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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1147–1151

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Koschorke, Klaus

Titel/Untertitel:

Grundzüge der Außereuropäischen Christentumsgeschichte. Asien, Afrika und Lateinamerika 1450–2000.

Verlag:

Tübingen: UTB Mohr Siebeck 2022. 381 S. m. 57 Abb., 19 Ktn. u. 250 Fotos. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783825259341.

Rezensent:

Thomas Kaufmann

Nach dem 2021 in 5. Auflage erschienenen Quellenband zur außereuropäischen Christentumsgeschichte (gemeinsam mit Frie- der Ludwig und Mariano Delgado; engl. Ausgabe 2007; span. 2012) hat der emeritierte Münchner Kirchenhistoriker Klaus Koschorke mit dem nun vorgelegten Lehrbuch ein jahrzehntelanges Arbeitsvorhaben abgeschlossen und die Basis dafür geschaffen, dass sein Lebensthema mühelos zum Gegenstand des regulären kirchengeschichtlichen Unterrichts in Deutschland und weltweit werden kann. Als durchaus prophetisch ambitionierter Pionier einer polyzentrischen und globalgeschichtlichen Perspektive auf das Chris-tentum hat K. dem Fach frühzeitig ins Stammbuch geschrieben, dass eurozentrische oder gar konfessionelle Selbstgenügsamkeiten den Transformationsdynamiken des Christentums seit den geographischen Entdeckungen des späten 15. Jh.s nicht gerecht zu werden vermögen. Eine Stärke des gelernten Patristikers besteht darin, dass er gegenüber den antiken und mittelalterlichen Spuren des Chris-tentums in Asien und Afrika sensibel ist und, etwa in Bezug auf Armenien, Mesopotamien, Nordafrika, Äthiopien oder Südindien und die »Kirche des Ostens« in China, souveräne Rückbindungen an frühere Epochen der Kirchengeschichte herstellt.

K. korrigiert die ältere Missionsgeschichtsschreibung, die primär aus der Sendungsperspektive operiert hat, grundlegend. Ihn interessiert vornehmlich, was aus dem Christentum in den unterschiedlichsten Kontexten, in die es seit dem späten 15. Jh. eintrat, wurde, welche Aneignungs-, Umformungs-, Indigenisierungs- und Verselbständigungsprozesse stattfanden und wie die diversen Christentumsvarianten in Afrika, Asien und Lateinamerika mit den europäischen und vor allem untereinander interagierten. Gegenüber manchen Beiträgen zu globalgeschichtlichen Themen, die – unbeschadet postkolonialer Prätentionen – vornehmlich an europäische Quellenbestände und -perspektiven gebunden bleiben, geht K., dem jede europäische Superioritätsattitüde fremd ist, höchst rechtschaffen vor. Denn der Blick auf Außereuropa verleugnet den eigenen Standort, aber auch die historisch-genetische Ausgangskonstellation der zunächst von Europäern Christianisierten, deren sukzessive Entwicklung zu eigenständigen Akteuren bei ihm immer ins Zentrum der Darstellung drängt, nicht.

Das Buch trägt die Handschrift eines versierten akademischen Lehrers. Es ist in fünf etwa gleich gewichtige chronologisch angelegte Teile gegliedert, die analog aufgebaut sind und jeweils vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreiten, d. h. von den für einen Zeitraum charakteristischen Aspekten zu den Entwicklungen in den drei Kontinenten. Jeder Abschnitt schließt mit Abbildungen, denen nicht selten ein eigener Quellenwert zukommt. Über einen OCR-Code ist überdies der Zugang zu einem Bildarchiv möglich, das weitere Materialien bietet; es offenbart, dass K. auch ein Fotograf von Format ist. Die Texte sind mit Verweisen auf den Quellenband durchzogen, die vertiefende Lektüre durch studentische Nutzer bleibt also stets im Blick; dies gilt auch für die wohl dosierten und kompakten Literaturangaben zu jedem Abschnitt und für das gekonnt zusammengestellte Gesamtverzeichnis am Schluss, die eine Weiterarbeit für Spezial- oder Überblickskenntnisse erschließen. Hervorragendes Kartenmaterial, das mit dem Text eng verbunden ist, vermittelt ungemein nützliche Anschauungen. Als Lehrbuch ist das anzuzeigende Werk gründlich durchdacht und vorbildlich gestaltet. Es gehört in den Bücherschrank jedes Lehrenden und Studierenden der Kirchengeschichte. (Einzig für das Personenregister, in dem ich zahlreiche Namen nicht gefunden habe, sei für die gewiss bald fällige 2. Auflage gründlicher Revisionsbedarf angemeldet!)

