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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1209-1212

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wallraff, Martin

Titel/Untertitel:

Die Kanontafeln des Euseb von Kaisareia. Untersuchung und kritische Edition.

Verlag:

Berlin: De Gruyter 2021. VIII, 266 S., m. 87 farb. Abb. = Manuscripta Biblica, 1. Geb. EUR 159,95. ISBN 9783110439526.

Rezensent:

Jens Schröter

»Die Kanontafeln sind der König der neutestamentlichen Paratexte.« Mit diesem Satz begründet Martin Wallraff, Kirchenhistoriker an der Münchner Evangelisch-theologischen Fakultät und Principal Investigator im Forschungsprojekt »Paratexts of the Bible. Analysis and Edition of the Greek Textual Transmission«, diese Edition. Denn obwohl es sich »um einen der meistabgeschriebenen Texte aller Zeiten, vermutlich um den meistabgeschriebenen Text der europäischen Antike direkt nach dem primären Bezugstext, nämlich den Evangelien« (3), handelt und die Kanontafeln durchaus Aufmerksamkeit in der neueren Forschung auf sich gezogen haben, fehlte bislang eine kritische Ausgabe – oder gerade deshalb. Die schiere Menge an Manuskripten mit den Kanontafeln macht nämlich eine Auswahl unumgänglich. Diese wurde hier mit Hilfe einer chronologischen Grenze getroffen: Berücksichtigt wurde das Material bis zur Mitte des 10. Jh.s, das sowohl griechische Handschriften als auch Übersetzungen umfasst.

Der Erfolg der Kanontafeln erklärt sich durch deren unmittelbare Eingängigkeit und einfache Handhabung. Euseb hatte die Erzählungen der vier Evangelien des Neuen Testaments in zehn Tafeln – oder eben: Kanones – eingeteilt, um auf diese Weise die Parallelen sichtbar und schnell auffindbar zu machen. Die Kanontafeln sind demnach in gewisser Weise ein Vorläufer der späteren Synopsen, aber sie sind zugleich viel mehr als das. Das System geht in absteigender Weise vor, beginnt also mit Kanon I, der Parallelen aller vier Evangelien enthält, und endet mit Kanon X mit denjenigen Perikopen, die sich nur in einem Evangelium finden (in heutiger Diktion also dem sogenannten »Sondergut«). Durch die jeder Perikope beigegebene römische Zahl ist demnach sofort erkennbar, in welchem Evangelium sich die jeweilige Episode ebenfalls findet (oder eben nicht findet). Zusätzlich werden die Perikopen in jedem Evangelium mit arabischen Zahlen durchnummeriert. Das System der Kanontafeln findet sich auch in den Textausgaben des Novum Testamentum Graece als »Beigabe am inneren Rand«, was den Vergleich verschiedener Versionen einer Episode in den Evangelien erleichtert. In den Ausgaben des NTG findet sich darüber hin- aus der Brief Eusebs an Karpian, in dem das System erklärt wird.

Die vorliegende Edition rekonstruiert sowohl den Text des Karpianbriefs als auch denjenigen der Kanontafeln. Präsentiert werden aber nicht nur technische Details zum von Euseb entwickelten System und zu editionstechnischen Fragen, obwohl sich auch dazu überaus reiches Material findet. Neben wichtigen Beobachtungen und Entscheidungen, auf die gleich noch einzugehen ist, liegt ein wesentlicher Vorzug in der in hohem Maße ansprechenden und anschaulichen Gestaltung des Bandes, der zahlreiche Abbildungen der besprochenen Handschriften und alten Drucke enthält, von denen einige im Text selbst, die meisten aber in einem Teil »Bildtafeln« (215–266) zusammengestellt wurden. Gemeinsam mit übersichtlichen Tabellen zu verschiedenen Aspekten der Kanontafeln wird die Edition auf diese Weise – ihrem Gegenstand angemessen – zu einem nicht nur informativen, sondern auch ästhetisch überaus anspruchsvollen Opus.

