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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1207-1209

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Collinet, Benedikt J., u. Georg Fischer SJ [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Karl Rahner und die Bibel. Interdisziplinäre Perspektiven.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 310 S. = Quaestiones Disputatae, 626. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783451023262.

Rezensent:

Klaus Vechtel SJ

Der Vorwurf, dass Karl Rahners Theologie durch ihre transzendentale Methode die Geschichte übergehe und wenig Interesse an biblischen Themen bzw. biblischer Exegese habe, ist in der kritischen Auseinandersetzung mit Rahner verbreitet. Der von den beiden Alttestamentlern Georg Fischer und seinem früheren wissenschaftlichen Mitarbeiter Benedikt J. Collinet herausgegebene Sammelband, der im Rahmen einer Tagung des Innsbrucker Forschungsprojektes »Karl Rahner and the Bible« (13) entstanden ist, geht nicht nur differenziert dieser Frage nach, sondern rückt am Beispiel von Rahners Werk die Verhältnisbestimmung von Bibelwissenschaften und systematischer Theologie in den Blickpunkt.

In einem ersten Teil (Quellen) wird hierzu in biographisch orientierten Beiträgen dem Zusammenhang zwischen dem Umgang mit der Schrift in den Exerzitien des Ignatius von Loyola und Rahners Theologie (P. Endean) und Rahners Vorstoß zum Verständnis der Inspirationslehre in der Auseinandersetzung mit dem späteren Kardinal Augustin Bea SJ, der als »Konsultor des Heiligen Offiziums für die kirchliche Buchzensur tätig war« (53), nachgegangen (M. Pfister). Die sich in dieser Auseinandersetzung zeigende Krise des neuscholastischen Offenbarungsverständnisses wird in einem zweiten Teil im Blick auf die neuscholastisch geprägten Vorlesungstraktate vertiefend behandelt (U. Schumacher u. R. Siebenrock mit Beiträgen zu den gnadentheologischen Vorlesungen sowie D. Sattler zu den bußtheologischen Schriften). Rahners Verhältnis zum Alten Testament wird in einem dritten Abschnitt so behandelt, dass L. Schwienhorst-Schönberger den Grundkurs des Glaubens einem Vergleich mit anderen Einführungen in den christlichen Glauben von J. Ratzinger und H. Küng unterzieht, während G. Fischer in einer kritischen Durchsicht der Werkausgabe den innovativen Aufbruch und die bleibenden problematischen Punkte in Rahners Verhältnis zum Alten Testament aufzeigt. A. Wucherpfennig fragt in einem weiteren Abschnitt zum Neuen Testament, wie sich ausgehend von Rahners Überlegungen zur Einheit von Gottes- und Nächstenliebe exegetisch »eine Leitperspektive für eine gesamtbiblische Ethik« (199) finden lässt. Wie Rahner mit Spannungen und divergierenden Aussagen im Corpus Paulinum im Blick auf eine für ihn leitende biblisch-dogmengeschichtliche Gesamthermeneutik umgeht, steht im Zentrum der Überlegungen von H. Scherer. Unterschiedliche Beiträge sind im letzten Teil des Bandes versammelt. K.-H. Neufeld kann auf die Bedeutung verweisen, die Rahner für eine bibeltheologische Orientierung in den Dokumenten des II. Vatikanums gespielt hat, während A. Findl-Ludescher dem Schriftgebrauch und der Entwicklung im Predigtstil Rahners nachgeht. Für A. Fritz, dessen Beitrag eine bemerkenswerte Zusammenschau der Rahner-Rezeption im englischsprachigen Raum bietet, wurde durch die Fokussierung auf die philosophischen Grundlagen die biblische Grundierung von Rahners Denken oftmals nicht genügend berücksichtigt. B.-J. Collinets abschließender Beitrag kann die bleibende Bedeutung Rahners für die Verhältnisbestimmung von biblischer Exegese und systematischer Theologie erheben. Aus der Vielzahl der werk- und theologiegeschichtlich bedeutsamen Aspekte und der weiterführenden bibelwissenschaftlichen und systematischen Perspektiven, die dieser Sammelband bietet, sei auf folgende Punkte hingewiesen:

