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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1132–1133

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Seidel, Thomas A., u. Sebastian Kleinschmidt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Angst, Politik, Zivilcourage. Rückschau auf die Corona-Krise.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 318 S. = GEORGIANA, 8. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374074631.

Rezensent:

Detlef Hiller

Der hier zu besprechende Tagungsband ist Teil der Georgiana-Reihe, die von der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden herausgegeben wird. Um den Band einordnen zu können, muss man sich des Zwecks der Reihe bewusst sein. Sie will unter ganz unterschiedlichen Themenstellungen »Wege zur Erneuerung unserer Kirche suchen« und Menschen einladen, Teil einer von Bonhoeffers Theologie angeregten Sammlungsbewegung zu werden, die sie zu einem Leben in der Nachfolge Christi ruft (2).

Der Tagungsband geht auf einen »Offenen Konvent« aus dem Oktober 2022 zurück, der vor dem Hintergrund der gerade überwundenen Coronakrise, aber auch anderer Herausforderungen wie der Flüchtlings-, Klima- und Ukrainekrise den Fragen nachging, wie im Zeichen multipler Krisen politisches und gesellschaftliches Handeln klug und verantwortungsbewusst bleiben kann und mit welchen Ressourcen zu verhindern wäre, dass dieses Handeln in ein verantwortungsvergessenes Gemisch aus angstinduzierter Übergriffigkeit, Anpassungsdruck und Panik umschlägt. Dabei wird auch immer wieder mit der Frage gerungen, inwiefern der christliche Glaube als Reservoire von Zuversicht und Mut nicht ganz natürlich gegen ein solches Umschlagen immunisiere und warum in der gesellschaftlich am deutlichsten hervorgetretenen Krise der jüngsten Vergangenheit, der Coronakrise, ausgerechnet die kirchlichen Institutionen es entgegen ihrer Berufung nicht fertigbrachten, als Stimmen der Beruhigung, Mäßigung und Zivilcourage in Erscheinung zu treten.

Es ist nicht einfach, einen Band zu rezensieren, an dem insgesamt 18 verschiedene Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben, deren Aufsätze sich sowohl in der Länge als auch hinsichtlich der Themen unterscheiden. Die gebotene Kürze der Rezension kann daher den einzelnen Beiträgen nicht gerecht werden, sondern muss versuchen, den Sammelband als Ganzes in den Blick zu nehmen. Dazu ist es prinzipiell hilfreich, dass der Band in drei inhaltliche Hauptteile strukturiert ist. Hier ist jedoch kritisch anzumerken, dass Teil I und Teil II sich zwar im Hinblick auf ihre Überschriften klar unterscheiden und einen didaktischen Bogen spannen (I. »Wege aus der Gefahr«, II. »Formen der Angst«), dann aber die inhaltliche Zuordnung der Einzelbeiträge, insbesondere im ersten Teil, unklar bleibt, so dass der gut gemeinte didaktische Bogen auf der Ebene der Buchteile vom Leser nicht immer nachvollzogen werden kann (s. nächster Absatz). Anders verhält es sich mit Teil III, »Profile der Furchtlosigkeit«, dessen Aufsätze unter dieser Überschrift allesamt gut verortet sind.

Teil I »Wege aus der Gefahr« hat etwa 80 Seiten und besteht aus fünf recht unterschiedlichen Beiträgen von vier Autoren und einer Autorin. Der erste Aufsatz befasst sich mit der Angst aus theologischer Sicht (Sebastian Kleinschmidt). Zwei Aufsätze analysie- ren intensiv verschiedene Auswüchse der Coronakrise (Kathrin Schmidt und Erich Freisleben), und zwei weitere Beiträge passen am besten zur Überschrift des Buchteils, indem sie zwei Wege aufzeigen, wie mit aktuellen politischen Herausforderungen umgegangen werden könnte (Ulrich Teusch und Wolfgang Sander).

Dass der einzigen Autorin dieses Teils, Kathrin Schmidt, dabei, neben durchaus Bedenkenswertem, eine Beschreibung für den Angriffskrieg Putins entgleist, indem sie salopp schreibt: »ein Oligarchenstaat zieht gegen einen anderen ins Feld, so könnte man es auch beschreiben …« (34 f.) lässt ein gestörtes Verhältnis der Auto- rin zur internationalen Rechtsordnung und auch einen Empa- thiemangel für die Opfer dieses Verbrechens vermuten. Das ist bedauerlich, macht aber die anderen Gedanken der Verfasserin nicht ungültig und entwertet vor allem nicht die anderen lesenswerten Aufsätze.