Zu Beginn werden Einleitungsfragen zu den Kanontafeln geklärt. Es folgt ein informatives Kapitel zum »Profil eines erfolgreichen Produktes«. Hier führt der Autor aus, warum Eusebs Erfindung so erfolgreich war: Sie hat es vermocht, mit einem bestimmten Verständnis von »Kanon« – nämlich als »Liste, Tabelle«, die die Bedeutung »Regel, Norm« erweitert – das Problem der Vierzahl der Evangelien bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Einheit zu lösen. Ein vergleichbares Verständnis von »Kanon« findet sich z. B. in den astronomischen Tabellen des Ptolemaios, christlicherseits wäre der Sache nach vor allem die Hexapla des Origenes zu nennen (auch wenn für diese der Kanonbegriff nicht explizit verwendet wird), für Euseb selbst wäre auf seine Chronik (χρονικοὶ κανόνες) zu verweisen. Eusebs System soll die »Symphonie« (συμφωνία) der Evangelien veranschaulichen – ein Begriff, den er aus der Schule des Origenes übernommen hat, der damit die Einheit in der Vielstimmigkeit der biblischen Überlieferung aufzeigen wollte. Die Kanontafeln leisten demnach einen wichtigen Beitrag zum theologischen Verständnis der Vierzahl der Evangelien des Neuen Testaments sowie zur Verwendung des Kanonbegriffs. Diese theologische Dimension verbindet sich in dem Werk auf beeindruckende Weise mit einer technischen Umsetzung, bei der viele Detailprobleme zu lösen waren – so z. B. welche Reihenfolge bei den Dreierkanones II bis IV zu wählen sei. Es fehlen die möglichen Kanones Markus – Johannes sowie Markus – Lukas – Johannes, vermutlich aufgrund der Einsicht, dass sie für das Werk keinen eigenen Beitrag erbracht hätten. Schließlich mussten graphische Gestaltung und Text bei der Anlage des Gesamtwerkes ineinandergreifen – eine Aufgabe, die bei den zahlreichen späteren Reproduktionen immer wieder aufs Neue zu lösen war (was nicht immer gelungen ist, wie an verschiedenen Beispielen gezeigt wird).

Kapitel 3, »Textkritik und Textgestalt«, widmet sich zum einen der Rekonstruktion der Kanontafeln selbst, zum anderen wird danach gefragt, welche Rückschlüsse sie auf den von Euseb verwendeten Text der Evangelien zulassen. Ein interessanter Fall für Ersteres, also die Textkritik der Kanontafeln, wird auf 66–68 diskutiert. Die Dublette in Mt 24,9 und Mt 10,17 f. wird einmal in Kanon I (alle vier Evangelien), das zweite Mal in Kanon VI (Mt/Mk) angeführt. Das Problem, dass dadurch die Mk-Parallele (Mk 13,9) zweimal auftaucht, ist von späteren Zeugen unterschiedlich gelöst worden. So wurde z. B. Mt 10,17 f. auch in Kanon I integriert – wodurch nun aber unklar wird, auf welche Mt-Stelle sich die Parallelen in den anderen Evangelien beziehen sollen. Dieses Beispiel sowie weitere in dem Kapitel besprochene Fälle zeigen, welche Fragen sich bei der Erstellung der Kanontafeln stellten; sie tauchen später in Synopsen in ähnlicher Weise wieder auf.

Die vorliegende Edition weicht in Bezug auf die Anführung der Parallelen von einer Praxis ab, die in der zweiten Ausgabe der Kanontafeln durch Erasmus von 1522 zum ersten Mal begegnet und der alle späteren Editionen gefolgt sind. Hat nämlich eine Perikope mehrere Parallelen in einem anderen Evangelium (in der Regel handelt es sich um synoptische Texte mit mehreren Parallelen bei Johannes), so kann entweder numerisch nach der hinteren Spalte oder aber nach inhaltlicher Priorität (d. h., nach der sprachlichen und inhaltlichen Nähe der Parallelen) geordnet werden. Euseb hatte Letzteres getan, und zu dieser Praxis kehrt die vorliegende Edition in Korrektur aller vorangehenden seit 1522 (einschließlich Nestle-Aland) zurück.

Das umfangreiche Kapitel 4, »Überlieferung und Editionstechnisches«, stellt die Überlieferung der Kanontafeln ins Zentrum. Aus der Spätantike sind nur wenige Exemplare bekannt, um so reicher fließt die Überlieferung dann ab dem 10. Jh. – so reich, dass von der editorischen Berücksichtigung einer noch größeren Zahl von Handschriften kaum ein Erkenntnisgewinn zu erwarten gewesen wäre. Besprochen wird – in Anknüpfung an und in Auseinan- dersetzung mit den Forschungen des bedeutenden Carl Nordenfalk – die für die Kanontafeln wichtige Seiteneinteilung, die wahrscheinlich auf ein siebenseitiges griechisches Schema als Archetyp (der sich wiederum vermutlich mit dem eusebianischen Original selbst identifizieren lässt) zurückgeht und dann in den verschiedenen Übersetzungen mehrfach modifiziert wurde. Eine Übersicht über die Seiteneinteilungen in den ältesten Zeugen findet sich auf S. 88.