Ein Konsens besteht darüber, dass Rahners Umgang mit Schrift und mit der biblischen Exegese aus der Sicht der systematischen Theologie einen bedeutenden Neuaufbruch darstellt, der bereits in seinen noch neuscholastisch geprägten Traktaten in einem Gebrauch der Schrift greifbar wird, der über »eine bloße ›Probatio‹« (Sattler, 117) im Sinne einer nachträglichen Bestätigung der kirchlichen Lehre bzw. der spekulativen Erkenntnis hinausgeht. Der neuralgische Punkt betrifft Rahners Verhältnis zum Alten Testament und die Frage, inwieweit Rahner, »das AT nur als Vorgeschichte« (Fischer, 155) auf Christus hin betrachten kann und die »erste Offenbarung Gottes nicht in ihrem Wert« (ebd., 160) schätzen kann. Seiner anthropologisch gewendeten Theologie, deren »christologische Grundmatrix« (Siebenrock, 101) bestimmend ist, bleibt er in seinen späteren Äußerungen – etwa im Gespräch mit P. Lapide – treu.

Zugleich wird in einer Reihe von Beiträgen deutlich, dass Rahner – »mit Rahner über Rahner hinaus« (Collinet/Fischer, 18) – weitergedacht werden kann. Die Unterscheidung (nicht Trennung!) von transzendentaler und geschichtlich-kategorialer Offenbarung aufgreifend bietet der Grundkurs des Glaubens für Schwienhorst-Schönberger »eine Denkform an« (143), die nicht zwangsläufig auf eine transzendentale Relativierung der alttestamentlichen Offenbarungsbotschaft hinauslaufen muss. Die Frage nach dem Offenbarungscharakter und der göttlichen Urheberschaft der biblischen Schriften ließe sich – gegenüber einer Art Offenbarungsvergessenheit im exegetischen Alltagsgeschäft bzw. einer unvermittelten Einführung einer göttlichen Urheberschaft der biblischen Schriften – so verstehen, dass die Hagiographen/Propheten die transzendentale Gotteserfahrung »richtig aussagen« (141).

Damit verbunden ist bei Rahner eine Verhältnisbestimmung von biblischer Exegese und systematischer Theologie, die als »heute noch immer richtungsweisend« (Wucherpfennig, 182) bezeichnet wird: »Von der Dogmatik erwartet Rahner, dass sie die biblischen Quellen systematisch bohrend durchdenkt, von der Exegese erwartet er eine wirkliche Bibeltheologie.« (Ebd.) Die beidseitig-wechselseitige Bezogenheit von Exegese und Dogmatik bei methodischer Unterschiedenheit geht einher mit der Differenzierung zwischen Exegese und biblischer Theologie. Während erstere die historische und philologische Bedeutung der biblischen Texte untersucht, legt die zweite »die Offenbarung in der Schrift dar« (Collinet, 273) und bekommt eine fundamentaltheologische Grundlagenfunk- tion. Auch wenn es als problematisch zu bewerten ist, wenn Rahner die Dogmatik als »Königsdisziplin« (ebd., 294) der Bibelwissenschaft vorordnet (Fischer, 145–149, 174–179), kann sich dennoch die Differenzierung von »Exegese und Bibeltheologie als sehr fruchtbar erweisen […], wenn man sich mit dem Verhältnis der menschlichen und göttlichen Seite der Offenbarung befasst« (Collinet, 295).

Meines Erachtens stellt sich hier auch die Frage nach der theologischen Bedeutung von vormodern-patristischen Auslegungsmethoden der Schrift, die Rahners Werk aufwirft (Fritz, 263–267) und die ebenso einer weiteren Erörterung bedarf, wie der fundamentaltheologischen Relevanz, die der ignatianisch-existentielle Zugang zur Schrift für die Frage der Glaubensbegründung eröffnet (Endean, 26–33). Fischer bemerkt richtig, dass Rahner in späteren Arbeiten kaum noch explizit auf biblische Texte und biblische Theologie eingeht (Fischer, 165). Das hängt damit zusammen, dass Rahner eine Spezialisierung aller theologischen Disziplinen wahrnahm, die ihm als Systematiker die Kompetenz in exegetischen Fragen nicht mehr möglich machte und für ihn die Einheit der Theologie in Frage stellte.

Ausgehend von einer kritischen Relecture der Theologie Rahners schließt der vorliegende Sammelband nicht nur eine wichtige Forschungslücke, die den Umgang Rahners mit den Bibelwissenschaften betrifft, sondern eröffnet grundlegende Fragestellungen und Perspektiven bezüglich einer möglichen fruchtbaren Verhältnisbestimmung von Bibelwissenschaften und systematischer Theologie und somit auch bei aller notwendigen fachspezifischen Differenzierung und Eigenständigkeit einer grundlegenden Einheit der Theologie.