Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1127–1129

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Krauß, Kerstin

Titel/Untertitel:

Ethik der Empathie. Eine Grundlegung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XI, 292 S. = Perspektiven der Ethik, 19. Kart. EUR 94,00. ISBN 9783161614835.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Wie jeder Genetiv kann auch dieser – »Ethik der Empathie« – in beide Richtungen gelesen werden: Entweder handelt es sich um eine Ethik, die selbst auf etwas Empathischem beruht; oder aber es ist gemeint, dass sich die Ethik der Empathie als eines ihrer Themen annimmt. Bei allen möglichen, zuweilen nötigen Selbstanwendungen geht es im hier zu besprechenden Buch um diese zweite Lesart. Das Phänomen und die Grammatik der Empathie wird einer ethischen Analyse unterzogen, sodass im Rahmen einer »Grundlegung« die brisante Frage einer Pflicht zur Empathie bzw. der begründeten Forderung nach ihr, sozusagen ihre Einklagbarkeit, zum Thema wird. Dies wird in dieser Dissertationsschrift (Jena 2020) gerade nicht auf allein Ethisches verengt; vielmehr sucht die Theologin Kerstin Krauß immer wieder das Gespräch mit anderen Disziplinen (Psychologie, Soziologie, Neurowissenschaften), um das Problem der Fundierung konkreten Kontexten auszusetzen. Dies geschieht kenntnisreich, in klarem Aufbau, schnörkellosem Stil und mit Hilfe zahlreicher Abbildungen, die das Gesagte gut summieren.

Empathie wird definiert als »die Bezeichnung eines 1. aktiven, 2. komplexen und 3. ganzheitlichen Geschehens, dessen Grundstruktur das Gewahren des Erlebens einer anderen Person ist« (175; kursiv im Orig.). Aktiv ist dieses Geschehen, weil Empathie kein Widerfahrnis ist, sondern aktiv gestaltet werden kann. Es geht um das Selbstverständnis der Person, die empathisch ist, nicht um jene, die als Adressat dieser Haltung, beruhend auf einer »natürlichen Disposition« (1 und 3, auch 148), zu betrachten ist. Komplex ist dieses Geschehen dennoch, weil es Wechselwirkungen im Intersubjektiven aufweist, obgleich Empathie zumeist individuell aufzufassen ist und weit weniger als Attribut von Gemeinschaften zu verstehen wäre. Dabei nimmt K. immer wieder Abgrenzungen von verwandten, semantisch teilweise ähnlichen Konzepten vor; dazu zählen u. a. Sympathie, Einfühlung, Mitgefühl. Ganzheitlich ist dieses Geschehen wiederum, weil Empathie offenbar Handlungsvollzüge betrifft und also praktisch, sichtbar werden muss; damit sind affektive, emotionale, verkörperte und eben längst nicht nur kognitive oder hermeneutische Aspekte im Blick. Die Behauptung, Empathie habe ihren Sitz im Gehirn (so 2), überrascht daher etwas unter den eigenen Vorgaben; denn schon der Term »Gewahren« macht auf die sensitiven und reziproken Dynamiken aufmerksam, selbst wenn zuzugeben ist, dass zwischen den involvierten Personen ein Gefälle besteht: Jemand ist mit jemand anderem empathisch: Die Aktion auf der einen Seite entspricht der anderen, an der sich dieses Geschehen bewähren muss. Dadurch, dies zeigt diese Arbeit sehr gut, werden die Ambivalenzen, auch das Scheitern von Empathie greifbar.

Der erste von zwei Teilen widmet sich Kontexten des Zwischenmenschlichen, in denen Empathie auf unterschiedliche Weise zum Thema wird. Der erste ist der theologische, wodurch die Verhältnisbestimmung zur Barmherzigkeit exegetisch und dogmatisch nötig ist. Spannend ist die Frage, ob Gottes Heilshandeln als empathisch zu bezeichnen wäre, wodurch die Veränderbarkeit Gottes, seine Responsivität und zuletzt – was leider etwas zu knapp geraten ist – auch die Emotionalität in den Blick kommen (15.20). Es schließt sich der zweite, nämlich philosophische, Kontext an. Adam Smith und David Hume haben dafür gesorgt, dass die Empathie als sozialregulativer Mechanismus in den Fokus der Moralphilosophie geraten ist. Wichtig ist dabei, dass im Kontrast zur compassion oder zur sympathy das Empathische nun gerade nicht voraussetzt, die Empfindungen und Gefühle der in Empathie adressierten Person zu teilen (41). Von hier aus könnte nochmals die Frage aufgerollt werden, inwiefern Empathie überhaupt eine Emotion und nicht eine (bewusste) Haltung und (übernommene) Einstellung ist.

