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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1130–1131

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schockenhoff, Eberhard

Titel/Untertitel:

Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 488 S. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783451389757.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Diese Sexualethik, das letzte Buch des 2020 verstorbenen katholischen Ethikers Eberhard Schockenhoff, der in Freiburg lehrte, wurde von seinen beiden letzten Assistenten herausgegeben. Sie schreiben in einem Vorwort, S. habe den Band »beinahe« (12) vollenden können. Das unvollendete siebte Kapitel (466–479) ist in einem Anhang als Entwurf abgedruckt. Trotz seiner Unabgeschlossenheit handelt es sich um ein außerordentlich wichtiges, nüchtern argumentierend geschriebenes Buch, das nicht nur den katholischen Diskurs über Sexualethik der Gegenwart weit voranbringen wird und darüber hinaus Perspektiven für konstruktives theologisches Weiterdenken bietet. Zu Recht loben die Herausgeber S.s Einsatz für ein »zeitgemäßes und lebensweltlich rückgebundenes Nachdenken über Sexualität und unterschiedliche Beziehungsformen« sowie die konsequente Vermeidung moralischer Überheblichkeit (11).

Im ersten Teil »Liebe und Sexualität in der Moderne« (13–72) analysiert S. die Veränderungen der Sexualmoral in der modernen Gesellschaft seit dem 19. Jh., die Abwendung von allen Formen der Doppelmoral, die ›Entdeckung‹ der Homosexualität, die stärkere Stellung und Gleichberechtigung der Frauen, Formen des Cyber-Sex und vieles mehr. Sexualethik wird aus einer traditionalistischen Gehorsamsethik in eine »konsequente Interaktions- und Verhandlungsmoral« (51) überführt. Um so stärker lassen diese Entwicklungen den Gegensatz zum autoritären Lehramt in Fragen der Sexualethik hervortreten. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass es Sexualität nur innerhalb der Ehe für erlaubt erkläre und den Menschen das Recht auf Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse abspreche.

Deswegen analysiert S. in den nächsten Teilen, wie sich diese sexualethischen Bestimmungen historisch und theologisch her-ausbilden konnten. Dazu betrachtet er die wenigen biblischen Bemerkungen zur Sexualität (75ff.), vor allem aber Theologen der Alten Kirche: Clemens von Alexandria (82–100) und Augustin (101–127). Dabei zeigt sich, dass insbesondere Clemens die Philosophie der Stoa rezipiert hat, sexualethische Inhalte, die dann später vom Lehramt als katholisch ausgegeben und biblisch überhöht wurden. Nach Teil II über die Alte Kirche (73–158) folgt ein dritter Teil über die Erneuerung der katholischen Sexualethik bis zum 2. Vatikanischen Konzil (159–240). Erst mit der Enzyklika »Amoris Laetitia« (223 ff.) habe sich danach eine grundsätzliche Neuerung vollzogen. Die Entscheidungsbefugnis individuellen Gewissens gegenüber dem sonst geforderten einfachen Gehorsam und der Eigenwert sexuellen Begehrens wurden anerkannt. S.s zentrale Kritik am Lehramt besteht darin, dass es sich das Recht angemaßt habe, als vermeintlich allein zuständige Instanz das theonome Naturgesetz (235) in Fragen der Sexualität auszulegen. Demgegenüber fordert er die Anerkennung von Gewissensfreiheit, Individualität und Pluralität. Außerdem sei es nicht richtig, die Rezeption der stoischen Sexualethik als unmittelbar offenbarungsbegründet aufzufassen. Hier zeigen sich für S. die »unüberwindlichen inneren Schwächen eines theonomen Naturrechtsdenkens« (240).

Vor dem Hintergrund dieser Kritik der überkommenen Sexualethik des Lehramts geht S. an die Neukonstitution der Sexualethik, die zunächst in Teil IV entfaltet wird als Gespräch mit den Ergebnissen der anthropologischen, medizinischen und psychologischen Forschung (241–313). Diesem entnimmt S., dass Sexualität zu den konstitutiven Momenten der Persönlichkeit des Menschen gehört. Sexualität sei die »Begegnung zweier Menschen in allen Dimensionen ihrer leib-seelischen Existenz« (313). Im nächsten Teil werden biblische Momente der Sexualmoral herausgearbeitet (314–348). Danach ist der Mensch konstituiert durch seine Würde, durch die positive Einschätzung von Zweigeschlechtlichkeit und durch die Behauptung der leib-seelischen Einheit des Menschen (315 ff.). Deswegen weist S. Positionen sogenannter »queerer« Theologie als Rückprojektionen in den biblischen Befund zurück (326); genauso kennzeichnet er es aber auch als Rückprojektion, wenn die Hierarchie autoritäre überkommene Rollenmuster als biblisch begründet behauptet. Sehr spannende Reflexionen S.s gelten hier dem »hermeneutischen Problem gegenwartsbezogener Auslegun-gen« der Bibel (341 ff.).

