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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1263-1266

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Schipka, Peter

Titel/Untertitel:

Loyalität – Verantwortung – Widerstand. Konfessionelle Aspekte einer Individualethik des Rechts.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2020. 256 S. = Studien der Moraltheologie. Neue Folge, 8. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783402119310.

Rezensent:

Lorenz Kähler

»Wie hältst du’s mit dem Recht?« ist die Gretchenfrage, die Theologen beantworten müssen, wenn sie das Verhältnis zum Staat bestimmen wollen. Diese Frage stellt sich in verschiedener Form: Ist staatliches Recht stets einzuhalten oder muss es bestimmte Mindestbedingungen erfüllen? Bleibt es immer nur unvollkommenes Menschenwerk oder kann es göttliche Gebote wiedergeben? Besteht es allein aus Entscheidungen der jeweiligen Herrscher oder spielen dafür auch vorpositive Vorgaben eine Rolle? Stets geht es um das Verhältnis des Gläubigen zum Recht, das von einer tiefsitzenden Skepsis über eine Indifferenz bis zu einer emphatischen Befürwortung reichen kann. Interessanterweise haben in jüngerer Zeit vermehrt Theologen solche Fragen gestellt und dem Recht in der Theologie damit zu neuer Aufmerksamkeit verholfen. Demgegenüber bemühen sich Rechtsphilosophen kaum noch um eine theologische Verankerung ihrer Theorien, nachdem die Darlegung ihrer Vereinbarkeit mit der Schrift über Jahrhunderte hinweg üblich war (etwa im 3. Teil von Hobbes’ Leviathan).

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Peter Schipka in dem zu besprechenden Buch allein nach theologischen Perspektiven auf das Recht fragt und dabei die umgekehrten Perspektiven der Rechtsphilosophie auf theologische Fragen weitgehend ausklammert. Er setzt voraus, dass die Existenz des Rechts nicht auf eine theologische Begründung angewiesen ist (14), was zumindest dann näher erläuterungswürdig erscheint, wenn man das Recht als Teil einer Welt ansieht, die Gottes Schöpfung ist und dem auch gerecht werden soll. Dabei geht es ihm weniger um die Darlegung einer eigenen Theorie als um einen Überblick über Gedanken, die drei katholische sowie zwei evangelische Theologen entwickelt haben und die für S. repräsentativ für die zeitgenössische Diskussion sind. Diese Repräsentativität wird nicht näher begründet, was den Gehalt der diskutierten Gedanken allerdings nicht schmälert. S. jedenfalls hält die Auswahl für ausreichend, um abschließend eine »konfessionelle Grunddifferenz« in der Rechtsethik festzustellen (231). Das ist als Ergebnis einer Dissertation in Katholischer Theologie, die S. nach mehrjähriger Tätigkeit als Generalsekretär der Österreichischen Bischofskonferenz fertiggestellt hat, nicht gänzlich überraschend. Jedoch sind die konfessionellen Unterschiede nicht überakzentuiert und reihen sich ein in erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen behandelten Autoren.

Aufgrund des mit der Arbeit erfolgenden Literaturvergleichs sind in der Einleitung die eigenen Gedanken S.s am stärksten ausgearbeitet. Darin betont er zunächst die Pluralität moderner Gesellschaften, in denen »die christliche Perspektive« nicht mehr die allein maßgebliche sei (18) und das Individuum im Vordergrund stehe. Entsprechend befürwortet er eine Individualethik, die nach den vom Einzelnen zu verantwortenden Handlungen frage, während es bei der Sozialethik um die Bewertung sozialer Institutionen wie insbesondere der vorgegebenen Rechtsordnung gehe. Diese Gegenüberstellung ist das zentrale Motiv für die Diskussion der nachfolgenden Theologen, wobei sich S. um den Nachweis bemüht, dass die katholischen Theologen eher einen individualethischen Ansatz verfolgten, während bei den evangelischen Theologen ein sozialethischer Ansatz prägend sei.

