Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1256-1258

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stückelberger, Johannes, u. Ann-Kathrin Seyffer [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Stadt als religiöser Raum. Aktuelle Transformationen städtischer Sakraltopographien.

Verlag:

Zürich: Pano Verlag 2022. 292 S. m. s/w u. farb. Abb. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783290220693.

Rezensent:

Christopher Zarnow

Dass die Stadt – neben allem, was sie sonst noch ist: Verwaltungs- und Sozialraum, Beteiligungszusammenhang, politische Bühne, Diskurs- und Kulturraum – auch Ort diverser religiöser Praktiken und Prägungen ist, ist zwar als Sachverhalt evident. Gleichwohl gibt es bislang nur wenige, zumal deutschsprachige Untersuchungen, die das Verhältnis von Religion und städtischem Raum zum expliziten Gegenstand empirischer Forschung machen. Der anzuzeigende Band, der Beiträge der Abschlusstagung des 2014–2017 vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts »Transformationen städtischer Sakraltopographien in der Schweiz 1850–2010« versammelt, setzt an diesem Desiderat an. Als »religiöser Raum« wird die Stadt dabei vermittelt über ihre sakralen bzw. religiös signifikanten Gebäude und Orte adressiert. Das spiegelt sich auch im Tableau der Beiträger aus den Bereichen der Religions- und Kulturwissenschaft, Theologie, Architektur- und Kunstgeschichte, Kirchenästhetik und Denkmalpflege.

Die Gliederung der Beiträge nach Abschnitten bzw. Buchkapiteln ist an unterschiedlichen Typen von Sakralgebäuden orientiert (Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel, multireligiöse Räume usw.). Quer dazu legt sich allerdings eine andere Gruppierung der insgesamt zwölf Einzelbeiträge nach inhaltlichen Gesichtspunkten nahe, durch die es möglich wird, die Ergebnisse im Überblick zu diskutieren. Sie ist der folgenden Darstellung zugrunde gelegt.

Eine erste Gruppe von Texten nähert sich dem Thema »Sakraltopographie« über die äußere Positionierung bzw. geographische und stadträumliche Lage sakraler Orte in der Schweiz – und arbeitet auch graphisch mit entsprechendem Kartenmaterial. So untersuchen Brigitte Knobel und Sarah Scholl im einzigen französischsprachigen Beitrag des Bandes die Positionierung »christlicher Minderheitsgesellschaften« (wie orthodoxe, koptische, neuapostolische, armenische, mormonische und andere Migrationskirchen) in Genf, die – anders als die historischen Repräsentationskirchen der Innenstadt – vorrangig in den entfernteren Vorstadtgebieten angesiedelt sind. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen sowohl Andreas Tunger-Zanetti als auch Martin Baumann in ihren Beiträgen zur Lage von Moscheen und buddhistischen bzw. hinduistischen Tempeln, die sich, oft äußerlich unsichtbar, versteckt in Hinterhöfen (sofern zentrumsnah) oder (peripher) in Gewerbe- und Industriegebieten befinden. Allerdings wird dieser Befund von beiden Autoren unterschiedlich bewertet. Während Tunger-Zanetti die randständigen Positionierungen der Moscheen als Ausdruck gesellschaftlicher »Gegebenheiten und Machtverhältnisse« (145) interpretiert, betont Baumann, dass es in Bezug auf die Tempel gerade nicht die geographische Lage, sondern Faktoren »wie eine auffallende Architektur, ein hohes Engagement im interreligiösen Dialog, eine große Anzahl von Besuchern und Besucherinnen sowie wiederholte Medienberichte« sind, die sie »aus der Unbekanntheit heraus in den Wahrnehmungshorizont breiter Bevölkerungskreise hineintreten lassen« (177). Die Frage nach der räumlichen Positionierung ist schließlich auch für Ann-Kathrin Seyffer in ihrem Beitrag zu multireligiösen Orten leitend. Am Beispiel von Flughafen- und Bahnhofskirchen, von Gebetsräumen und Räumen der Stille in Krankenhäusern und Hochschulen, aber auch anhand des »Meditation Rooms« des Hauptsitzes der FIFA in Zürich verdeutlicht sie dabei, wie Sichtbarkeit und Lage über Nutzungsart und -frequenz der Räume entscheiden.