Im sechsten Teil entfaltet S. »Lebensräume der Liebe« (348–465). Darin ergibt sich, dass S. Liebe und Sexualität nicht mehr als Sünde oder Konkupiszenz verteufelt und auch nicht auf die eheliche Gemeinschaft beschränkt. Er betrachtet sie vielmehr als eine Ausdrucksform menschlichen Begehrens und Verhaltens, das zu einer Partnerschaft führen kann, aber nicht muss. Es folgen Reflexionen über die Ehe (367 ff.), über die Ehe als Sakrament (402 ff.), über Ehelosigkeit (413 ff.) und über Familie. S. kommt zum Ergebnis des Leitbildes einer »ehebezogenen Familie« (444), die nicht nur partnerschaftlich-individuelle Aufgabe ist, sondern auch der Unterstützung durch Gesellschaft und Familienpolitik bedarf (449 ff.).

Das kurze letzte Kapitel, das nur im Entwurf abgedruckt wird, beschäftigt sich mit vorehelichen Lebensgemeinschaften (466 ff.). Zwar schreiben die Herausgeber, dass sich weitere praktische Positionen zu diesen Themen aus S.s theoretischen Ausführungen in den Teilen davor ergeben würden. Das aber stimmt nur teilweise. Die Leser hätten auch hier gerne seine praktischen Positionen erfahren – und vor allem auch das ethische Fazit, das S. aus seinen Überlegungen gezogen hätte. Es erscheint sehr wichtig, dass das Buch im Untertitel »Unterwegs zu einer neuen Sexualethik« heißt, denn mit diesen grundsätzlichen Überlegungen S.s ist der Weg bereitet, die Überlegungen zu diesem Themenfeld in katholischer, aber eben auch in ökumenischer Perspektive weiterzuführen.

Deswegen ist das folgende Résumé zu ziehen: 1. Dieses ist ein luzide und nüchtern geschriebenes wunderbares Buch, das geprägt ist von sorgfältigen Argumenten, klarem Urteil und dem völligen Fehlen von Polemik. Dieses Urteil gilt auch, wenn der Rezensent als evangelischer Ethiker eine Reihe von S.s selbstverständlich katholischen Prämissen nicht teilt. 2. Der große Vorzug dieses Bandes besteht darin, dass S. katholische Sexualethik nach Genese, Prinzipien und Kritik durchsichtig und nachvollziehbar machen kann. Aus dieser Analyse wird konsequent eine begründete, für die Leser schlüssige Neuorientierung entwickelt. 3. Wünschenswert wäre ein wenig mehr ökumenischer Dialog mit Positionen evangelischer Sexualethik gewesen. Dieser Dialog hätte sich sehr leicht herstellen lassen über S.s eigene Kritik des Lehramts, die auch eine Kritik am katholisch verstandenen Naturrecht beinhaltet. Denn es wird sehr deutlich, dass das substantialistische, autoritär verstandene katholische Naturrecht in einem Legitimationsdefizit zu versinken droht. Hier wäre der Ort gewesen für ein Gespräch mit vernunftbasierten, universalistischen Ethiken wie auch mit theologischen, insbesondere evangelischen Ethik-Entwürfen. 4. Evangelische Sexualethik sollte sich diesen großen Entwurf S.s zum Vorbild nehmen, um nach dem umstrittenen Familien-Papier der EKD und deren gescheiterter Denkschrift zu sexualethischen Fragen einen Neuanfang zu wagen, der im Blick auf die eigene Tradition und den Dialog mit den Humanwissenschaften ähnlich sachlich und konsequent und ohne allzu schnelles Schielen auf ebenso modische wie woke »Queer«-Theologien den eigenen Standpunkt entwickelt und ökumenisch gesprächsfähig macht. Mit diesem Entwurf sind nun Vorbild, Anspruch und Messlatte vorhanden.