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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1236-1238

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Brahms, Johannes

Titel/Untertitel:

Ein deutsches Requiem op. 45. Urtext. Studien-Edition. Hg. v. M. Struck u. M. Musgrave.

Verlag:

München: G. Henle Verlag 2022. XXVI, 234 S. Kart. EUR 20,00. ISMN: 9790201890296.

Rezensent:

Johannes Schilling

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Brahms, Johannes: Ein Deutsches Requiem op. 45. Hgg. v. M. Musgrave u. M. Struck. München: G. Henle Verlag 2022. LXXXX, 646 S. Lw. EUR 648,00. ISMN 9790201860299.


»Ein Deutsches Requiem« von Johannes Brahms gehört zu den bedeutendsten Werken der Musik des 19. Jh.s und zu den größten Schöpfungen geistlicher Musik überhaupt. Für die Frömmigkeitsgeschichte des 19. Jh.s ist das Werk in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Der evangelisch getaufte und sozialisierte Hamburger Brahms komponiert ein Requiem (er erwähnt es einmal als »mein sogenanntes ›deutsches Requiem‹«; XXIX), aber der katholische Text des Requiems ist für ihn keine mögliche Vorlage – sprachlich nicht, theologisch nicht, religiös nicht und auch nicht musikalisch (auch eine von seinem Verleger vorgeschlagene Übersetzung ins Lateinische lehnte er als »durchaus nicht am Platz« ab; LXVII). Kirchlich vereinnahmen lassen mochte sich Brahms nicht. Dennoch ist das für Aufführungen in der Kirche ebenso wie im Konzert gleichermaßen gedachte Werk eine Gestalt der Auslegung der Heiligen Schrift; vgl. meinen Aufsatz Johannes Brahms’ »Ein Deutsches Requiem« als Auslegung der Heiligen Schrift, in: Durch Lebensereignisse verbunden. Festgabe für Dorothea Kuhn zum 90. Geburtstag am 11. März 2013. Hrsg. von Jutta Eckle und Dietrich von Engelhardt. Halle (Saale) 2013 (Acta Historica Leopoldina 62), 369–376.

Innerhalb der Johannes Brahms Gesamtausgabe, die am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel erarbeitet wird, hat nun Michael Struck zusammen mit dem amerikanischen Musikologen Michael Musgrave das Requiem neu herausgegeben. Es ist ein stattlicher Band für einen stattlichen Preis, und da freut man sich, dass es neben dem Band der Gesamtausgabe auch eine wohlfeile Studienpartitur gibt. Die Notentexte sind hier und dort identisch. Für die Musikphilologen gibt es in der Gesamtausgabe einen ausführlichen, in der Studienpartitur einen kleinen Textkritischen Apparat, der mit derselben Akribie erarbeitet ist wie die Ausgabe. Was der Studienpartitur fehlt, aber in der Gesamtausgabe enthalten ist, interessiert die Kirchenhistoriker und Theologen (und mögliche andere Benutzer): die ausführlichen, durch Quellennachweise belegten Ausführungen zu Entstehung und Rezeption, die hier in den Blick genommen werden sollen.

