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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1248-1252

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stock, Konrad

Titel/Untertitel:

Systematische Theologie. Teil II: Durch Wahrheit zur Freiheit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 821 S. Geb. EUR 100,00. ISBN 9783525552988.

Rezensent:

Christian Danz

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Stock, Konrad: Systematische Theologie. Teil I: Erfahrung und Offenbarung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 678 S. Geb. EUR 70,00. ISBN 9783525522042.


Nachdem Konrad Stock, emeritierter Systematischer Theologe aus Köln, bereits im Jahre 2011 eine Einleitung in die Systematische Theologie vorgelegt hatte (vgl. meine Besprechung in: ThLZ 137 [2012], 979–982), hat er nun eine ausführliche und umfangreiche Systematische Theologie folgen lassen, von der die beiden ersten Teile erschienen sind, die den Prolegomena sowie der materialen Dogmatik gewidmet sind. Ein dritter Teil, der sich der Ethik annimmt und das System abschließt, ist angekündigt. Ähnlich wie die Einleitung in die Systematische Theologie orientiert sich die ausgeführte Darstellung an Friedrich Schleiermacher. Auch der Aufbau der Systematischen Theologie folgt, soweit die bisher vorliegenden Bände erkennen lassen, weitgehend dem der früheren Einleitung. Intention der nun vorliegenden Systematischen Theologie sei es, »die christliche Glaubensweise – die Lebensform des Glaubens an den Christus Jesus Gottes des Schöpfers in der Kraft des göttlichen Geistes – unter den Bedingungen des gegenwärtigen Zeitalters verständlich zu machen, besonnen zu entwickeln und gegenüber den Zweifeln an ihrem Wahrheitswert entschlossen zu verteidigen« (I, 17). Auf diese Weise möchte S.s Systematische Theologie »der öffentlichen Kirche« (ebd.; vgl. I, 36) dienen und »die Wege des Gemeinwesens in die Zukunft einer Weltgesellschaft in ethischer Hinsicht […] steuern [!]« (I, 67).

Der Untertitel des ersten Teils der Systematischen Theologie lautet Erfahrung und Offenbarung und ist ihren systematischen Grundlagen gewidmet. Mit beiden Stichworten ist einerseits eine Abgrenzung zum Barthianismus markiert und anderseits ein Anschluss an die lutherische Theologie. Erfahrung und Offenbarung reformulieren die Unterscheidung und Beziehung von äußerem und innerem Wort, aus der der Glaube entsteht. »Ist diese zweifache Bedingung erfüllt, so erschließt sich einem Menschen Gottes Wirklichkeit: die ewig treue Liebe des schöpferischen Grundes und Ursprungs aller Dinge; die Gnade und die Wahrheit dessen, der das sterbliche, das fehlbare, das entfremdete menschliche Leben zu seiner ursprünglichen, zu seiner wahren und ewigen Bestimmung bringt« (I, 21; vgl. I, 42 f.). Entfaltet wird die Differenz von äußerem und innerem Wort im Anschluss an Schleiermachers Bestimmung der Theologie aus der Kurzen Darstellung als positiver Wissenschaft, die auf die Kirchenleitung abzielt, als theologisches Wissen (I, 42–60). Letzteres hat eine systematische Form und intendiert begrifflich-kategoriale Klarheit. Indem die Prinzipienlehre der Systematischen Theologie das theologische Wissen begrifflich-kategorial entfaltet, begründet sie nicht nur die Dogmatik, sondern zugleich die theologische Ethik. Beide sollen weder getrennt noch ineinander überführt werden. Insgesamt geht es S. darum, den Wahrheitsgehalt der als Kommunikation des Evangeliums verstandenen christlichen Religion gegenüber den Anfragen und Kritiken der Moderne zu verteidigen und zu begründen. Das erfolgt so, dass der »Erfahrungsbezug des Christus-Glaubens konsequent zur Geltung« (I, 125) gebracht werden soll.

Gegliedert ist die Prinzipienlehre der Systematischen Theologie in vier Kapitel. Ihnen ist eine ausführliche Eröffnung vorangestellt, welche die zu erörternde Prinzipienlehre in nuce vorwegnimmt (I, 17–125). Kapitel 1 thematisiert Die Aufgabe der Prinzipienlehre (I, 127–149) und Kapitel 2 Das Selbstbewusstsein der Person (I, 151–171). Auf dieser systematischen Grundlage widmet sich das 3. Kapitel Erfahrung und Religion (I, 173–408), und Kapitel 4 behandelt Das Offenbarungsgeschehen als Grund und Gegenstand des Christus-Glaubens (I, 409–654). Eine Schlussbetrachtung: Die wissenschaftliche Form der Systematischen Theologie schließt die Ausführungen zur Prinzipienlehre ab (I, 655–668).