Dieser Kontrast überrascht insofern, als man von katholischen Denkern eine größere Rücksicht auf Institutionen wie die Kirche erwarten würde und damit eher eine Betonung der Sozialethik, während die Betonung des individuellen Gewissens in evangelischen Ethiken durchaus individualethisch erscheint. Dass S. evangelischen Autoren dennoch vorhält, sie folgten keiner Individualethik, sondern stellten die kirchliche Gemeinschaft und das Staatswesen in den Vordergrund, ist aber eine Umkehrung dieser evangelischen Außensicht auf katholische Institutionen, die zumindest zum Nachdenken anregt. Denn immerhin unterscheidet sich die »sozialethische« Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zu einer vorgegebenen und potentiell fremden Rechtsordnung tatsächlich von der »individualethischen« Frage, wie sich der Einzelne als Mitautor dieser Ordnung verstehen kann. Recht als Heteronomie steht im Kontrast zum Recht als Autonomie.

Ohne eine derartige Erläuterung aber bleibt S.s Einordnung von Positionen, welche die Mitverantwortung für das Recht betonen, als individualethisch unverständlich, weil es dabei immerhin um das Zusammenwirken verschiedener Personen geht und damit das Soziale in den Vordergrund rückt. Ebenso kann das Verhältnis des Einzelnen zu einem als fremd begriffenen Recht durchaus individualethisch sein. Auch die Annahme S.s, die Zwei-Reiche-Lehre vereitele einen individualethischen Zugang und führe in die Nähe zu rechtspositivistischen Positionen (53), ist nicht zwingend. Denn leitet man geltendes Recht nicht aus der Bibel ab und zählt es daher zum weltlichen Regiment, schließt dies weder dessen Legitimation durch Individualinteressen aus noch die Forderung nach Einhaltung eines ethischen Minimums.

Nach der Einleitung wendet sich S. den einzelnen theologischen Rechtsethiken zu. Als katholischen Repräsentanten behandelt er zuerst Eberhard Schockenhoff. Dieser sehe die Begründung des Rechts in einer Idee des »von Natur aus Rechten« und leite es damit nicht aus der Bibel ab. Zu diesem Rechten gehörten die natürlichen Rechte, die mit der Anerkennung moralischer Subjekte einhergingen. Erkannt würden sie durch die Vernunft, die geschichtlich geprägt sei, weshalb Schockenhoff auch von einem geschichtlichen Naturrecht spreche, das sich vom Rechtspositivismus abgrenze. In Anlehnung an Thomas von Aquin nehme Schockenhoff eine Mehrstufigkeit des Naturrechts an, die von Mindestbedingungen praktischer Vernunft bis hin zu einer Maximalkonzeption des Humanum reichten. Dabei nehme die Gewissheit in den konkreteren, unteren Stufen ab und spiele das Evangelium vor allem dort eine Rolle. Der Einzelne habe eine Mitverantwortung für das Ganze. Der Staat sei auf diese demokratische Grundtugend angewiesen.

Als zweiten Vertreter wählt S. mit Klaus Demmer den katholischen Theologen, der die individualethische Perspektive am deutlichsten verkörpere. Denn gut sei für Demmer eine Rechtsordnung nur insoweit, wie sie vom einzelnen Rechtsgenossen im Gewissen bejaht werde. Stärker als Schockenhoff suche er in der Rechtsethik die Verbindung zum Glauben und sehe die Kreuzestheologie sogar als »Höhepunkt der Rechtstheologie« an, weil der unschuldigste aller Menschen im Namen einer Rechtsordnung verurteilt werde, die das Böse zu bekämpfen habe (100). Allerdings gehe Demmer zugleich davon aus, dass jeder Mensch guten Willens – und damit nicht nur Christen – den sittlichen Anspruch erfahre, weshalb das Naturrecht universal sei. Es habe die Vermutung der Wahrheit für sich. Dennoch sei es stets überprüfbar und könne sich wandeln, weshalb Demmer von einem kritischen Naturrecht spreche. Deshalb solle der »Rechtsgenosse« eine kritisch konstruktive Distanz zur Rechtsordnung einnehmen, auch wenn Demmer akzeptiere, dass der Staat »keine Berufung auf das Gewissen anerkennt« (106). Spätestens an dieser Stelle hätte man sich eine kritische Würdigung gewünscht, ob damit tatsächlich eine individualethische Position verbunden ist oder nicht doch kollektive Institutionen wie der Staat ein überaus großes Gewicht erhalten.