Teil II, »Formen der Angst«, ist ebenfalls etwa 80 Seiten lang und besteht aus vier Beiträgen, von drei Autoren und einer Autorin. Nur der relativ kurze Aufsatz von Vera Lengsfeld befasst sich mit der »Klimaangst als Herrschaftsinstrument« (167). Die anderen drei Aufsätze versuchen die Auswüchse der Coronapolitik aufzuarbeiten. Der erste dieser drei Beiträge befasst sich mit der radikalen Absolutsetzung einer im Zuge der Corona-Angst neu definierten Gemeinwohlmoral (Rochus Leonhardt). Der zweite behandelt das überraschende Phänomen des übergreifenden Konsenses der Mehrheitsmedien, ihre kritische Funktion im Rahmen der »Krise« einer neu entdeckten Staatsräson unterzuordnen (Heimo Schwilk). Der dritte Beitrag behandelt die Judikative und argumentiert erschreckend überzeugend, wie diese ihr Möglichstes tat, um die von der Exekutive als notwendig und erforderlich erachteten grundrechtseinschränkenden Maßnahmen rechtlich abzudecken, was Zweifel an der Effektivität ihrer Kontrollfunktion im Rahmen der Gewaltenteilung aufwirft (André Kruschke).

Teil III ist überschrieben mit »Profile der Furchtlosigkeit«. Er ist mit etwa 100 Seiten der längste Abschnitt. Neun unterschiedlich lange Beiträge behandeln verschiedene historische Personen, die ein klares christliches Profil hatten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten und Epochen Furchtlosigkeit bewiesen. Beginnend im Mittelalter mit Elisabeth von Thüringen (Hellmut Seemann), geht es über Martin Luther (Heimo Schwilk) zu Fjodor M. Dostojewski (Markus Spieker). Es folgen Personen, die ihren Weg der Furchtlosigkeit unter den Vorzeichen des »Dritten Reichs« finden mussten: Sophie Scholl (Vanessa Krämer und Harald Seubert), Dietrich Bonhoeffer (Thomas A. Seidel) und die Schriftstellerin Ricarda Huch (Christian Dietrich). Den Abschluss dieser Reihe bilden zwei Beiträge zu Personen der Nachkriegszeit bzw. unserer Tage: Der eine wirft ein Schlaglicht auf den tiefen und doch pragmatischen Glauben des Dag Hammarskjöld, des ehemaligen schwedischen UNO-Generalsekretärs Staffan Carlson. Der andere berichtet von dem »Dichter und Dissident(en)« (259) sowie Gründer der Bruderschaft St. Georgs-Orden Ulrich Schacht (Uwe Kolbe).

Die Perspektiven auf diese unterschiedlichen Personen tragen deutlich die Handschrift der jeweiligen Autoren bzw. der einen Ko-Autorin. Sie bilden insgesamt einen bunten Strauß, der dadurch zusammengehalten wird, dass (zumindest in den meisten Fällen) deutlich wird, wie diese Personen auf ihre je eigene Weise aus ihrem christlichen Glauben Mut für ihr Leben und Handeln geschöpft haben. Den abschließenden Beitrag bildet eine kurze Predigt zu Jesaja 43, 1–7 (Annette Weidhas), die die besondere Be-deutung dieses alttestamentlichen Textes für die Furchtlosigkeit hervorhebt, die sich aus dem Glauben an einen lebendigen Gott speist.

Dieser bunte Tagungsband ist besonders denjenigen zu empfehlen, die sich immer noch fragen, was aus den vergangenen sogenannten Coronajahren für zukünftige Krisen zu lernen ist und welche Ressourcen die Verankerung im christlichen Glauben bietet, um trotz einer weitgehend orientierungslos gewordenen Politik- und Medienszene und einer inhaltlich teilweise entkernten Kirche einen vernünftigen Umgang mit Krisen zu finden. Die im Buchtitel prominent genannte Angst sollte nach der Lektüre nicht mehr dominieren, dafür hoffentlich die ebenfalls genannte Zivilcourage.