Da die Kanones unterschiedliche Spalten- und Zeilenzahlen enthielten, also in Länge und Breite verschieden waren, ergaben sich Schwierigkeiten bei ihrer Verteilung auf mehrere Seiten, was insbesondere die Länge, also die Gesamtzahl der in einem Kanon vorhandenen Ziffern, betraf. Das wird an den Schemata auf S. 90 f. sehr gut deutlich. Rückschlüsse lassen sich schließlich auch auf den den Kanontafeln vorangestellten Karpianbrief sowie auf den Tholos, eine vermutlich von Beginn an beigefügte Abbildung, die ein von vier Säulen getragenes Dach zeigt, ziehen (Abbildungen des Tholos in Manuskripten aus verschiedenen Kulturräumen finden sich auf S. 98 f.). Der Tholos ist in der Kunstgeschichte unter verschiedenen Bezeichnungen intensiv diskutiert worden. Er ist für das theologische Verständnis der Kanontafeln von hoher Relevanz und lässt sich als Motiv auf den eusebianischen Archetyp zurückführen. Diese von W. übernommene These Carl Nordenfalks lässt die Annahme zu, dass auch der Titulus, nämlich Ὑπόθεσις κανόνος τῆς τῶν εὐαγγελιστῶν συμφωνίας, einen mit dem Tholos gemeinsamen Ursprung in diesem Archetyp besitzt.

Besprochen werden des Weiteren die Randziffern des eusebianischen Systems, die allerdings in der älteren Überlieferung oftmals separat vom Kanonwerk selbst tradiert wurden (oder bei der die Tafeln selbst verloren gegangen sind). Es folgt eine ausführliche Beschreibung der griechischen Textzeugen, darunter der ältesten »Vollbibeln« Sinaiticus, Alexandrinus und Ephraemi rescriptus (die zwar die Kanontafeln nicht enthalten, bei denen aber vorausgesetzt werden kann, dass sie ursprünglich vorhanden waren) sowie der alten lateinischen, syrischen, armenischen, äthiopischen und einiger weiterer Übersetzungen in östliche Sprachen. Am Ende des Kapitels stehen ein Blick auf vorausgehende Editionen der Kanontafeln, verbunden mit einer kurzen Forschungsgeschichte, sowie eine Übersicht der der vorliegenden Edition zugrundliegenden Zeugen (173).

Kapitel 5 enthält die Edition selbst. Am Beginn steht der Karpianbrief, mit griechischem Text und deutscher Übersetzung, einschließlich eines Apparates zu den Bezeugungen des Textes in den Handschriften und eines weiteren zu den Varianten. Die Kanontafeln werden ebenfalls auf Griechisch (hier mit den entsprechenden die Zahlen symbolisierenden Buchstaben) und auf Deutsch geboten. Diese Seiten (175–189) sind für die künftige Arbeit mit den Kanontafeln eine unverzichtbare Grundlage.

Am Schluss stehen ein ausführliches Literaturverzeichnis, Indizes zu edierten Texten aus Karpianbrief und Kanontafeln, Bibelstellen, antiken Schriften, Personen und Handschriften (mit Angabe von Bibliothek und Signatur) sowie schließlich die Nummern im Gregory/Aland und Diktyon-System. Es folgt der bereits genannte ausführliche Teil mit Bildtafeln, der nicht einfach schmückendes Beiwerk, sondern ein wesentlicher Beitrag zur Forschung an den Kanontafeln ist, deren Überlieferung von ihrer bildlichen Darstellung nicht zu trennen ist, was an der oben angeführten Bedeutung des Tholos für das theologische Verständnis der Kanontafeln deutlich wird.

Die hier vorgelegte Edition ist vorbildlich, überaus informativ und buchtechnisch hervorragend gestaltet. Sie macht deutlich, dass die Kanontafeln nicht nur eine nette, letztlich aber entbehrliche Beigabe zum Novum Testamentum Graece, sondern ein für das Studium der Evangelien, aber auch in kanontheologischer sowie nicht zuletzt in kunstgeschichtlicher Hinsicht überaus bedeutsames Zeugnis sind. Die intensive, kleinteilige Arbeit an ihrer sehr komplexen Überlieferungslage nötigt höchsten Respekt ab. Dem Buch kann man nur wünschen, dass es die Bedeutung der Kanontafeln und ihrer Überlieferung, die nicht zuletzt in kunsthistorischer und buchtechnischer Hinsicht von Bedeutung ist, ins Bewusstsein ruft.