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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1134–1135

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hammer, Georg-Hinrich

Titel/Untertitel:

Nur ein stilles Verdienst? Frauen als karitave Avantgarde im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2022. 261 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170422162.

Rezensent:

Dörte Gebhard

»Nur ein stilles Verdienst?« Nicht einmal das war erwünscht! Otto von Bismarck (1815–1898), der als Reichskanzler u. a. als Begründer des Sozialstaats der Moderne gilt, war gänzlich gegen das »En- gagement von ›Damen‹ in der Inneren Mission« (10), obwohl er seine Sozialpolitik durchaus als »praktisches Christentum« (15) verstand.

Frauen als karitative Avantgarde des 19. Jh.s sind über mehr als ein Jahrhundert unbekannt geblieben, geschweige denn gewürdigt worden, obwohl viele ihrer Einrichtungen bis heute nach jeweils zeitgemäßen Reformen existieren und nach wie vor notwendig sind. So heißt es beispielsweise: »Die auf Katharina (Königin von Württemberg, 1788–1819) zurückgehenden Gründungen haben bis heute Bestand, auch wenn Rechtsform und Name sich änderten. Die Sparkassenidee hat sich [...] umfassend durchgesetzt. Das Katharinenhospital gehört heute als eines von vier Krankenhäusern zum Klinikum Stuttgart und hat den Status eines akademischen Lehrkrankenhauses der Universität Tübingen.« (211)

Georg-Hinrich Hammer, Dr. theol., Pastor, Leiter eines Verbunds diakonischer Einrichtungen und Autor von weiteren Werken zur Ethik, Diakonie- und Sozialgeschichte, hat ein ›spätes‹ Buch vorgelegt. Die Publikation kommt für alle Pionierinnen, Stifterinnen, Wohltäterinnen und Vereinsgründerinnen, für alle »Wohlfahrtsdamen« und »Schwestern« viel zu spät; sie erleben die angemessene Wertschätzung ihrer Arbeit nicht mehr. Die Untersuchung kommt sehr spät, wenn man die beachtliche Zahl der bisherigen Veröffentlichungen zur Diakoniegeschichte beachtet, die sich Männern wie Fliedner, Wichern, Bodelschwingh u. a. m. widmen.

H.s Studien setzen ein mit der Schilderung der komplexen Notlagen zu Beginn des 19. Jh.s: überregionale Hungersnöte auf dem Lande, Armut im Zuge der Industrialisierung in den Städten, Epidemien (Cholera), Spitäler als Sterbehäuser, überfüllte Lazarette mit Kriegsverwundeten, Witwen und Waisen ohne Bildungsmöglichkeiten, Untätigkeit der Oberschicht. Zudem war das »Kirchengut als Quelle zur Finanzierung von Hilfemaßnahmen – von ›Almosen‹ – [...] nicht mehr vorhanden« (23).

Es war eine Jüdin, Rahel Varnhagen (1771–1833), die in dieser ausweglos scheinenden Lage in Berlin das Potential von Frauen erkannte: »Überhaupt sollten Frauen das Armendirektorium sein; tausend Witwen und brave Frauen giebt’s dazu« (24).

Erste Initiativen zu Beginn des 19. Jh.s von einzelnen Frauen wie Pauline zur Lippe (1769–1820) und Margaretha Elisabeth Jenisch (1763–1832) konnten gelingen, weil mehrere, günstige Faktoren zusammenkamen: lebendige Religiosität, Bildung über das zeitgenössisch Übliche hinaus, Nähe und Einfluss auf die jeweilige Regierung. Zu überwinden waren auch Vorurteile derer, denen die neuen Einrichtungen zugutekommen sollten. Die Armen befürchteten u. a., »es handle sich um eine Art Sterbeeinrichtung, auch musste dort auf Branntweingenuss verzichtet werden« (31).

H.s Veröffentlichung geht in zwei großen Kapiteln den Vereinen gegen die Not (41–153) und dem einzelnen Engagement von Bürgerinnen, Stifterinnen und wohltätigen Fürstinnen nach (155–225). Dabei entreißt er nicht nur die Lebenswerke evangelischer Frauen, sondern auch jene von Katholikinnen und Jüdinnen dem Vergessen.

