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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1198-1200

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dziri, Amir

Titel/Untertitel:

Tradition und Diskurs. Wandel als Möglichkeit islamischer Hermeneutik.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2023. 239 S. Geb. EUR 109,95. ISBN 9783110794557.

Rezensent:

Rüdiger Braun

Im Horizont gesellschaftspolitischer Debatten um soziale Zugehörigkeit in der Einwanderungsgesellschaft erweist sich der kritische wie zugleich produktive Umgang mit der eigenen kulturellen und religiösen Tradition als eine zentrale Herausforderung religiöser Gemeinschaften. Dies gilt in besonderer Weise für die Glaubensgemeinschaft der Muslime, deren Anschluss an die zivilisatorische und säkulare Matrix westlicher Gesellschaften in diesen Debatten oft als ausbaufähig erachtet wird. Den am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft der Universität Freiburg als Professor für Islamische Studien lehrenden Islamwissenschaftler Amir Dziri hat die damit verbundene Frage nach der Reformbedürftigkeit und -fähigkeit der islamischen Tradition dazu veranlasst, die Erkenntnisse der transdisziplinären Traditionstheorie für eine kritische Diskussion des islamischen Traditionsbegriffs fruchtbar zu machen und auf diesem Wege die Potentiale einer progressiven muslimischen Selbstverständigung aufzuzeigen.

Nachdem D. in einer ersten Synthese auf der Basis traditionstheoretischer Grundlegungen (Kapitel I: 20–49) muslimische Prägungen und Leitkategorien von Traditionalität diskutiert (Kapitel II und III: 50–176), benennt er in einer zweiten Synthese die Bedingungen einer islamisch-religiösen Aktualisierung (Kapitel IV: 177–201) und arbeitet schließlich die Potentiale eines diskurstheoretischen Ansatzes für den Wandel islamischen Denkens heraus (Kapitel V: 202–214). Was die mit »Tradition und Diskurs« überschriebene Studie für den innerislamischen Diskurs so grundlegend macht, ist der Umstand, dass sich D. nicht scheut, in aller Ausführlichkeit die Schwierigkeiten einer solchen auf die Herausforderungen der (Spät-)Moderne reagierenden Aktualisierung der Islamischen Tradition zu thematisieren. Sie liegen in einem die traditionelle islamische Theologie kennzeichnenden und zutiefst substantiellen Verständnis der Tradition begründet, das von »einer historisch und zeitlich nicht kompromittierbaren Substanz des Islam« (9) ausgeht und mit einer Rhetorik der Authentizität auf die unverfälschte Weitergabe der Tradita abhebt. Dies gilt selbst noch für einen Reformtheologen wie Talal Asad, dessen Konzeption des Islam als »diskursive Tradition« D. zufolge nicht auf eine offene Diskursivität, sondern auf das Moment der Kontinuität muslimischer Diskurse abzielt. In Abgrenzung zu Asad plädiert D. für eine »(re)konstruktiv-deutende Analyse der islamischen Diskursivität« und sucht zentrale Gehalte islamischer Traditionalität in eine »zusammenhängende islamische Diskurstheologie« (19) zu überführen.

Angesichts der unhintergehbaren sozialen Rahmung der Erinnerung, Aneignung und Aktualisierung islamischen Wissens knüpft D. an die erinnerungstheoretischen Überlegungen Danièle Hervieu-Légers und Jan Assmanns an und arbeitet Erinnerung und Wissen als Leitkategorien islamischer Traditionalität heraus. Die Zentralität von Erinnerung ergibt sich aus der Matrix der koranischen Verkündigung selbst, die sich selbst bereits zu Beginn der verschriftlichten Rezitation (Q 2,1) als fortwährende »Ermahnung« (ḏikr) präsentiert und in ihrer Erinnerung des (von Natur aus vergesslichen) Menschen an einen vorzeitlichen Bund zwischen Gott und Mensch (Q 7,172), an die befristete Lebenszeit (aǧal) des Menschen sowie an dessen jenseitige Erweckung (qiyāma) zum Gericht eine »enge Verflechtung von Zeit und Sinn« anzeigt, die D. »auf die Herausbildung einer ethischen Handlungsmaxime ausgerichtet« (80) sieht. Um diese Maxime möglichst offen zu halten, plädiert er für eine heuristische Verwendung des »Erinnerns«, die über die Authentifizierung der Überlieferung durch die Überlieferungskette (isnād) hinausgeht und den isnād – als das traditionelle Verifikationsinstrument der historischen Authentizität von Überlieferungsstoffen – in einen »phänomenologischen Zusammenhang des Erinnerns« (102) einbindet.

