Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1125–1127

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Claussen, Johann Hinrich

Titel/Untertitel:

Über den Takt in der Religion. Fundstücke – Glaubenssachen.

Verlag:

Stuttgart: Radius Verlag 2020. 232 S. Geb. EUR 20,00. ISBN 9783871735219.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Lange Jahre hat der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, im NDR am Sonntagmorgen seine »Glaubenssachen« präsentiert, stets nach der passenden Bach-Kantate. 22 davon veröffentlicht er nun in einem schön gestalteten Büchlein. Alle möglichen Fragen – kleinere des Alltags, größere der Politik – werden angesprochen. Alles erfolgt in einem geradezu eleganten, bisweilen plaudernden Tonfall. Es geht um Frömmigkeit und Erbauung, was für ihn keine Schimpfwörter sind, »wenn es nur nicht aufdringlich oder übergriffig, kitschig oder klebrig wird« (9). Taktvoll soll es zugehen in der Religion, höflich und rücksichtsvoll: Religiöse Leidenschaft, die keinen Widerspruch und keinen Kompromiss duldet, ist ihm ein Gräuel. Dabei ist er sich vollkommen klar, dass dies große und prägende Stränge der eigenen Tradition ausblenden muss. Aber das bleibt sein Glaubensbekenntnis: »Einem gebildeten Christen geht die Unmittelbarkeit der großen Propheten und Reformatoren ab.« (87) »Ritualisierter kulturkämpferischer Furor« sei auf die Dauer langweilig und helfe auch nicht. Aber ist Abgeklärtheit wirklich besser? Mit Grönemeyer könnte man kommentieren: »Nichts ist wirklich wichtig.« Insgesamt aber keine Frage: Claussens Texte sind liberale Theologie at it‘s best. Ein entspannter Kommentar zur Weltlage mit der Suche nach einer »Balance aus inniger Nächstenliebe und kühlem Pragmatismus« (210). Ein wenig Flaneur und Kommentator – aber darauf nicht zu reduzieren.

Worum geht es im Einzelnen? Vielleicht beginnt man mit einer kleinen »Theologie des durchschnittlichen Lebens« unter dem Titel »Lob des Alltags« (91 ff.), denn in dem hier Gesagten über den »Sinn für das rechte Maß« scheint mir C. besonders präsent zu sein. Zunächst einmal wirft er den großen Gestalten der religiösen Tradition vor, Gelassenheit, Normalität und Mäßigung zu verachten. Aber: »[U]nsereins ist nun einmal ein Alltagswesen, das sich irgendwie in den gegebenen Verhältnissen zurechtzufinden versucht und das ein wenig Entspannung vom Zwang zur Außergewöhnlichkeit gut gebrauchen könnte.« (93) Und deswegen lobt er dann den eigenen Alltag in sechs Schritten. (1) Die Schönheit der Routinen: »Wie herrlich ist es doch, sich sorgfältig zu rasieren!« (2) Jeden Tag die gleichen Wege: »pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz, welch ein Glück!« (3) Und dann ist es »ganz entspannend, einfach auch nur mal seine Pflicht zu tun und dies in einem guten Maß.« (4) Die Pausen: »Wie herrlich ist es doch, jeden Tag in dieselbe Kantine zu pilgern!« Und dann der Büroschlaf! (5) Und dann Menschen zu begegnen, die man mag. Bis zum Plaudern an der Kaffeemaschine über den letzten Kinofilm. (6) Aber auch die Fluchtfantasie zwischendurch gehört dazu, bis man dann im eigenen Bett einschlafen kann – inkl. erstaunlicher Träume. Eine Satire? Gewiss nicht! Eine genussvoll durchformulierte Absage daran, dass alles stets großartig und spektakulär sein muss.