Entstanden ist das Werk in den Jahren 1865 und 1866. Im April 1865 übersandte Brahms Clara Schumann einen Satz »aus einer Art Deutschem Requiem«; im Spätsommer 1866 beendete er die Komposition des (damals) vollständigen Werkes, der Sätze 1–4, 6 und 7. Eine Teilaufführung in Wien war den dortigen Zuhörern offenbar »zu protestantisch-bachisch« (XLVIII); die Uraufführung des Gesamtwerks fand am Karfreitag, dem 10. April 1868 unter der Leitung des Komponisten im Bremer Dom statt, sie war ein musikalisches und gesellschaftliches Großereignis (XXXIV f.). Dem studierten Theologen und Bremer Kirchenmusiker Karl Martin Reinthaler (1822–1896), der sich von dem Werk »in tiefster Seele berührt« fand, fehlte in dem Werk ein christologischer Bezug; gewiss brachte es auch die Aufführung gerade an einem Karfreitag mit sich, dass er den »Erlösungstod des Herrn« vermisste (Johannes Brahms, Briefwechsel Bd. III. Hg. von Wilhelm Altmann, Berlin 1908, 7). Die Aufführung wurde daher ergänzt durch zwei Arien: »Erbarm dich mein« aus Bachs Matthäuspassion und, »als unverzichtbarer Bestandteil eines Karfreitagskonzertes«, »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« aus Händels Messias (vgl. Klaus Blum, Hundert Jahre Ein Deutsches Requiem von Johannes Brahms. Entstehung Uraufführung Interpretation Würdigung, Tutzing 1971). Eine zweite Aufführung fand am 28. April 1868 unter Karl Reinthalers Leitung im Bremer Unionssaal statt; Brahms war selbst zugegen. Den fünften Satz »Ihr habt nun Traurigkeit« hat Brahms nachträglich komponiert; ob er der vierte oder fünfte des Gesamtwerkes werden würde, war zunächst unklar. Im November 1868 erfolgten die Erstveröffentlichung der Partitur sowie die Erstausgabe eines Klavierauszuges. Die Erstaufführung des um den V. Satz erweiterten Requiems fand am 18. Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung Carl Reineckes statt. Seither ist das Werk um die Welt gegangen.

Brahms hat für sein Requiem Texte aus den beiden Testamenten der Heiligen Schrift und den Apokryphen ausgewählt. Seine Lutherbibel (Hamburg 1833) ist erhalten. »Den Text habe ich mir aus der Bibel zusammengestellt«, schrieb er am 24. April 1865 an Clara Schumann. In einem Brief an Reinthaler erklärte er seine Auswahl: »Was den Text betrifft, will ich bekennen, daß ich recht gern auch das »Deutsch« fortließe und einfach den »Menschen« setzte, auch mit allem Wissen und Willen Stellen wie z.B. Evang. Joh. Kap. 3 Vers 16 entbehrte« (Johannes Brahms, Briefwechsel Bd. III [s.o.], 10). Gegenüber seinem Verleger bestand er darauf, dass der Text der Partitur und dem Klavierauszug »vorgedruckt werden« (LXVII) müsse.

Im einzelnen handelt es sich um die folgenden Texte: Satz 1: Mt 5,4. Ps 126,5.6; 2 1. Pt 1,24. Jak 5,7. 1. Pt 1, 25. Jes 35,10; 3 Ps 39, 5–8 Weish 3,1. 4 Ps 84, 2.3.5; 5 Joh 16,22 Sir 51,35. 6 Hebr 13,14. 1. Kor 15, 51.52.54.55. Offb 4,11; 7 Offb 14,13. – Die Beziehungen der Texte rühren zum Teil von Stern-Anmerkungen in Brahms’ Handexemplar der Lutherbibel her; vgl.Daniel Beller-McKenna, Brahms and the German Spirit, Cambridge, Mass. / London 2004, 50, zuletztJan Brachmann, Stern, auf den ich schaue – Brahms’ Arbeit mit der Bibel, in: Wolfgang Sandberger (Hg.), »Ich will euch trösten …«. Johannes Brahms – Ein deutsches Requiem (Veröffentlichungen des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck VI), München 2012, 21–26.