Die begründungstheoretische Grundlage der von S. ausgeführten dogmatischen Prinzipienlehre bildet eine transzendentalphilosophische Theorie des Bewusstseins (vgl. I, 151–171). Sie wird im erklärten Anschluss an Schleiermachers Religionstheorie aus der Glaubenslehre sowie den Vorlesungen über Dialektik formuliert. Das Selbstbewusstsein sei als »Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt nicht anders zu verstehen« »denn als das je mir selbst gegebene bzw. als das mir selbst gewährte Bewusstsein«. In diesem Bewusstsein sei »dessen transzendenter Grund präsent« (I, 153). Schleiermachers transzendentalphilosophische Begründung der Religion in der allgemeinen Grundlegungsstruktur des Bewusstseins wird von S. aufgenommen. Zugleich überführt er jedoch dessen bewusstseinstheoretische Fassung der Religion in eine theologisch konstruierte metaphysische Letztbegründung. Im Bewusstsein sei ein ›transzendenter Grund präsent‹, der sich selbst nicht der Produktivität des Bewusstseins verdankt, sondern umgekehrt alle Bewusstseinsproduktivität seinerseits begründet. Wie unterscheidet sich aber dieser transzendente Grund von den vom Bewusstsein selbst gesetzten Gründen? Nur indem er sich gegen die Bewusstseinstätigkeit erschließt. Darin besteht Religion und ihre Differenz zu anderen Erkenntnistätigkeiten des Bewusstseins. Ihr Wesen sei »das Gewahr-Werden eines transzendenten Konstituiert-Werdens« (I, 161), also ein passives Erschlossensein des Grundes des Bewusstseins im Bewusstsein. Zugleich ist mit dieser Deduktion der Gottesgedanke aus dem unmittelbaren Selbstbewusstsein abgeleitet: Gott »als Grund und Ursprung jeden ursprünglichen Erschlossenseins« (I, 162; vgl. I, 166–170).

Somit ist die systematische Grundlegung der Systematischen Theologie benannt. Aus ihr ergeben sich nicht nur eine Reihe von Konsequenzen, sondern auch systematische Probleme, die die Konstruktion selbst fraglich werden lassen. Zunächst: Mit der Verankerung der Religion und ihres transzendenten Grundes in der Struktur des Bewusstseins, welches als allgemeine Grundlegungsinstanz in Anspruch genommen wird (»Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt« [I, 153]), wird Religion als allgemein menschliches Phänomen postuliert, welches zur conditio humana gehört. Jeder Mensch ist religiös, ob er will oder nicht. Die Folge ist, wie bereits bei Schleiermacher, dass nicht-religiöse Selbstverständnisse als menschliche Verwirrung (vgl. I, 105. 130) bzw. als unbewusste Religion zu beurteilen sind. Ob eine solche theologische Konstruktion in einer pluralen Gesellschaft, um deren theologische Berücksichtigung und Steuerung (!) es S. ausdrücklich geht, plausibel ist, wird man wohl kaum sagen können. Sodann: Der transzendente Grund des Bewusstseins ist zwar in jedem Bewusstsein präsent, aber selbst, da transzendent, nicht zugänglich. Ihn gibt es immer schon, so dass er »nicht etwa von uns entworfen oder gar erfunden« (I, 133) ist. Woher weiß man aber von diesem Grund? Doch nur, weil er als nicht-gesetzt gesetzt ist, um den Glauben als passives Erschlossensein dieses Grundes zu verstehen. Es fragt sich aber, wie der Glaube, wenn ihm dieser Grund nur passiv, also ohne Deutung, erschlossen ist, überhaupt wissen kann, dass es Gott sei, der sich ihm hier erschließt. Und reicht das Postulat aus, der Grund des Selbstbewusstseins sei diesem transzendent und von diesem unabhängig, wenn er ohne das Selbstbewusstsein gar nicht gegeben ist? Wie dem auch sei, das Postulat eines transzendenten Grundes des Selbstbewusstseins wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet.