Der erste Teil umfasst den Zeitraum von 1450–1600. Es hätte in gewissem Sinne auch mit dem Satz: »Am Anfang waren die Osmanen!« einsetzen können. Die fieberhafte Suche der Europäer nach einem Seeweg nach »Indien«, die um das Epochendatum 1492 herum stattfand, inaugurierte die päpstlich sanktionierte (Inter Cetera 1493; Vertrag von Tordesillas 1494) Dominanz Spaniens und Portugals in der »neuen Welt«. Die stark urban geprägten, auf staatliche Integration abzielenden iberischen Kolonialisierungs- und Christianisierungsprozesse drängten auf Unterdrückung und Ausbeutung der zumeist für untermenschlich gehaltenen »Wilden« ab. Doch K. zeigt auch, dass bereits in dieser Frühphase der europäischen Expansion Interaktionsprozesse mit den Thomaschristen in Indien und differenzierte kolonialethische Debatten insbesondere unter den Vertretern der Bettelorden, allen voran dem des Dominikaners Bartholomé de las Casas, einsetzten. Schon bald zeigt sich ein für die Außereuropäische Christentumsgeschichte K.s charakteristisches Ambiguitätsmuster: Das Christentum wirkte sowohl als Legitimationsinstrument für Kolonialisierung und Repression als auch als Moment der Polemik und des Widerstandes gegen diese. Die in der Regel in Kooperation mit indigenen Eliten realisierte Verschiffung afrikanischer Sklaven nach Lateinamerika, die bis ins 19. Jh. anhielt, wurde infolge der Remigration frei gewordener Sklaven nach Sierra Leone zu einem maßgeblichen Ausbreitungs-impuls für indigene afrikanische Christentumsvarianten – ein Paradigma, das der an interkontinentalen Interaktionsprozessen interessierte K. besonders akzentuiert. Ein weiteres Paradigma, das das Buch durchzieht, bildet Äthiopien; hier erhielt sich ein in die Antike zurückgehendes Christentum, das zum Modell einer eigenständigen, indigenen, in Bezug auf kolonisatorische Dominanz renitenten, auch gegenüber Islamisierungsbestrebungen widerstandsfähigen Christentumsvariante avancierte und weltweit bis heute andauernde äthiopistische Traditionskonstruktionen afrikanischer Kirchenbildungen inspiriert.

Im Zuge der frühneuzeitlichen, dominant römisch-katholischen Geschichte des Christentums außerhalb Europas reproduzierten die Missionare vielfach die konfessionellen Antagonismen der einstmaligen Restheimat des Christentums, das im Laufe des Mittelalters durch den Islam substanzielle Rückschläge und Verluste in Asien und Afrika erlebt hatte und durch Reformation und tridentinische Konfessionalisierung zutiefst gespalten war. Die Kompensationstheorie Roberto Bellarmins, die die überreichen globalen Gewinne der katholischen Kirche in Übersee und die Verluste in Europa sachlogisch kombinierte, demonstriert in verdichteter Form, wie eng die europäischen und außereuropäischen Belange für die Konfessionalisten in Rom, aber auch in Wittenberg und Genf, zusammenhingen.

Förderliches Interesse an den konkreten Menschen in der »neuen Welt« ging am ehesten von den Akteuren vor Ort aus: den Orden, den Missionaren und – so bei den seit dem 17. Jh. einsetzenden protestantischen Missionen – ihren Frauen. Der wohl eindrucksvollste Aspekt vor allem der protestantischen Missionsgeschichte, den K. immer wieder erwähnt, besteht in ihrer sprach-, kultur-, bildungs- und übersetzungsgeschichtlichen Dimension. Denn immer wieder waren es vor allem die volkssprachlichen Bibelübersetzungen, die den Missionierten eigene Lektüren in ihren Sprachen anboten und so mittelbar, flankiert durch Schul- und Gesundheitseinrichtungen, eigenständige emanzipative Aneignungen ihres Christentums ermöglichten.

Im Kontext der jesuitischen Asienmission des 16. und 17. Jh.s (Franz Xaver; Matteo Ricci) brachen interessante Debatten zu Assimilations- und Akkommodationsstrategien (sog. Ritenstreit) der Missionierenden gegenüber den eine Hochkultur repräsentierenden Missionierten auf, denen eine paradigmatische Bedeutung in Bezug auf die Bandbreite zukommt, in der europäische Akteure mit jenen Welten interagierten, die sie für das Christentum gewinnen wollten. Aus einer stärker theologiegeleiteten protestantischen Sicht auf die Christentumsgeschichte erscheint allerdings doch überraschend, dass Fragen der wahren Lehre bzw. der reflexiven Verantwortung des Christentums auf dem Feld der Mission eine eher marginale Rolle gespielt zu haben scheinen.