Die Neue Evangelische Kirchenzeitung (Jahrgang 11, Nr. 11, 13. März 1869 Sp. 161–165) widmete dem Werk eine ausführliche Darstellung. Der musikalisch gut informierte Autor Paul Kleinert eröffnete seinen Artikel mit den Worten: »Ein d e u t s c h e s Requiem ist eine That« (161), »eine deutsche evangelische That« (ebd.). Er rühmte die Zusammenstellung der Texte und meinte, Brahms habe »den alten Meistern das Geheimniß ihrer Kunst, das nicht in der Form steht, sondern auf dem Grunde der Seele quillt, abgelauscht« (162). Überdies bemerkte er, »die Sättigung mit religiöser Empfindung bricht überall hervor, und der Eindruck erhabener, nirgends affektirter Würde verläßt den Hörer kaum auf einen Augenblick« (163). Ja, wer einen Satz wie den vierten komponiere, »der muß ein kindlich frommes Herz haben wie Luther« (164). Das hatte Brahms nicht, und insofern irrte der Autor, mit seiner Einschätzung am Ende seines Artikels aber sollte er Recht behalten: »Besorgte Gemüther zagen in dieser bewegungsreichen Zeit vor einem Einsturz der alten Kirche. Aber wenn die Kompositionen des alten Bach ein vollgültiges Zeugniß ablegen, welches heiße und tiefe innere Leben in dem vielgeschmähten Zeitalter der todten Orthodoxie unter den scheinbar dürren Schalen dieser alten Rechtgläubigkeit geglüht, so nehmen wir dieses Requiem der Gegenwart als einen Frühlingsruf, der uns ankündet, daß wenn es auch Ruinen geben sollte, doch das Leben nicht verschüttet werden wird.« (165)

Die für die Theologen interessanten Fragen werden in einem Abschnitt der Einleitung des Bandes der Gesamtausgabe behandelt: »Die religiöse Dimension: Die vertonten Bibeltexte, ihre Bedeutung und Zielrichtung« (XVII–XX), außerdem gibt es einen Exkurs (LXXVII–LXXX) über das editorisch intrikate Problem, ob im sechsten Satz nach Hebr 13,14 zu lesen ist: »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt« oder »Statt« im Sinne von Stätte, wie sie der Verleger in die ersten gedruckten Ausgaben einbrachte (vgl. Studienpartitur, 218). Die Herausgeber haben sich nach sorgfältigen Erwägungen mit guten Gründen dafür entschieden, »Stadt« wiederherzustellen.

Die reiche und vielfältige Überlieferung der Noten und Texte in Handschriften und Drucken, mit zahlreichen Änderungen und Ergänzungen von Brahms’ Hand, aber auch Aufführungsmaterial mit Einzeichnungen des Komponisten, lassen erkennen, wie anspruchsvoll die editorische Aufgabe gewesen ist. Für die Edition waren Autographen, Abschriften, Erstdrucke und spätere Ausgaben von Partitur, Chor- und Solostimmen, Orchesterstimmen, Klavierauszügen, Klavierarrangement und Textquellen zu berücksichtigen, und es bedurfte gerade für diese Ausgabe großer editorischer Erfahrung. Die hat der Herausgeber Michael Struck bisher in etlichen Bänden der Johannes Brahms Ausgabe bewiesen und mit dem Requiem nun seine editorische Meisterleistung vorgelegt. Der Kritische Bericht samt den Begründungen für die Gestalt des Notentextes umfasst mehr als 300 Seiten in Quart und ist damit umfangreicher als der edierte Notentext (1–206) selbst. Die Einleitung wurde gemeinsam mit Michael Musgrave konzipiert; in der endgültigen Fassung ist sie, ebenso wie der Notentext, Strucks Werk.

Kirchenmusik ist das Werk nicht, sehr wohl aber geistliche Musik. Das machen nicht nur die biblischen Texte und die großartige Komposition, das bezeugt und lehrt auch die Erfahrung der Hörerschaft seit mehr als 150 Jahren, die von diesem Werk berührt werden. Den Zeitgenossen bereitete das Werk ästhetische Erbauung, und ein Rezensent rühmte es nach einer Zürcher Aufführung 1869 in der NZZ als ein Kunstwerk, »welches in so wunderbarer Weise die religiösen Anschauungen der Gegenwart mit denjenigen der klassischen Vorzeit zu vereinigen scheint« (LVI). Als geistliche Musik erweist das Werk in seinen Aufführungen, im Singen, Spielen und Hören, seither immer wieder und immer neu seine geistliche Kraft. Die historisch-kritische Neuausgabe der Partitur in der Gesamtausgabe samt der ihr folgenden praktischen Ausgaben und der Studienpartitur schafft von nun an einen Zugang zu der authentischen Gestalt von Brahms’ großartigem Werk.