Mit der theologischen Konstruktion eines ontologischen Grundes des Selbstbewusstseins, der sich in diesem nur passiv erschließen kann, sind die Grundlagen der weiteren Ausführungen der Prinzipienlehre hergeleitet und strukturiert. S. erörtert zunächst den Erfahrungs- und Religionsbegriff und sodann die Offenbarungs- und Schriftlehre. Erfahrung meint im Horizont der transzendental-ontologischen Prinzipienlehre »die jeweilige Synthesis zwischen dem Erscheinen des erkennbar Realen der Natur und der Geschichte und dem Verstehen-Wollen dieses Erscheinens in praktischer Absicht« (I, 183). In der Religion, verstanden als Erschlossenheit des Grundes des Selbstbewusstseins, konstituiert sich die Einheit der Erfahrungswelt. Religionen sind folglich »das Echo und die Antwort auf das Gewahr-Werden der Endlichkeit des Lebens als Gabe einer transzendenten Geistesmacht« (I, 329), die religionsphilosophisch, religionssoziologisch und religionspsychologisch in den Blick zu nehmen sind. Kriterium der Religion ist der Offenbarungsbegriff, also ein durchsichtiges Konstitutionsbewusstsein. Durch dieses unterscheiden sich wahre und falsche Religion (I, 367–400). Offenbarung ist die passive Erschlossenheit des Grundes des Selbstbewusstseins (I, 415). Sie ist immer eingebunden in erfahrene Geschichte und deren Deutungen, da das Selbstbewusstsein sich stets bereits erschlossen ist. Dieses »äußere Wort« wird in der Offenbarung im Heiligen Geist zum ›inneren Wort‹ (vgl. I, 412). Damit sind die Grundlagen der Schriftlehre benannt, deren Ausführungen in Überlegungen zum geistgewirkten Verstehen münden (Grundsätze hermeneutischer Theorie, I, 612–654). Aus dem Verhältnis von äußerem und innerem Wort folgt, dass die Inhalte des christlich-religiösen Selbstbewusstseins für dieses darstellen, wie es selbst zustande kommt. Für die materiale Dogmatik bedeutet das: sie entfaltet im Durchgang durch die inhaltlichen Aussagen der christlichen Religion deren Konstitution.

Der zweite Teil der Systematischen Theologie trägt den Untertitel Durch Wahrheit zur Freiheit und präsentiert die materiale Dogmatik auf der Grundlage der Prinzipienlehre. Dogmatik »sucht das Allgemeine, das Gemeinsame, das Kategoriale bzw. das Universale des menschlichen In-der-Welt-Seins verständlich zu machen, so wie es uns im Christus-Geschehen erschlossen ist« (II, 35). Gegliedert ist der zweite Teil der Systematischen Theologie wie der erste in vier Kapitel. Auf eine Einführung (II, 19–39), welche das wahrheitstheoretische Glaubensverständnis des ersten Teils noch einmal zusammenfasst, folgt im 1. Kapitel die Gotteslehre mit der Überschrift »Gott ist Geist« (Joh 4,24). Der christliche Glaube an Gott (II, 41–178). Ausgehend vom Namen und Begriff Gottes (II, 48–55) werden die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens (II, 55–65), Gottes Sein (II, 66–83) und schließlich Gottes Person-Sein (II, 83–159) erörtert, wo- bei letzteres trinitarisch entfaltet wird. An die Gotteslehre schließt in Kapitel 2 die Schöpfungslehre an (»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« [Joh 1,1]. Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer [II, 179–339]). Behandelt werden der Glaube (II, 183–205), die Eigenschaften Gottes (Gottes schöpferischer Geist [II, 206–255]) und der Mensch als Ebenbild Gottes (II, 255–320). Die Sündenlehre verschiebt S. in die Christologie, der das 3. Kapitel »Lasst euch versöhnen mit Gott! (2Kor 5,20). Der christliche Glaube an Gott den Versöhner« gewidmet ist (II, 341–519). S. löst die alte Erbsündenlehre auf (II, 361365) und reformuliert die Sündenlehre als Syndrom erlittenen und verschuldeten Leids (II, 351–357), welches phänomenologisch gegen individualistische Engführungen entfaltet wird (II, 358–401). Grundlage der Christologie ist das Glaubensgeschehen, »die Ereignisse des Dritten Tages« (420), d. h. das Erschlossensein des Grundes des Selbst im Bewusstsein. Entsprechend artikuliert das Osterbekenntnis »die Art und Weise der Evidenz, die die Erscheinungen des Dritten Tages in ihren Empfängern hervorgerufen haben und jetzt und immerdar hervorrufen, wo sie in ihrem Sachgehalt gefeiert und verkündigt werden« (II, 437). Die materiale Christologie ergibt sich dann wie bei Schleiermacher aus einer Rückprojektion des Erlösungsbewusstseins (II, 517). »Er – der Christus-Glaube – versteht das Subjekt des Christusgeschehens als dieses Eines-Sein« »mit Gottes versöhnendem Wort« (II, 510). Den Abschluss der materialen Dogmatik bildet die Pneumatologie. Auf ihr liegt der »Schwerpunkt« (II, 513) der Dogmatik von S. Sie wird im 4. Kapitel »Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.« (Röm 8,24). Der christliche Glaube an Gott den Vollender (II, 521–803) traktiert. Ihre Gegenstände sind wie in der alten Dogmatik des Luthertums die Medien der Heilsübermittlung (II, 568–648), der ordo salutis (II, 648–699), Ekklesiologie (II, 699–729) und Eschatologie (II, 730–803).

