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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1244-1246

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Luthers Ontologie des Werdens. Verwirklichung des Eschatons durchs Schöpferwort im Schöpfergeist. Trinitarischer Panentheismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XXII, 548 S. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783161617843.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Das Buch verfolgt einen glasklaren Grundgedanken: Alles Sein ist Werden. Das zeitliche Werden verdankt sich einem transzendenten Ursprung, der sein Bestehen, seinen Verlauf und sein Ziel bestimmt. Diese Bestimmung vollzieht sich als Selbstbestimmung des Werdens; alles, was ist, folgt dem ihm gegebenen eigenen Gesetz. Insofern vollendet sich das Sein als Werden im zielbewussten Handeln, welches seinen Handlungserfolg nicht dem eigenen Vermögen, sondern dem in ihm wirkenden Grund zurechnet, den es sich immer vorausgesetzt weiß. Die Kommunikation über das Werden im Handeln gehört also zum Prozess des Werdens selbst hinzu. Ontologie ist folglich nichts anderes als die in Sprache aufgenommene Gestalt des Seins als Werden. Es liegt auf der Hand, dass damit zwei Vorurteile über Ontologie widerlegt sind. Weder bezieht sich Ontologie auf feststehende, »statische« Verhältnisse, noch stellt sie eine überflüssige Reflexion auf ohnehin Geschehendes dar.

Die Durchführung dieses Grundgedankens, der Eilert Herms auch sonst in seinen Werken leitet, ergibt hier – eine schöpfungstheologisch akzentuierte Normaldogmatik. Sie geht, nach den Prolegomena über Ontologie (3–29; 33–45), von der Trinitätslehre (51–72) über die Schöpfung von Welt und Mensch (52–125) zur Erlösung des Menschen in der Welt bis zum Weltende (125–225) und schließt die Darstellung und Vermittlung des Heils in der Kirche ein (227–286). Das geschieht in einer sprachlichen Form, bei der H. an größtmöglicher Präzision gelegen ist. Er scheut darum auch geballte begriffliche Ausdrucksformen nicht. Hat man als Leser aber, um nur ein Beispiel zu wählen, einmal – und alsbald – verstanden, dass das »Dauern der Selbstpräsenz von leibhaften (Ko)operatoren« (16 und fast passim) das bewusste Menschsein meint, würde man H. freier, schneller und froher folgen können, wenn sich die angestrebte, aber auch eingesehene Genauigkeit wieder in flüssigen Ausdruck zurückverwandelte. Diese überall gesuchte hochgestufte Sprache wird die Rezeption des Buches erschweren. Wenn sie unterbliebe, würde freilich auch die an sich schlichte dogmatische Normalgestalt deutlicher vor Augen treten.

H. hat hier diesen Grundgedanken als ausführliche Interpretation Martin Luthers durchgeführt. Er hat damit seine vielfältigen Luther-Auslegungen (zwanzig an der Zahl, vgl. 520 f.) systematisch konzentriert versammelt und darin die Passgenauigkeit seiner Theologie mit den reformatorischen Ursprüngen aufweisen wollen. Die Belege – 1556 Anmerkungen, dankenswerterweise als Endnoten dem Fließtext angehängt (315–520) – sind überwältigend und entziehen sich naturgemäß einer einzelnen Beurteilung in dieser Rezension. Die methodische Überzeugung dieses komprehensiven Darstellungsverfahrens ist klar und H. bewusst. Es geht darum, Luther als in sich konsistenten Autor aufzufassen; ein Ziel, welches vorzüglich zum Thema »Ontologie« passt. Man kann also mit Gründen so verfahren, wie H. das tut. Allerdings entgeht den strengen ontologisch-dogmatischen Systemanforderungen auch der historische Akzent der Theologie Luthers, nämlich durch die Konzentration auf die Gewissheit des Heils durch die Begegnung mit dem Wort Gottes – um es einmal formelhaft knapp zu sagen – die herkömmliche Logik der Theologie in Bewegung gebracht und auf individuelle Aneignung eingestellt zu haben. H. verfährt hier dezidiert anders, als es etwa Reinhard Schwarz in seinem ebenfalls zusammenfassenden Luther-Buch getan hat (Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 22016); ein Autor, der übrigens, wenn ich nichts übersehen habe, für H. keine Referenz darstellt. Was wir in H.’ Buch finden, ist sozusagen die Dogmatik Luthers, die er, möglicherweise aus Überzeugung, nicht geschrieben hat. Doch, wie gesagt, eine Möglichkeit der Luther-Darstellung ist auch diese; die eigenen Aneignungsinteressen H.’ lassen sich dabei freilich nur schwer ausschalten.

