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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1233-1235

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Berzins, Janis

Titel/Untertitel:

Preise, Jerusalem, den Herrn. Johann Sebastian Bachs Kantaten zur Ratswahl – Historische Zusammenhänge und gegenwärtige liturgische Verwendung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 587 S. m. 3 s/w Abb. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 102. Geb. EUR 110,00. ISBN 9783525573471.

Rezensent:

Konrad Klek

Fünf sogenannte Ratswahlkantaten Bachs sind komplett erhalten (in chronologischer Folge BWV 71, 119, 29, 120, 69), zu drei weiteren ist das Libretto bekannt, als Musik nur rudimentär überliefert ist BWV 193, und bei BWV 143 ist der Kasus wie die Autorschaft Bachs unsicher. Eine Spezialuntersuchung zu diesem kompakten Werkkorpus ergibt durchaus Sinn, handelt es sich hier doch um Musik zu einer »Kasualie« außerhalb der Kirchenjahresordnung, welche sich auf das Gemeinwesen Stadt und deren »Obrigkeit«, den »Rat« bezieht. Ausnahmsweise geht es mit Bachs Musik da mal nicht um das persönliche Seelenheil, sondern um die öffentliche Wohlfahrt.

Diese an der Leipziger Universität als Promotion angenommene Arbeit des Loccumer Predigerseminar-Dozenten Janis Berzins widmet sich sowohl den »historischen Zusammenhängen« als auch der »gegenwärtigen liturgischen Verwendung«, wagt also den Spagat zwischen historischer Detailforschung (in theologischer wie musikologischer Hinsicht) und praktisch-theologischer Fragestellung. Letztere wird als eigentliches Movens der Untersuchung benannt. Dass in solcher Multiperspektivität trotz quantitativ überschaubaren Untersuchungsgegenstandes schnell viele Seiten zusammenkommen können, werden wissenschaftlich Arbeitende nachvollziehen können. So ist dieses Buch nun leider so dick – und so teuer – geworden, dass es der landläufigen Praxis von Kantatengottesdiensten kaum wird dienlich sein können.

B. arbeitet überaus umsichtig und genau, trägt vieles an Quellen und Literatur zusammen, häufig eingespielt in halb- bis ganzseitigen Zitaten (im Kleindruck!). Bis der konkrete Kontext von Bachs Ratswahlmusiken in Mühlhausen (1708) und Leipzig (ab 1723) in den Blick kommt, sind bereits 120 Seiten zu absolvieren: allgemeine Einleitung zum Thema Bachkantaten heute, ein Überblick über die theologische Bachforschung, dann der Kasus Ratswahl historisch, wobei dazu mit anderem Kasusbezug auch »Kirchenmusik zu politischen Anlässen« von Praetorius, Schütz, Schein und Buxtehude vorgestellt wird. Als theologischer Background wird noch die Lehre von der »Obrigkeit« bei Luther und L. Hutter entfaltet, ehe die einzige erhaltene Ratswahlpredigt aus Mühlhausen (einige Jahre vor Bach) zum Zuge kommt. (In Leipzig gibt es diesbezüglich keine Quellen.)

Ab S. 171 sind dann Bachs Kantaten dran, besprochen im Dreischritt Entstehung, Gesamtstruktur, Einzelsätze. Hier rezipiert B. breit die vorliegende Literatur, stützt sich aber am meisten auf die ausladenden Ausführungen in der Kantaten-Kommentierung Martin Petzoldts. Dessen Symmetrie-Fixierung hinsichtlich der Gesamtstruktur sowie die Herleitung der inhaltlichen Referenzen aus der Biblischen Erklärung von J. Olearius wird mit umfänglichen Zitatpassagen übernommen. Man staunt über solchen Text-Aufwand mit orthographischen Eigenheiten en masse. (Vielleicht hatte B. Zugriff auf die digitale Vorlage und ist der Versuchung des Copy and paste erlegen.) Jedenfalls ist hier tendenziell alles zu finden, was über diese Kantaten geschrieben wurde und weitere Recherche erübrigt sich. (Nicht im Blick sind allerdings englischsprachige Internetportale zu Bachs Kantaten, die inhaltlich erstaunlich Tiefgründiges bieten.)

