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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1218-1219

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Jacobi, Thorsten

Titel/Untertitel:

»In den Riss hineinstellen« – Wilhelm Philipps der Jüngere (1891–1982). Dokumente aus seinem Leben für Kirche und Diakonie von der Kaiserzeit bis in die Zeit des geteilten Deutschland.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2021. 608 S. = Unio und Confessio, 31. Kart. EUR 29,90. ISBN 9783785807941.

Rezensent:

Vicco von Bülow

Vor fast einem Vierteljahrhundert bezeichnete es Joachim Mehlhausen als Forschungsdesiderat für die Kirchliche Zeitgeschichte, dass »Biographien der Hauptbeteiligten aus allen kirchenpolitischen Lagern« fehlen (Art. Nationalsozialismus und Kirchen, TRE Bd. 24, Zitat: 46). Thorsten Jacobi hat sich entschieden, seine freie Zeit als Schulreferent in der Corona-Pandemie zu nutzen, um die Biographie des westfälischen Theologen Wilhelm Philipps (1891–1982) zu schreiben, der in der NS-Zeit als Vertreter der kirchenpolitischen Mitte wirkte. Im Titel wird das für »eine breite Leserschaft« (12) gedachte Buch vorsichtig als Materialsammlung bezeichnet. J. legt offen, dass Philipps der Vater seines Schwiegervaters war, also persönliche Bezüge bestehen. Der Versuchung einer »biographische[n] Rehabilitierung« (12) des in der Geschichtsschreibung nicht unumstrittenen Philipps ist er sich bewusst, um sie zu vermeiden (Ausnahmen z.B. im Fazit S. 530: »Wilhelm Philipps war, soweit das überhaupt möglich ist, ein kompletter Theologe, bei dem sich Frömmigkeit, Bildung und organisatorisches Geschick zu einem überzeugenden Ganzen verbanden.«).

Der 1891 im westfälischen Bommern geborene Wilhelm Philipps, aus einer großen Theologenfamilie stammend, durchlief eine Vielzahl von beruflichen Stationen in Kirche und Diakonie. So war er zunächst Pfarrer in Höxter und in Herdecke, dort auch Landesjugendpfarrer. 1926 wechselte er als Jugendpfarrer und Leiter des Evangelischen Jugend- und Wohlfahrtamts nach Düsseldorf, bevor er 1932 für sieben Jahre als Vorsteher des Evangelischen Johannesstifts in Berlin-Spandau amtierte. Zwischen 1939 und 1946 wirkte er als Oberkonsistorialrat des Konsistoriums der westfälischen Kirchenprovinz in Münster. Dieser Schaffensperiode widmet J. ein Viertel seiner biographischen Darstellung, während die folgenden neun Jahre als Pfarrer in Bünde (bis 1955) auf knappen zehn Seiten abgehandelt werden. Zwischen 1956 und 1962 war Philipps Geschäftsführender Direktor des Gesamtverbands der Inneren Mission in Berlin, in seinem Ruhestand übernahm er verschiedene Ämter, zum Beispiel die Geschäftsführung der Inneren Mission in Hagen. Er starb 1982 und wurde in seinem Geburtsort beerdigt.

Die biographischen Stationen werden von J. klug in der Geschichte von Gesellschaft und Kirche verortet, so dass die vorgelegten Dokumente in ihrer Entstehungszeit verständlich werden. Vor allem Philipps’ Haltung in der NS-Zeit verlangt für J. nach Kommentierung über den autobiographischen »Grundstock« (249) hinaus, er will sie »von innen« (224) heraus verstehen, soweit das möglich ist. Denn »von außen« sind harsche Urteile über Philipps gefällt worden: »eine der schwankendsten Gestalten« (Martin Albertz, 222) wurde er genannt, und ihm wurde »leider eine Weder-noch-Stellung« vorgeworfen (Karl Koch, 364).

Wie viele andere positiv-konservative Theologen, durch Stoecker, Elert und Heim geprägt, wandte sich Philipps hoffnungsvoll dem Nationalsozialismus zu und wurde am 1. Mai 1933 Mitglied in der NSDAP, in der verfehlten Hoffnung auf ein »Mitsteuern durch Mitmachen« (129). Den Deutschen Christen stand er bis Anfang 1934 sehr nahe. Gleichzeitig hatte er »theologische Vorbehalte« (vgl. 82 f.) und blieb seinen eher pietistischen Glaubensüberzeugungen gegen radikale deutschchristliche Positionen treu. Wie viele diakonisch Verantwortliche dieser Zeit ging es ihm darum, »die Kirche und ihre Arbeitsfelder handlungsfähig zu halten« (529), was in seinem Leitungshandeln im Spandauer Johannesstift durch vielfache Versuche des Ausgleichs sichtbar wurde. Dort gab es keine direkten Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Aktionen; die späteren Proteste Kardinal von Galens gegen die Euthanasie hat Philipps allerdings abgelehnt (vgl. 331). J. kommentiert dies zutreffend: »Man war bereit, die ›Opfer unter dem Rad zu verbinden‹, ohne ›dem Rad in die Speichen zu fallen‹, wie Bonhoeffer es gefordert hatte.« (221)

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Fritz von Bodelschwingh ihn 1939 darin unterstützte, auf Anfrage des westfälischen Präses Karl Koch als »Geistlicher Dirigent« in das Konsistorium nach Münster zu wechseln. Hier versuchte er, sowohl den Deutschen Christen als auch der Bekennenden Kirche zu entsprechen, der er 1935 in Preußen beigetreten war. Als Mann der Mitte entschied der »konsistoriale Praktiker« (13) in einigen Fällen für die eine, in manchen Fällen für die andere Seite. Damit konnte er allerdings beiden Parteiungen nicht gerecht werden; auch das kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs lehnte er ab und riet »dringend zu aufrechter Vorsicht gegenüber Wurm« (356). Dies konnte nach 1945 nur zu einem Ausschluss von kirchlichen Leitungsämtern führen, weil er der »radikalen« BK nicht konsequent genug war. Erst spätere Generationen der Kirchenleitung (z. B. die westfälischen Vizepräsidenten Begemann und Danielsmeyer) würdigten sein Bemühen positiver. Das tat auch Otto Dibelius, dessen »großer Bewunderer« (453) Philipps war und der ihn als Diakoniemanager in die Berliner Innere Mission berief, wo er seine theologischen und betriebswirtschaftlichen Fähigkeiten einsetzen konnte.

Bei allen kirchlichen und staatlichen Ehrungen blieb der Stachel der als ungerecht empfundenen Behandlung nach dem Ende des Kirchenkampfes bei Philipps spürbar, wie er es in ausdrucksstarken Briefwechseln mit dem Herforder Superintendenten und späteren Prälaten Hermann Kunst beschrieb. Mit vielen seiner ursprünglichen kirchenpolitischen Gegner konnte er sich später auf irenische Art und Weise versöhnen.

J. bietet reiches Material und eine weite Grundlage für eine kritische Philipps-Biographie. Er macht deutlich, dass auch Wilhelm Philipps »kein ausgeklügelt« Buch, sondern »ein Mensch mit seinem Widerspruch« (Conrad Ferdinand Meyer) war.