Als Gewährsmann einer Neuausrichtung der islamischen, als »lebendig« verstandenen »Tradition« (living Sunnah) fungiert der pakistanische Gelehrte Fazlur Rahman (1919–1988), der die prophetischen Überlieferungen (aḥādīth) vornehmlich als »Zeugenschaft des Vorbildes Muhammads durch seine Zeitgenossen« bzw. als »situative Interpretation und Formulierung des prophetischen Modells oder Geistes« (106) versteht. Den Grund dafür, dass sich ein solches Verständnis in der traditionellen Gelehrsamkeit nicht durchsetzen konnte, sieht D. in einem »dezidiert theologischen Momentum«: Die Betonung von Gottesallmacht und Gottesallwissenheit durch die Traditionsbewahrer »konnte nicht anders, als zu Ungunsten der subjektiven Erkenntnisfähigkeit des Menschen vorangetrieben werden« (109). Zudem habe die durch Ritual, Liturgie und schriftliche Kodifizierung nochmals beförderte formalistische Dimension der Überlieferung »das Möglichkeitsfeld zur hermeneutischen Neuerschließung des Stiftungssinns« (125) erheblich reduziert. D. macht keinen Hehl daraus, dass im Glaubensalltag der Muslime die prophetische Überlieferung nicht nur eine sehr viel elementarere lebenspraktische Orientierung, sondern auch ein deutlich intensiveres Identifikationspotential bietet als der Koran. Die mit der Überlieferung verbundene Vorstellung von der Vorbildlichkeit des Propheten bedingte einen Wissensbegriff, der durch die Oppositionalität von sunna (positiv konnotierter »Gewohnheit«) und bidʿa (negativ konnotierter »Gewohnheitsbruch«) bestimmt bleibt. Doch liegt die für islamische Traditionalität charakteristische stetige Suche nach einer erneuerten Verbindung zum Moment der historischen Stiftung der Offenbarung auch in koranischen Referenzen begründet, die mit ihrer Beschreibung des Propheten als »Siegel der Propheten« (Q 33,40) oder des Islam als »vervollkommneter Kultordnung« (Q 5,3) eine »Präzedenzorientierung des islamischen Denkens« (178) befördert haben. »Reform« bedeutet dann nicht Aktualisierung oder Revision, sondern »die Überwindung der Kluft zwischen Ideal und [vom menschlichen Unvermögen bestimmter, RB] Wirklichkeit« (183).

Die im abschließenden Kapitel V vorgestellten »Perspektiven einer islamischen Diskurstheologie« zeigen sich der Diskursethik von Jürgen Habermas verpflichtet, die D. als eine implizite kritische Traditionstheorie liest: In ihrer Ausrichtung auf die Bedingungen eines Aushandlungsprozesses von unterschiedlichen Gültigkeiten erlaubt sie es, Moral als intersubjektives Beziehungsgeschehen und somit als »kommunikativ verflüssigt« zu verstehen. Islamisch begründet sieht er eine solche diskursethische Perspektive zum einen durch die Diskursivität des Koran selbst, dessen Sprechsituationen und -handlungen er als »relational, prozessoral und kommunikativ« sowie als »multiperspektivisch« und »ausgesprochen variabel« (206) beschreibt, zum anderen durch den »diskursiven Modus des muslimischen Theologisierens«, der D. zufolge »probabilistisch« und zudem »formal anti-hierarchisch« sei: Die Normenkontrolle geschehe »nicht amtlich, sondern sozial« (208).

Wenngleich D. zu bedenken gibt, dass einem diskursiven Verständnis der Tradition »wirkmächtige traditionelle Vorstellungen« entgegenstehen, sieht er damit doch eine zentrale Bedingung für eine säkular gerahmte diskursive Verständigung erfüllt: Die Legitimierung islamischen Sprechens und Handelns geschehe hier »nicht mittels einer metaphysischen Autorität […], sondern auf Grundlage intersubjektiv zugänglicher Vernunftgründe« (212). Ein Urteil darüber, in welchem Maße D.s diskursethische Überlegungen tatsächlich zur Entwicklung eines neuen hermeneutischen, die islamwissenschaftliche Forschung konstruktiv aufnehmenden Zugangs zur islamischen Tradition beizutragen vermögen, liegt dem Rezensenten fern. Den Wert dieser Studie sieht er weniger im vorgestellten diskursethischen Ansatz als vielmehr in der konzisen und kritischen Bestandsaufnahme islamischer Traditionalität. Als solche wird sie zweifellos zu weiteren Studien aus muslimischer Feder anregen.