Eine zweite Gruppe von Beiträgen ist einzelnen Bauten bzw. Bautypen sakraler Architektur gewidmet. Als ein Raumhybrid und »Forschungslabor postsäkularer Religiosität« (93) wird das Grossmünster in Zürich von Christoph Sigrist interpretiert, in dem sich eine Vielzahl von Deutungs- und Nutzungsperspektiven, etwa als »Wahrzeichen der Stadt, Mutterkirche der Reformation, Kunstkirche der Polke-Fenster« (100) bündeln. Gleichsam spiegelbildlich dazu analysiert Anna Minta das Bundeshaus in Bern als »Repräsentationsbau der nationalen Identität« (259) im Hinblick auf seine zivilreligiöse Programmatik, die ebenfalls vor der Aufgabe steht, sich unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder neu zu legitimieren und zu aktualisieren. Zwei weitere Beiträge sind stärker baugeschichtlich orientiert. So bietet Ron Eptstein-Mil einen historischen Überblick über Entstehung und architektonische Profile Schweizer Synagogen, während Bernd Nicolai in einem Durchgang durch internationale Beispiele zeitgenössischer Museumsarchitektur den »Analogie[n] in der Raumgestaltung von Kirchen und Museen« (273) nachgeht.

Ein letzter Themenkreis gilt schließlich der Frage, wie sich Erscheinungen des stadträumlichen und gesamtgesellschaftlichen Wandels auf die Topographie des Religiösen niederschlagen. So gibt Paul Post einen Überblick über »[a]ktuelle Dynamiken des Rituellen und Religiösen unter besonderer Berücksichtigung der Stadt« (20), die paradigmatisch an der Situation in den Niederlanden abgelesen werden. Mit den zahlreichen Kirchenschließungen verschwinden auch die Ritualpraktiken »der traditionellen, etablierten christlichen Gemeinden [...], während [...] evangelikale und Pfingstgemeinden [...], wie auch Migrantenkirchen, stark im Kommen sind« (23) und nach Räumlichkeiten suchen. Johannes Stückelberger bestätigt diesen Befund für die Schweizer Situation, wenn er in seinem Beitrag eine Inventur kirchlicher Standorte der Stadt Basel vornimmt und vor dem Hintergrund der »aktuelle[n] Problemlage« (58), in der sich die Kirchen bei der Unterhaltung der Gebäude befinden, alternative Finanzierungs- und Nutzungskonzepte diskutiert. Der gegenwärtige Wandel der Sakraltopographie, so sein Resümee, bezieht sich dabei weniger auf den vorhandenen Gebäudebestand als solchen oder die pauschale »Aufgabe von Kirchen als Gottesdienstorten, als vielmehr die Diversifizierung der in diesen Kirchen stattfindenden Angebote in Richtung Orthodoxie, Freikirche, charismatischer Bewegung und Ökumene« (80). Ein umgreifender Wandel, so argumentiert Christine Süssmann in ihrem Beitrag, zeigt sich auch in der äußeren Gestaltung und praktischen Nutzung von Friedhöfen. Themen- und Gemeinschaftsgräber, Grünanlagen, die zur Erholung und zum Qi Gong genutzt werden, sowie Theaterproduktionen und Kunstausstellungen auf Friedhofsflächen verweisen nicht nur auf eine Transformation der Bestattungs- und Trauerkultur, sondern auch auf Bedeutungsverschiebungen von Friedhöfen als kostbaren Flächen »im sich verdichtenden städtischen Raum« (249). Schließlich unterliegen auch die Kirchengebäude selbst einem Bedeutungswandel. So konfrontiert David Plüss »Gegenwartsanalysen« zur Wahrnehmung und Nutzung von Kirchenräumen als ästhetisch-religiösen Raumhybriden und Orten spiritueller Praxis mit unterschiedlichen »ekklesiologischen Modellen« der (Selbst-)Beschreibung von Kirche (Parochie, Öffentliche Kirche, Gemeindekirche, Spiritualitätskirche, Dienstleistungskirche), die (auch) als Strategien zu verstehen sind, »mit denen auf die aktuellen Veränderungsprozesse und Krisen reagiert werden könnte und reagiert wird« (57).

Insgesamt bietet der Band einen – erst recht für einen Tagungsband – kompakten und dichten Überblick über Positionierungen, Raumprogramme und Transformationen städtischer Sakralorte (nicht nur) in der Schweiz. Viele der Beiträge basieren auf Einzelstudien, deren Ergebnisdarstellungen durch zahlreiches Karten- und Bildmaterial, Tabellen und Diagramme unterstützt werden. Eindrücklich belegt der Band die Kraft der Empirie: Mit pauschalen Großnarrativen wie dem der »säkularen Stadt« ist der gegenwärtigen religiösen Lage in den Städten nicht beizukommen, sondern nur mit der detaillierten Erforschung von religiösen Raumkonstellationen. Dass die »Stadt als religiöser Raum« sich dabei nicht in der Topographie ihrer sakralen Gebäude und Orte erschöpft, dürfte sich von selbst verstehen. Nicht nur religiöse Gebäude, sondern auch soziale Milieus, Diskurse, Geschichten, Symbole und Praktiken prägen den urbanen Raum als einen religiösen. Insofern behandelt der vorliegende Band mit seinem thematischen Fokus nur einen Ausschnitt des Verhältnisses von Stadt und Religion – dies aber mit Schweizer Präzision und Gründlichkeit.