Die Stärke dieser Arbeit liegt eindeutig im umsichtigen Kompilieren. Kritisches Abwägen und dezidiertes Urteilen unterbleibt. Deutlich wird das etwa bei BWV 143 Lobe den Herrn, meine Seele, was die Ratswahlmusik für Mühlhausen 1709 sein soll, deren Lieferung durch Bach (von Weimar aus) aktenkundig ist. Obwohl B. die von namhaften Experten formulierte Hypothese, dass es sich hier um eine Neujahrskantate, eher nicht von Bach komponiert, mit Zitaten belegt, unterbleibt eine wirkliche Prüfung der Argumente. Gerade der Fokus auf die Libretti zur Ratswahl hätte hier doch dazu führen müssen, dass das Unterscheidende präzise erhoben und auch entsprechend gewichtet wird. Diese Musik ist einfach viel zu schlicht im Vergleich zum Glanzlicht der Kantate BWV 71 Gott ist mein König 1708, und den Kasus Ratswahl streift das Libretto nicht im Geringsten. Dass B. die in vielerlei Hinsicht den Ratswahlkantaten analogen Kantaten zu Neujahr nur mit drei Seiten »Seitenblick« abhandelt, rächt sich hier. Eine detaillierte Besprechung der Neujahrskantaten wäre flankierend zum Topos Ratswahl angemessen gewesen. Da geht es ebenso in repräsentativer Klanggestalt um Dank und Bitte für das Gemeinwohl.

Bei der Bewertung und Einordnung der Ratswahlmusiken steht bei B. zu stark die heute problematische »politische Theologie« der Zeit in Sachen Obrigkeit im Vordergrund, welche bei den Libretti allerdings gar nicht so stark gewichtet ist. Beim Sprung in die »Gegenwart« liefert er für die Kontrastzeichnung denn auch noch 35 Seiten »Aspekte des gegenwärtigen Verständnisses staatlicher Ordnung« vom Grundgesetz über EKD-Denkschrift (1985) bis zu drei Vertretern der »akademischen Theologie«, ehe er einzelne problematische Passagen in den Bach-Libretti dingfest macht.

Beim gut 100 Seiten umfassenden Schlusskapitel zu »heutiger liturgischer Verwendung« gibt es nochmals einen langen theoretischen Anweg: Kantatengottesdienste allgemein, angefangen bei einer Kontroverse in den 1940er Jahren(!), dann speziell die Ratswahlkantaten, deren dem Anlass geschuldete Konkretionen für heutige Rezeption eher hinderlich seien. Auch die liturgische Einbindung wird allgemein auf Bach-Kantaten bezogen aufgerollt, obwohl diesbezüglich die Ratswahlkantaten als »Kasualmusik« schon zur Bachzeit ein Sonderfall sind: musiziert nach der Predigt und in keiner Verbindung zu Lesungen oder Liturgie wie sonst die »Music« im Sonntagsgottesdienst. Als Lösungsmöglichkeit stellt B. drei dokumentierte Liturgien mit Ratswahlkantate aus jüngerer Zeit und später noch vier Predigten vor, nachdem er die »homiletischen Überlegungen« abermals grundsätzlich angegangen ist mit einem Umweg über das »Gesprächskonzert« zu Bachkantaten (made in Stuttgart). Die Beispiele sind in ihrer jeweiligen Profilierung durchaus erhellend. Wieder unterbleibt aber Kritik oder Wertung. Der »Ertrag« mündet in neun Thesen, die nach so viel Theoretisieren und Problematisieren fast etwas trotzig »das bleibende theologische Profil dieser Kompositionen zum Ausdruck bringen« (545).

Einige nicht unerhebliche, kritikwürdige Aspekte bei diesen Kantaten werden nicht wirklich diskutiert: vor allem die Gleichstellung von Jerusalem mit der eigenen Stadt, also Leipzig, schon im Titel der Arbeit (mit dem Incipit von BWV 119) ungeniert übernommen. Das für diesen Kasus konstitutive Agieren mit Pauken und Trompeten, was ja ein gutes Stück weit die Beliebtheit dieser Kantaten heute ausmacht, wäre zu prüfen auf bloße Affirmati-vität, nicht mehr transparent für die dahinterstehende Macht Gottes.

In praktisch theologischer Hinsicht wünscht man sich mehr Kreativität mit eigenen Vorschlägen, anstatt nur Vollzogenes zu referieren. Inhaltlich kritische Einzelsätze oder die allzu konkreten Rezitative wegzulassen wird nicht thematisiert. Die Möglichkeit der Umdichtung auf jetzt passende Konkretion hin wird lediglich konstatiert, aber nicht diskutiert hinsichtlich von Chancen und Gefahren theologisch wie sprachlich. Das von Bach selbst praktizierte Parodieverfahren könnte ja auch der liturgischen Praxis heute dienlich gemacht werden. Schließlich fehlt eine eingehende Reflexion über heutige alternative Gelegenheiten, die mangels »Ratswahl« zu diesen Kantaten passen könnten. Es wäre doch naheliegend, über die Verbindung zum allgegenwärtigen Kasus »Stadtfest« oder etwas spezieller »Stadtjubiläum« zu reflektieren.