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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1231-1233

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Daniel

Titel/Untertitel:

Göttliche Zufälligkeiten. G. E. Lessings Vernunftkritik als Theodizee der Religionen = Collegium Metaphysicum, 29.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XV, 324 S. Lw. EUR 119,00. ISBN 9783161616822.

Rezensent:

Steffen Götze

Gotthold Ephraim Lessing treibt Theologie als Liebhaberei und nicht aus Profession. Gleichwohl geben Scharfsinn und Witz seiner über alle Schaffensphasen und Werkgruppen verstreuten theologischen Voten bis heute der Fachtheologie zu denken. Nun hinterlässt der Musteraufklärer kein leicht durchschaubares Œuvre. Die Faszinationskraft seiner Texte liegt in ihrem Facettenreichtum, ihrem Hintersinn und ihrer Interpretationsoffenheit. Entsprechend vielstimmig urteilt die Forschung über Lessings eigentlichen theo-logischen Standpunkt: Er firmiert als Spinozist (Friedrich Heinrich Jacobi) und Rationalist (Karl Aner, Paul Hazard), als Lehrer der Weisheit (Johannes von Lüpke), Vorläufer Hegels (Emanuel Hirsch) oder Begründer des Neuprotestantismus (Gottlieb Fittbogen), schließlich auch als postmoderner Religionsphilosoph (Toshimasa Yasukata) oder als geläuterter orthodoxer Lutheraner (Otto Mann) und vorsehungsgläubiger Mensch (Arno Schilson).

Zwischen solchen mitunter widersprüchlichen Lessing-Deutungen sucht die zu besprechende Monographie von Daniel Zimmermann ihren Platz. Betreut und begutachtet von Friedrich Hermanni wurde sie 2020 von der Theologischen Fakultät in Tübingen als Dissertation angenommen. In sieben Kapiteln, die sich auf drei Teile verteilen, schreitet Z. das Werk Lessings chronologisch ab: Von den Gedanken über Herrnhuter (1751) bis zur Erziehung des Menschengeschlechts (1777/1780). Leitperspektive der Studie ist die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung (1).

Die knappen, aber wegweisenden methodischen Überlegungen ergeben sich aus einer Kurzcharakterisierung Lessings (1–7): Z. zeichnet das Bild eines um Wahrheit bemühten Denkers mit »streng systematische[n] Interessen« (2 u. ö.). Entsprechend systematisch lasse sich seine Religionsphilosophie rekonstruieren. Die dafür gewählte Quellengrundlage wird nicht näher begründet und beschränkt sich auf ausgewählte »argumentierende Texte« (6). Sie werden als eindeutige religionsphilosophische Positionierungen gelesen, die eine stringente Denkbewegung dokumentieren. Auf die These Gisbert Ter-Neddens, der auch Lessings Dramatik als Religionsphilosophie verstanden wissen will, geht Z. nicht ein. Die historischen Kontexte versteht er als »äußere […] Bedingungsrahmen« (5), mithin als Stimuli für Lessing, »das in seinem Denken bereits Angelegte nun auch zu entwickeln.« (5). Z.s Arbeit zielt also auf eine kohärente Gesamtschau der religionsphilosophischen Genese von Lessings Denken (5 u. ö.).

Damit geht Z einen entschieden anderen Weg als die neuere Lessing-Philologie. Diese legt in ihren punktuellen Interpretationen einen Schwerpunkt auf die präzise Rekonstruktion konkreter ideengeschichtlicher Abhängigkeiten und Konstellationen. Sie versteht Lessing zuvörderst als Schriftsteller und rechnet mit gedanklichen wie literarischen Experimenten und Momenten der schriftstellerischen Uneigentlichkeit.

Die Leistungsfähigkeit von Z.s Ansatz wird an der Quellenarbeit anschaulich: Der mit »Wanderjahre« überschriebene erste Teil (11–154) weist in fünf Textanalysen nach, dass Lessing bis in die 1760er Jahre hinein eine geschichtslose Vernunftreligion vertritt, die er gegenüber der Offenbarung sowie gegen eine religiös-ästhetische Subjektivität kritisch in Stellung bringt. Z. identifiziert Lessings Standpunkt mit der »aufgeklärten Religionsphilosophie« (152 u. ö.) schlechthin. Im Hintergrund seiner Interpretation steht die etwas altbackene These vom geschichtslosen Denken der Aufklärung. Eine erste Verschiebung dieser Position erkennt er im Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763/1764). Der Abschnitt deutet die Vielgestaltigkeit von Lessings frühem religionsphilosophischen Denken an, das Z. insgesamt als defizitär apostrophiert.