In der Hermeneutik von Schleiermacher und Dilthey wie-derum wird der Prozess des Verstehens eher an Sym-, statt an Empathie geknüpft; denn die »Einfühlungshermeneutik« (53) beruht darauf, dass die Empfindungen und Gefühle, auch die Intentionen der Gegenseite nachzuvollziehen sind, um verstehen zu können. Einfühlung wäre demnach als Haltung unterbestimmt, weil sie eher ein Vermögen bezeichnet. Mit Seitenblicken auf phänomenologische Ansätze (E. Stein; M. Scheler) ist der Übergang zum neurowissenschaftlichen Diskurs vorbereitet. Hervorzuheben sind hier vor allem zwei Momente: in welchen kulturellen Varianzen Empathie entwickelt und ausgebildet wird (85.98); und zudem, dass Empathie eine Frage der Balance ist, weil in ihr stets der Selbstverlust droht, womit auch pathologische Formen der Empathie – »Allostase«, Überidentifikation – angesprochen sind.

Ein Durchgang zu soziologischen Ansätzen, die explizit oder indirekt Empathie verhandeln, rundet den ersten Teil ab. Zur Sprache kommen der symbolische Interaktionismus von G. H. Mead, die Systemtheorie Luhmanns, die Praxeologie von Pierre Bour- dieu und, etwas ausführlicher verhandelt, die Resonanzanalyse von Hartmut Rosa (bes. 143). Dieser Zugriff ist deshalb interessant, weil er dem oben angespielten Eindruck, Empathie sei vornehmlich individuell konnotiert, mit einigen Gegenstimmen begegnet.

Es folgt der zweite und kürzere Teil, der nun eine Ethik der Empathie vorzulegen unternimmt. Dabei werden vor allem zwei Zugänge erprobt. Der erste besteht darin, Empathie ins Verhältnis zum Begriff der Würde zu setzen (Kap. 3). Auch hier werden recht unterschiedliche Ansätze thematisch durchforstet, unter anderem das Würdeverständnis bei Peter Bieri, in dem die dignitas als Lebensform (im Kontrast zur Haltung, einem Wert oder als Achtung) verstanden wird (195–200). Dadurch wird das konzeptuelle Spektrum erweitert, sodass u.a. Intimität, Integrität, Authentizität einbezogen werden. Dabei scheint mir die Blickrichtung aber eher lautlos umgekehrt zu werden: Es wird nicht mehr gefragt, was Empathie ermöglicht, sondern es wird nun dem Problem nachgegangen, wie Empathie nun ihrerseits ein Leben in Würde ermögliche (201) oder zur personalen Anerkennung beitragen könne (203).

Der zweite Zugang besteht darin, Empathie in ethische Programme zu integrieren. Die getroffene Auswahl ist interessant, weil die dominierenden Theorien, Deontologie und Konsequentialismus, gerade außen vor bleiben, sodass Güter-, Pflichten- und Tugendethik jene Rahmung bieten. Im ersten Fall ist zu fragen, welches Gut mit oder gar durch die Empathie gefördert oder verwirklicht wird (228 f.); im zweiten Fall ist zu fragen, inwiefern Pflichten durch Empathie entstehen bzw. wo Empathie selbst zu diesen normativen Anforderungen gehören könnte (236.239); im dritten Fall ist zu fragen, ob die Empathie dianoetisch-intellektuell (etwa in der Umsicht und Nachdenklichkeit) sowie normativ-ethisch (etwa im Mitgefühl und der Achtsamkeit) eingeübt und trainiert werden kann, um den Charakter zu formieren. Dabei betont K. in jedem der drei Fälle zurecht, dass güter-, pflichten- und tugend-orientiert ein sozialer, auch argumentativer wie emotionaler Raum aufgespannt wird, der nach Intensität, aber zugleich nach den Grenzen der Empathie fragen lässt (264).

Es liegt eine material- und kenntnisreiche Studie vor, die weniger ein eigenes Argument präsentiert, sondern in der Sichtung verschiedener, aber einschlägiger Diskursfelder das komplexe Phäno- men der Empathie vermisst. Der Einwand, über das Gebotene hinaus fehle doch noch etwas bzw. das Präsentierte sei unzureichend aufeinander abgestimmt, ließe sich zweifellos hier und dort erheben, bliebe aber kleinlich. Stattdessen frage ich, wie es eigentlich um das Theologische dieser Studie bestellt ist. Ihr institutioneller Rahmen war eine Theologische Fakultät. Zwar werden immer wieder exegetischen und dogmatischen Diskursen Referenzen gemacht; so sind Gottebenbildlichkeit (20) oder die Heilsgeschichte genannt (273). Doch der Umstand, dass das Theologische in den Zwischenüberschriften stets in Klammern steht, zeigt die Unsicherheit an. Es ist sehr schade, dass K. die Empathie z. B. kaum auf Ritus und Glaubensvollzug, auf die Praktiken des Glaubens (wie etwa die Fürbitte) oder in der Gotteslehre auf die Trinität als ex- oder interne Gemeinschaft der Empathie mit einem mitleidenden Vater bezieht; die Liste ließe sich leicht erweitern. Zur Würdigung dieser Studie gehört daher auch der Hinweis darauf, dass theologische Anliegen sehr in den Hintergrund treten; oder: Die intellektuelle Empathie mit der Empathie ist hier nur von ferne eine wirklich theologische.