Als letzten Vertreter einer aktuellen katholischen Rechtsethik behandelt S. Josef Römelt, der sich anders als die beiden zuvor genannten Theologen vom Naturrecht abgrenze. Stattdessen stelle Römelt den Mut zur Freiheit und die Verantwortung des Einzelnen in den Vordergrund. Letztere sei für diesen ein Kernbegriff für die Auseinandersetzung mit der »Wirklichkeit der Moderne«, die sich nach einem langen geschichtlichen Prozess entwickelt habe. Sittliche Wahrheiten ließen sich nur finden, wenn man sowohl eine »existenziell-individuelle« als auch eine rational-allgemeingültige Dimension des Ethischen ernst nehme, weshalb er postmoderne Einseitigkeiten eines sich verselbstständigenden Individualismus zurückweise und Autonomie »theonom zurückgebunden« bleiben solle (118 ff.). Gleichwohl weise Römelt die Verengungen der kirchlichen Naturrechtslehre in Rigorismus und Kasuistik zurück. Statt auf starken, begründungsbedürftigen Annahmen einer Rechtsphilosophie aufzubauen, gehe es »in der Bescheidenheit des nachmetaphysischen Denkens« um eine Rechtsethik, mit der jenseits von Naturrecht und Positivismus eine Rechtsbegründung versucht werde. Das kirchliche Lehramt solle die mit individueller Freiheit verbundene Herausforderung ernst nehmen, nach dem Humanum zu suchen, und der Würde dieser Freiheit mit Respekt begegnen.

Von den evangelischen Perspektiven auf das Recht thematisiert S. zunächst diejenige von Wolfgang Huber. Dieser wolle eine »theologische Geltungstheorie des Rechts« entwerfen, welche sowohl eine normative als auch eine deskriptive Ebene miteinander verbinde. Der »strukturierende Kern allen Rechts« sei die wechselseitige Anerkennung. Dieses bestehe aus den in vereinbarten Verfahren hervorgebrachten Regeln »zur Ermöglichung und dem Schutz von Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung«, woran S. kritisiert, dass damit weder das Gewohnheitsrecht noch das Naturrecht berücksichtigt werde. Hubers Forderung nach einem Minimum an materialer Richtigkeit sei an den Prinzipien der Verfassung ausgerichtet, was für S. eine Nähe zum Rechtspositivismus zeigt. Das Recht könne allerdings auch für Huber nur dann einen universalen Anspruch erheben, wenn es gerechtfertigt sei. Dafür sei die Frage nach der Beziehung Gottes zur Welt und zum Menschen zu stellen, die in »konzentrierter Exklusivität in der Gestalt Jesu Christi ans Licht« komme (172). Dabei knüpfe Huber an Barths Unterscheidung zwischen der Christengemeinde und der Bürgergemeinde an. Kirche habe sich zum Recht sowohl durch Affirmation und Negation wie durch Zustimmung und Protest zu verhalten, weil jede Staatsordnung trotz ihrer Notwendigkeit nur als vorläufig angesehen werden könne. Dabei bleibe, so S., die universale Geltung der Menschenrechte, die Tugend der Gerechtigkeit sowie ein möglicher Verzicht auf Rechte außer Blick.

