, 368.
97) Kucklick, Christoph, Die granulare Gesellschaft, 3. Aufl., Berlin 2016, 105.
98) Schon vor Jahren wurde ermittelt, dass man aus 68 Facebook-Likes mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit die Hautfarbe eines Menschen richtig deuten könne und zu 88 Prozent, ob er homosexuell ist (Silberstein, Schlecky, Das Internet muss weg. München 2018, 58).
99) European Data Protection Supervisor (Ed.), Datenschutz, in: edps.europa.eu, abrufbar unter https://edps.europa.eu/data-protection_de, zuletzt besucht am 17.10.2023, wonach eine Anerkennung des Datenschutzes als Menschenrecht »noch nicht« gegeben sei. Privatsphäre und Datenschutz sind demnach aber zwei Grundrechte, die in den EU-Verträgen und in der EU-Charta der Grundrechte verankert sind.
100) Vgl. näher hierzu Kettler, Dietmar, Die Drei-Elemente-Lehre. Ein Beitrag zu Jellineks Staatsbegriff, seiner Fortführung und Kritik, Münster 1995, etwa 23.
101) Grundlegend Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1921, 180 f.: »Der Staat ist die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Verbandseinheit seßhafter Menschen.« Die Anerkennung durch Drittstaaten ist nach herrschender Meinung (deklaratorische Theorie) demgegenüber keine Voraussetzung der Staatlichkeit.
102) Schneckener, Ulrich, Fragile Staatlichkeit und State-building. Begriffe, Konzepte und Analyserahmen, in: Beisheim, Marianne/Folke Schuppert, Gunnar (Hgg.), Staatszerfall und Governance, Baden-Baden 2007, 102. Darauf ebenfalls Bezug nehmend: Cohen, Julie, Law for the Platform Economy, in: U. C. Davis Law Review Band 51 (2017), 199.
103) Neumann, Volker, Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, in: HFR 9/2012, 149.152.
104) Vgl. näher Jellinek, Staatslehre (s. Anm. 101), 268 f.
105) Das deutsche BVerfGE 123, 358, differenziert die »wesentlichen Bereiche demokratischer Gestaltung« aus.
106) Vgl. Schneckener, Fragile Staatlichkeit (s. Anm. 102), 102, wonach in der Praxis der internationalen Beziehungen ein Staat der Anerkennung durch an-dere bedarf, um nach innen und nach außen souverän handeln zu können.
107) Vgl. Murswiek, Dietrich, Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz, 2. Aufl., Freiburg 2008, 48, mit Bezug auf die Staatswerdung der Europäischen Union.
108) Ähnlich Cohen, Julie, Law for the Platform Economy, in: U. C. Davis Law Review Band 51 (2017), 200; Robles-Carrillo, Margarita, Digital Platforms. De-signing a Supranational Legal Framework, in: Inozemtsev, Maxim/Sidorenko, Elina/Khisamova, Zarina (Eds.), The Platform Economy, Singapur 2022, 51. Vgl. auch Sol-nit, Rebecca, Who will stop Google?, in: Salon.com vom 25.6.2013, abrufbar unter https://www.salon.com/2013/06/25/who_will_stop_google_partner, zuletzt besucht am 17.10.2023: »Google […] is rapidly becoming an empire. Not an empire of territory, as was Rome or the Soviet Union, but an empire controlling our access to data and our data itself.«
109) Jellinek, Staatslehre (s. Anm. 101), 394.
110) A. a. O., 98.406.426.
111) Klar ablehnend noch vor etwa zehn Jahren Chander, Anupam, Facebookistan, in: North Carolina Law Review Band 90 (2012), 1819, der darauf hinweist, dass »the deficiency regarding the first two criteria – a permanent population and a defined territory – would make nonsense out of an international law claim to statehood, at least under current law«.
112) Jellinek, Staatslehre (s. Anm. 101), 429.
113) Pressemitteilung derEuropäischen Kommission vom 20.12.2016, abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_16_4473, zuletzt besucht am 17.10.2023.
114) Darstellung des gesamten Falles bei Galloway, Scott, The Four. The hidden DNA of Amazon, Apple, Facebook, and Google, New York 2018., 60 ff.
115) Vgl. bereits die verschiedenen Fälle in unterschiedlichen Staaten bei Chander, Anupam, Facebookistan, in: North Carolina Law Review Band 90 (2012), 1819 ff.
116) Für weitere Beispiele und Details, insbesondere inhaltliche Vorgaben auf Plattformen, vgl. ausführlich Holz-graefe/Oermann, Digitale Plattformen (s. Anm. 1), 182 ff.
117) Knoll, Bodo, Minimalstaat. Eine Auseinandersetzung mit Robert Nozicks Argumenten, Tübingen 2008, 10.
118) Im Ergebnis ähnlich Robles-Carrillo, Margarita, Digital Platforms. Designing a Supranational Legal Frame-work, in: Inozemtsev, Maxim/Sidorenko, Elina/Khisamova, Zarina (Eds.), The Platform Economy, Singapur 2022, 50 f. Ähnlich auch, Cohen, Julie, Law for the Platform Economy, in: U. C. Davis Law Review Band 51 (2017), 199 (emerging transnational sovereigns).