»Das früheste Gründungsdatum eines Frauenvereins weist der jüdische ›Frauenkrankenverein‹ in Homburg vor der Höhe auf« (41), wobei zu beachten ist: »Die ersten Beispiele von karitativer Frauentätigkeit im christlichen Bereich sind schwer auszumachen, weil Männer auch dort den organisatorischen Rahmen setzten« (42) und Frauen »nach der Rechtslage auf Männer angewiesen« (13) waren. Aber nahezu hinter jedem berühmten Mann standen mehrere Frauen(vereine).

»Für die Anfänge der Rot-Kreuz-Arbeit in Deutschland wird auf Pfarrer Ulrich Hahn und seinen württembergischen Sanitätsverein von 1863 verwiesen. Nicht erwähnt wird jedoch der ›Badische Frauenverein‹ von 1859, der die Idee Dunants aufnahm und aus dem die erste Rot-Kreuz-Schwesternschaft hervorging. Nicht erwähnt wird die von Henri Dunant inspirierte Gründung des ›Vaterländischen Frauenvereins‹ 1866 in Berlin, bei der Dunant anwesend war.« (12)

Hervorzuheben ist der Fleiß H.s, der neben dem Roten Kreuz, den Kaiserswerther Anstalten u. a. auch den regional wirksamen Vereinen nachgeht, bei denen »40 Zentner Kartoffeln unentgeltlich« und »11 Zentner Gemüse zu billigem Preise« (86) damals einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied gemacht haben. So bietet sich der Leserin ein chronologisch klug geordnetes, übersichtliches und durch das ausführliche Verzeichnis der Namen, Einrichtungen und Orte (235ff.) leicht zugängliches Nachschlagewerk. Man kommt zum Beispiel der nicht zu unterschätzenden Leistung der Frauen in Großpöhlau und Zschopau im Erzgebirge auf die Spur, von denen außer dem Verfasser und – hoffentlich – den diakonisch Tätigen vor Ort wohl kaum jemand zuvor gehört hat. Der Autor konnte dabei kaum auf bereits erschlossene Quellen zurückgreifen. Der gehaltvolle Fußnotenapparat legt Zeugnis ab vom ›stillen Verdienst‹ des Autors, seiner gewiss mühevollen und langwierigen Arbeit in Archiven in ganz Deutschland, im vorgestellten Beispiel im Kreisarchiv Annaberg.

Wer sich nicht in die Einzelheiten der Studie vertiefen will, findet im Schlusskapitel (227–234) eine luzide Zusammenfassung des ans Licht Gehobenen: »Erfolge und ihre Grenzen« (227). »Ihren bedeutendsten Erfolg erzielte die karitative Frauenbewegung des 19. Jh.s in der Entwicklung der Krankenpflege. [...] Im Fokus der Pflegetätigkeit stand zunächst die unversorgte ärmere Bevölkerung.« (227)

H. verfällt jedoch nicht in unkritische Begeisterung, sondern zeichnet durchgehend ein differenziertes Bild. »So sollte die Ausbildung von ›Dienstboten‹ nicht dazu führen, dass diese eine selbstständige Stellung und angemessene Entlohnung erhielten, wie das Beispiel des Frauenvereins in Göttingen zeigte. Auch war die Unterstützung von Armen oft nur auf eine eingeschränkte Alimentation ausgerichtet, nicht aber auf die Eröffnung eines Weges aus der Armut heraus« (229). Noch schärfer und lehrreicher fällt sein Urteil über die Schwesternschaften aus, die »im Unterschied zu den demokratisch organisierten Frauenvereinen weitgehend hierarchisch strukturiert waren. Die Mitsprache der Schwestern war auf wenige Entscheidungen begrenzt. [...] Der Schutz gegen autoritäres Leitungshandeln war damit gering. [...] Die Frauen in den Genossenschaften hatten dazu beigetragen, dass sich das Rollenbild der Frau im 19. und 20. Jh. wandelte, sie selbst passten sich den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen nicht oder nur unzureichend an und wurden damit auch selbst ein Opfer derselben.« (231)

Das verdienstvolle Buch sei allen Frauen und Männern empfohlen, die sich sozial engagieren, und die bereit sind, sich über den Abstand von 200 Jahren hinweg ermutigen zu lassen, aktuell Unmögliches zu wagen.