Es zeichnet die materiale Dogmatik von S. aus, dass sie konsequent die im ersten Teil der Systematischen Theologie ausgeführte transzendentalphilosophische Prinzipienlehre durchexerziert. Der materialen Dogmatik obliegt es, die Erschlossenheit der allgemeinen Grundlegungsstruktur des Bewusstseins im individuellen Bewusstsein mit den Inhalten der christlichen Religion sowie der theologischen Lehrtradition zu bebildern. Aus der in Anspruch genommenen Allgemeingeltung der transzendentalen Struktur ergibt sich der Wahrheitsanspruch bzw. die Wahrheitsbindung des christlichen Glaubens, dessen Konstitution die materiale Dogmatik in seinen kategorialen Strukturen expliziert. Gewonnen ist dadurch ein in sich geschlossener Zusammenhang der einzelnen theologischen Themen von der Gotteslehre bis hin zur Eschatologie. Ihre trinitarische Struktur – Schöpfung, Versöhnung und Vollendung – beschreibt und strukturiert als Inhalt des Glaubens dessen Konstitution. Ausdruck der theologischen Konstitutionsidee, dass der transzendente Grund des Bewusstseins diesem nur passiv erschlossen sein kann, ist die Vorordnung der Ausführungen zum Sein Gottes gegenüber der trinitarischen Struktur von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung. Entsprechend erörtert die Gotteslehre den im Bewusstsein immer schon gegebenen transzendenten Grund des Seins als metaphysisches Letztbegründungsfundament. »Es ist zu zeigen, dass die Aussage ›Gott ist‹ nichts anderes bedeutet als: Gottes Sein ist schlechthin notwendiges Sein, und zwar schlechthin notwendiges Sein, das gleichursprünglich frei sich selbst bestimmendes Sein ist.« (II, 68)

S. baut die materiale Dogmatik als Beschreibung der Konstitution des Glaubens auf. Deshalb liegt zurecht der Fokus seiner Ausführungen auf der Pneumatologie. Sie hat die Aufgabe, »nachzuzeichnen, dass Jesu Christi ›Sitzen zur Rechten Gottes‹ nicht anders geschieht als in der Form der ›Ausgießung‹, d. h. der Mit-Teilung und Sendung des Heiligenden Geistes in ihrer eschatischen Tendenz hin auf das Vollendet-Werden jenseits des Todes und durch den Tod hindurch« (II, 513). Ihre Grundlage ist das Verhältnis von innerem und äußerem Wort, durch das das Erschlossensein des Grundes des Selbst an die Übermittlung der christlichen Reli- gion angebunden wird. So wenig wie hier die materiale Dogmatik von S. im Detail diskutiert werden kann, ist das bei der Pneumatologie möglich. Diese mündet in die Eschatologie, für die ein realistischer Anspruch reklamiert wird (II, 763 f.). Von Fantasie und Wunschvorstellungen soll sie sich durch ihre Deduktion aus der transzendentalen Grundlegungsstruktur unterscheiden. Allein, die Ausführungen, die sich an den traditionellen Aufbau der Eschatologie – unter Ausschaltung der Vorstellung der unsterblichen Seele (II, 751–762) sowie der apokalyptischen Gerichtsvorstellung mit seinem doppelten Ausgang (II, 769–788) – anlehnen, reproduzieren alle Aporien, die mit dem Lehrstück unter den Bedingungen der Moderne verbunden sind und bleiben mithin selbst Fantasie.