Der kurze zweite Teil (155–189) nimmt Veröffentlichungen aus den frühen Wolfenbütteler Jahren unter die Lupe. Z. vertritt die altbekannte These, dass Lessing in dieser Zeit eine Selbstkorrektur vornimmt, die maßgeblich von der Leibniz-Lektüre herrührt und inhaltlich auf die Wiedergewinnung vormals kritisierter christlicher Glaubensbestände zielt. Der dritte Teil, die »Gipfelschau« (190–288), wendet sich dem Fragmentenstreit und der Erziehungsschrift zu. Hier sei Lessing am Ziel seines Denkens angelangt (244 f. u. ö.). Die selektive und sprunghafte Analyse des Fragmentenstreits (193–255) konzentriert sich auf die Unterscheidung zwischen widervernünftig und übervernünftig. Lessings Zuordnung der Offenbarung zum Übervernünftigen ist der Ausgangspunkt von Z.s Interpretation der Erziehungsschrift. In ihrem Zentrum steht § 37, in dem Vernunft und Offenbarung in einem wechselseitigen Dienstverhältnis einander zugeordnet werden (254 f.261 u. ö.). Für Z. ist dies die Pointe von Lessings religionsphilosophischer Genese. Er versteht § 37 so, dass die Offenbarung die Vernunft leiten soll und der Vernunft die Aufgabe zukommt, die Wahrheitsgehalte aus dem historisch kontingenten Offenbarungsgeschehen herauszustellen (267 f.). Die Vernunft werde beim späten Lessing »zur Werdenden und Wandelnden« und bedürfe eines »anderen Lichtes« (287). So wird unter der Hand von Z.s Werkanalyse aus dem typisch aufgeklärten – d. h. in dieser Studie vernunftgläubigen und geschichtsvergessenen – Religionskritiker ein »Retter der Offenbarung« (273, Anm. 345).

Z. bereichert damit die Galerie von Lessing-Bildern um eine weitere Gesamtdeutung. Was aber trägt seine Studie für die Lessing-Forschung aus? Die Einzelinterpretationen bringen im Vergleich mit den Kommentaren der von Wilfried Barner besorgten Frankfurter Ausgabe und ausgewählten Titeln aus der Sekundärliteratur weder neue Deutungsvorschläge noch erschließen sie unbekannte Kontexte. Stellenweise fällt Z. sogar hinter den Stand der Lessing-Forschung zurück: Im Kapitel zum Fragmentenstreit setzt er sich z. B. nicht mit der gutbegründeten These von Hannes Kerber auseinander, der zufolge Lessings Herausgabe und Kommentierung der Fragmente auf die apologetische Praxis der vernünftigen Orthodoxie zielt. Z. hält stattdessen an der altbekannten Sicht fest, Lessing richte sich eigentlich gegen die Neologie. Auch die von Friedrich Vollhardt erschlossenen Konstellationen zum Fragment Das Christentum der Vernunft ignoriert Z. Stattdessen vergleicht er Lessings Fragment mit Thomas von Aquins Summa contra gentiles, die er als »Normalphilosophie« der Lessingzeit (98–105) einführt. Wolff und Gottsched erhalten demgegenüber kaum Aufmerksamkeit. Die übrigen von Z. exemplarisch ausgewählten Kontexte bleiben unspezifisch und ohne größeren Erschließungswert. Die komplexe theologische Landschaft der deutschsprachigen Aufklärung kommt überwiegend in Stereotypen vor: Die Orthodoxie bleibt ebenso ein monolithischer Block wie die Neologie und der Deismus – daran ändern auch die einschlägigen Exkurse wenig. Kurzum: Die ideengeschichtliche Kontextualisierung ist keine Stärke dieser Arbeit.

Nun liegt der Arbeitsschwerpunkt aber auf der systematischen Interpretation der Genese von Lessings Denken. Diesen Zugang zu Lessings Werk weist Z. in Anlehnung an einen Aufsatz von Gideon Stiening als geboten aus (2, 245), ohne jedoch zu klären, was genau er unter systematisch versteht. Z. rechnet – wenigstens bei der Erziehungsschrift – mit einem »konsistenten Standpunkt […] mit klaren Geltungsansprüchen« (245 Anm. 221). Der Hinweis auf § 37 und dessen Interpretation im Kontext des Fragmentenstreits sind sein Ergebnis, was in der Tat eine echte Bereicherung darstellt.

Allein die Zahl divergierender Lessing-Gesamtdeutungen lässt es fraglich erscheinen, dass darin der folgerichtige Zielpunkt von Lessings Religionsphilosophie zu sehen ist. Die diametral verschiedene Interpretation der Erziehungsschrift durch seinen Gewährsmann Stiening könnte Z. bereits zu denken geben. Immanente Werkinterpretationen wie die vorliegende müssen sich fragen lassen, warum es einem versierten Schriftsteller nicht gelingt, seinen Standpunkt eindeutig und unmissverständlich auszudrücken, wenn das doch seine Absicht ist? Es scheint vielmehr so zu sein, dass gerade diejenigen diesem Liebhaber der Theologie nicht auf die Schliche kommen, die in seinen Texten nach dem Eigentlichen suchen, ohne deren literarische Form, ihren Werk- und ihren Wirkkontext gründlich zu beleuchten. Auch dies führt Z.s Studie eindrucksvoll vor Augen.