Wichtiger als die methodische Frage der Ordnung und Präsentation des Stoffes ist freilich eine Debatte über die spezifisch christlich-theologische Gestalt der von H. so eindrucksvoll vorgestellten Ontologie des Werdens. Sie entzündet sich nach meiner Auffassung am Verständnis des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung, also der Zuordnung von ursprünglicher und letztgültiger Kreativität. Für die von H. schon im Untertitel des Buches vertretene Auffassung können, pars pro toto, zwei Zitate aus den Anmerkungen stehen. »Tatsächlich ist jedoch für Luther die soteriologische Funktion des Heiligen Geistes nur ein Implikat seiner ontologischen, nämlich trinitätstheologischen, also auch schöpfungstheologischen (und somit auch kosmologisch-fundamentalanthropologischen) Funktion« (359). Oder: »Das Evangelium offenbart den Schöpfungssinn, und dieser ist der Inhalt des Evangeliums« (360; zur dogmatischen Ausführung dieses Gedankens vgl. 276 f.). Die Frage konzentriert sich auf das Verständnis von Auftreten und Geschick Jesu Christi in der Geschichte. Es ist m.E. nicht bestreitbar, dass Jesus in seiner Verkündigung des Reiches Gottes die universale Macht Gottes als unbedingt, also auch jetzt und endgültig geltend vergegenwärtigt hat. Welche Rolle spielt dann sein Tod als ein geschichtliches Ereignis, von dem er betroffen war? Und wie soll man verstehen, dass es nach seinem Tod zum Glauben an ihn als den Auferstandenen gekommen ist? Man kann diesen Umschwung, diese neue, sein geschichtliches Auftreten sowohl bestätigende wie auch vertiefende, nämlich auf ewig in Geltung setzende Präsenz nicht anders verstehen als ein Handeln Gottes, in dem Gott seine eigene schöpferische Macht erneut und endgültig ins Werk gesetzt hat. Ist das nun einfach eine Wiederholung des ohnehin schon von Ewigkeit bestehenden Schöpfungswirkens? Oder handelt es sich um eine neuartige, Gottes Wirken in sich selbst vertiefende Tat, die einerseits an seine schöpferische Macht anschließt, diese aber, weil durch den Tod des Gott vergegenwärtigenden Verkünders Jesus aufs Äußerste provoziert, auf unvorhersehbare Weise aktiviert und zu einer letzten, auch den Widerspruch gegen sich selbst produktiv verarbeitenden Steigerung veranlasst? Wenn das so ist – und in diesem Sinne verstehe ich Luther Rede von der nova creatio (WA 40/I; 540,17 f.) –, dann etabliert sich erst von hier aus auch das tiefste, also richtige Verständnis von Gottes Schöpfermacht. Von diesem Verständnis aus lässt sich dann vielleicht auch die Sicht ausbauen, derzufolge diese unbedingte Macht bereits implizit Gottes Schöpfersein innewohnt; doch darf dabei niemals aus dem Blick geraten, dass sich eine solche Ontologie des Werdens eben dieser Geschichte verdankt.

Der Unterschied ist von Bedeutung, auch für die Gestalt von Theologie. Denn so sehr der Glaube an Gott auf die Wahrheit ausgerichtet ist und in ihr gründet, so wenig gewinnt doch die Wahrheit durch die begrifflichen Konstruktionen der Theologie ihre überzeugende Kraft. Der Unterschied zwischen der ontologisch-prozesshaften Verfasstheit von Welt und Mensch und der lebendigen Einsicht, die die individuelle Existenz erfüllt, lässt sich weder einebnen noch als bloße Zustimmung zu einem vorgegebenen Sachverhalt verstehen – und sei dieser auch mit dem ganzen Gewicht einer Ontologie des Werdens und der reformatorischen Autorität Martin Luthers versehen. Man könnte, wenn man dieser hier erwogenen Sicht zustimmt, auch gelassener damit umgehen, dass man – auf vermutlich unabsehbare Zeit – mit verschiedenen und kontroversen Seinsverständnissen zu rechnen hat. Denn die Zustimmung zu der von H. entworfenen und an Luther profilierten Ontologie des Werdens hängt am Ende doch von der individuellen Zustimmung ab, die der von Gott selbst gewirkte Glaube im Menschen wachruft.