Als zweiten evangelischen Theologen behandelt S. schließlich Eilert Herms, der dem Rechtspositivismus am nächsten stünde. Die Begründung des Rechts geschehe nach dessen Vorstellung nicht durch Theorie, sondern durch gestaltendes Handeln. Die Rechtsordnung habe sich auf die Würde des Menschen zu beziehen. Das sei verfassungsrechtlich abzusichern (198 ff.). Recht sei für Herms nur im Bereich des durch das Evangelium »noch nicht veränderten Personlebens« unverzichtbar, welches ein durch den göttlichen Veränderungswillen bestimmtes Leben noch nicht erreicht habe. Unterschiedliche Positionen seien in »weltanschaulicher Neutralität« nur dann anzuerkennen, wenn sie aufgrund ihres jeweils eigenen Menschenbildes auch das Existenzrecht anderer Gemeinschaften anerkennten. Christen sollten nach der Zwei-Reiche-Lehre für einen weltanschaulichen Pluralismus eintreten. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Gewalt müsse es Regeln für deren Anwendung geben. Für die daher erforderliche Institutionalisierung durch das staatliche Gewaltmonopol bringt Herms nach Schipkas Diagnose viel Vertrauen entgegen.

In einer kurzen Abschlussbetrachtung diskutiert S. das Verhältnis der beiden Konfessionen vor dem Hintergrund der verschiedenen Rechtsethiken. Trotz ihrer Annäherung bleibe eine konfessionelle Grunddifferenz, die zumindest zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen führe. Das schließe eine Suche nach Übereinstimmung nicht aus. Diese zeige sich etwa in der gemeinsamen Einordnung von Loyalität zum Recht, der Mitverantwortung und dem Widerstand als legitimer Verhaltensweise (138). Gemeinsamkeiten träten auch in ökumenischen Erklärungen auf, etwa wenn sie den Tugendbegriff aufnähmen, um Positionen zur Demokratie zu formulieren.

Angesichts der von S. zuvor herausgearbeiteten Unterschiede dürfte dieser versöhnliche Blick auf Gemeinsamkeiten weniger das Ergebnis einer Theorieanalyse sein als eher die Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass diese Unterschiede keinen trennenden Charakter haben müssen. Ein derartiger Blick ist mit der vorhergehenden Analyse zudem insofern gut vereinbar, als diese gezeigt hat, dass die einzelnen Rechtsethiken unterschiedliche Fragen thematisieren und darin einander nicht unbedingt widersprechen. So stark etwa die Zwei-Reiche-Lehre eine evangelische Prägung haben mag, so offen bleibt bei S., ob sie aus katholischer Sicht zurückzuweisen ist. Ebenso wenig folgt aus der geringen Aufmerksamkeit, die evangelische Autoren nach S. der Mitverantwortung des Einzelnen für das Recht widmen, dass sie diese ablehnen.

Bei S.s Blick auf die konfessionellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten bleibt bisweilen außer Betracht, dass viele der dabei aufgenommenen Begriffe und Argumente ihren Ursprung jenseits der beiden christlichen Konfessionen in der allgemeinen Rechtsphilosophie haben. Das gilt für die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ebenso wie für die Maßgeblichkeit einer Teilnehmerperspektive auf das Recht. Auch dabei mag es konfessionelle Prägungen geben. Angesichts der Vielzahl jüdischer Autoren in der Rechtsphilosophie des 20. Jh.s, welche die soeben genannten Ideen entwickelt haben, müssen diese allerdings keinen christlichen Hintergrund haben. Die Arbeit hätte davon profitiert, wenn diese Verbindungen zur Rechtsphilosophie offengelegt worden wären.

Angesichts der Trennung sowie der jeweiligen Komplexität der theologischen und rechtsphilosophischen Diskurse ist ein derartiger Wunsch allerdings nur schwer zu erfüllen. S.s Verdienst ist es, wesentliche theologische Perspektiven auf die Rechtsethik so zusammengestellt zu haben, dass deren unterschiedliche Fragen hervortreten. Das vermag die theologische wie philosophische Diskussion der Rechtsethik womöglich mehr zu fördern als die Entwicklung einer neuen Theorie, deren Antworten nicht plausibler sind als das bisherige Theorieangebot.