Der im zweiten Teil behandelte Zeitraum (17. und 18. Jh.) ist durch eine katholische Dominanz, das Aufkommen des Pietismus und der von ihm ausgehenden missionarischen Aktivitäten (1706 Gründung von Tranquebar durch die dänisch-hallesche Mission als Beginn der protestantischen Mission in Asien) und die Diversifikation der kolonialpolitischen Akteure (Niederlande, Frankreich, England) gekennzeichnet. Die prioritär ökonomischen Interessen und Dynamiken, die nicht selten nicht einmal mehr missionsideologisch camoufliert wurden, treten im Agieren der englischen und niederländischen Handelsgesellschaften immer deutlicher hervor. Auch in protestantischen Kreisen sympathisierte man mit der alten Theorie einer ursprünglich in apostolische Zeiten zurückreichenden Präsenz des Christentums in Asien, Afrika und Latein-amerika. Wenn die Heiden den ihnen einstmals von den Aposteln anvertrauten Glauben hatten depravieren lassen, waren sie für den Verlust ihres Seelenheils quasi selbst verantwortlich.

Im 19. Jh. (Teil III) kollabieren die alten, iberisch dominierten Kolonialsysteme auf den drei Kontinenten, und ein schrankenloser Freihandelskapitalismus bricht sich Bahn. In Westafrika erhält das transatlantische Rücksiedlungs- und Emanzipationsprojekt in Sierra Leone Kontur; in Asien und Afrika setzen Indigenisierungsprozesse ein. In Lateinamerika bilden sich infolge der napoleonischen Transformation der europäischen Ordnung unabhängige Nationalstaaten, in denen in der neuen Heimat verwurzelte mestizische Eliten den Ton angeben und protestantische Migranten aus Europa zu religionsgeographischen Diversifikationsprozessen beitragen. Mit Samuel Ajayi Crowther wird ein erster Schwarzer zum anglikanischen Bischof Afrikas ordiniert und damit – ungeachtet erheblicher Rückschläge – ein Rollenmodell etabliert, das bald auch in Asien aufgegriffen wird.

In die Zeit des europäischen Hochimperialismus (Teil IV, 1890–1945), in der einige wenige europäische Länder die Welt unter sich aufteilen und damit Spannungen provozieren, die bis heute fortdauern, fallen auch die ersten substantiellen und nachhaltig wirkenden internationalen ökumenischen Kooperationen. Auf der Weltmissionskonferenz von Edinburgh (1910), der K. eine her- ausragende Bedeutung zuerkennt, treten die indigenen und die europäischen Christentumsvarianten der Welt erstmals auf Augen- höhe zusammen; auf der Weltmissionskonferenz im indischen Tambarram (1938) dominierte erstmals eine Teilnehmerschaft von der Südhalbkugel. Die Gravitationszentren der interkontinentalen und internationalen, polyzentrischen ökumenischen Christenheit begannen sich in die seither bestimmend gebliebene Richtung zu verschieben.

Im V. und letzten Teil (1945–1990) kann K. überzeugend darstellen, dass und inwiefern das Jahr 1989 auch eine Zäsur der globalen Christentumsgeschichte bedeutet. Denn mit dem Ende des kalten Krieges entfielen Stützen für korrupte Herrschaften – etwa das Apartheidregime in Südafrika oder die lateinamerikanischen Militärdiktatoren. Die verstärkt seit den 1970er Jahren bemerkbaren indigenen Theologien Asiens, Lateinamerikas und Afrikas (Minjung-Theologie in Korea; Befreiungstheologie in Lateinamerika; Kairostheologie in Südafrika) lassen ein wachsendes intellektuelles und kontextsensibles Selbstbewusstsein hervortreten und erfahren auch in Europa und den USA breitere Rezeption. Die eindrucksvolle Wachstums- und Transformationsdynamik des Christentums auf den drei Kontinenten, die in der Pfingstbewegung ihre tollsten Blüten treibt, scheint einen hoffnungspostulierenden Blick in die Zukunft, mit dem K.s wichtiges Buch, beinahe testimonial, schließt, zu rechtfertigen.

Angesichts von Panikmache, Alarmismus und Apokalyptik ohne Hoffnung, die auf das Ende der Geschichte, auch im Zeichen des globalen Klimawandels, gefolgt sind, wäre es unverantwortlich, K.s Hoffnungsappell widersprechen zu wollen. Gleichwohl wiegt eine Herausforderung schwer: Die durch die gewiss dialektische euro- päische Aufklärung hindurchgegangenen neuzeitlichen Theolo- gien der nördlichen Hemisphäre, ihre Rationalitätsstandards, ihr (religions)kritisches analytisches Potential, ihr Ringen mit dem wissenschaftlich-technologischen Wahrheitsbewusstsein unserer Zeit, verlieren im Horizont der globalen christentumsgeschichtlichen Dynamiken, die K. souverän aufzeigt, stetig an Rückhalt und Bedeutung. Ist dies irreversibel? Woher werden die religions- zähmenden, ambiguitätssensiblen, spiritualitätseinhegenden Kräfte gegen Enthusiasmus und Fundamentalismus kommen, wenn die europäische Theologie stimmlos geworden sein wird?