Aber C. nimmt sich auch andere, nach herkömmlicher Meinung richtig wichtige Themen vor: Reichtum, Armut, Kirche und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Glück, die November-Revolution 1918, religiöse Themen im engeren Sinne wie Ostern oder Weihnachten und vieles mehr. Beim Reichtum geht es allerdings ausdrücklich nicht um Gerechtigkeit, Umverteilung oder Vermögenssteuer, sondern um eine »Seelsorge für Wohlhabende«, für Menschen, die, so erzählt er aus Hamburg-Harvestehude, in ihrer Tiefgaragenauffahrt eine Fußbodenheizung für die kalte Jahres- zeit und im Inneren der Garage eine Drehscheibe haben, um den SUV wenden zu können. Denn das »Rangieren mit diesen riesigen Geländewagen sei ja recht beschwerlich« (41). Auch diese Menschen hätten seelische Probleme, wie andere auch, aber sie würden zu Unrecht auf eine einzige Eigenschaft reduziert, was »einem Menschen mit einer Behinderung vergleichbar« machen würde (44). Wem kann sich der Reiche wirklich öffnen? Sein Reichtum hindert ihn daran, einen Zweck zu finden, der dem Leben Sinn verleiht, und er versinkt in seinen finanziellen Mitteln. Und so führen sie ein unseliges Leben. Gott wäre eine Lösung: »vor Gott als Reicher arm sein zu dürfen« (47). Nun ja. Aber immerhin warnt C. seine Amtsbrüder davor sich einzubilden, sie gehörten zu den Reichen, weil sie mit einigen gut könnten. Nein: Ihnen nach dem Munde reden, wäre falsch. Man muss, typisch C., »das rechte Maß aus Nähe und Distanz« finden (49). Auch Reiche, so endet der Text, wissen davon, dass man z. B. durch Almosengeben Herrschaftsverhältnisse stabilisieren könne. Das sei doch schon mal eine Menge.

Gleich danach folgt dann eine Reflexion darüber, was Armut mit den Menschen macht. Antwort: Sie sorgt dafür, dass Menschen sich schämen und so in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind, wie Claussen zwei Studien des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD über Armut auf dem Lande und in Hamburg - Wilhelmsburg entnimmt. Scham ist ein seelischer Schutzraum und hat eine reglementierende Funktion; zwingt zur Anpassung an die eigene abhängige Lage. Man geht buchstäblich nicht mehr raus (55). Was wäre zu tun? C. empfiehlt vor allem Hilfen, die die Menschen nicht noch weiter in die Beschämung drücken. »Höflichkeit und Takt auch den Armen gegenüber walten zu lassen« sei ein viel zu selten gehörter moralischer Appell (58). Es seien die Blicke der anderen, die bestärkend – und nicht runterziehend – sein müssten. So wie Jesus das konnte.

Mit einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft hat es C. mithin nicht so. Aber immerhin: die Revolution (von 1918) kommt vor, wenn auch nicht als solche, sondern in der Beobachtung. Und zwar im Spiegel der damaligen »Spektator«-Texte von Ernst Troeltsch (191 ff.) (veröffentlicht unter dem Titel: »Fehlgeburt einer Republik«), aus denen C. sehr treffende Beobachtungen zitiert. Troeltschs bedingungsloses Sich-Einstellen auf die völlig neuen Verhältnisse, seine Absage an monarchistische Restaurationsträume und in all dem sein nüchternes Plädoyer für die Demokratie – in diesem Pragmatismus lebte ein protestantisches Berufsethos (197). Es sammle sich in einer demokratischen Mitte der Gesellschaft, in der »Sachlichkeit, Nüchternheit, protestantischer Verantwortungssinn, Versöhnungsbereitschaft, demokratische Kompromisse« (200) vor Polarisierung bewahre. Darin liege die Aktualität von Troeltsch. Das ist sicherlich angemessen. Aber dass es zur Freisetzung dieser Haltungen damals allerdings einer »Revolution« bedurfte, gerät dem Rezensenten denn doch zu sehr an den Rand (gerade im Blick auf heutige Anforderungen der großen Transformation).

Alles in allem: C.s Buch ist sehr gut zu lesen; seine Texte sind wunderbar klar und zugleich spannend verfasst. Der Genuss, den C. wohl selbst beim Verfassen gehabt haben wird, überträgt sich. Jedenfalls scheint er selbst in seiner Persönlichkeit reflektiert-authentisch an jeder Stelle durch. Und das gehört zu jeder guten christlichen Besinnung dazu. Und auch darin hat er sicherlich Recht: eine Religion, die nicht genießbar ist, erzeugt Probleme. Aber dennoch sei es erlaubt, den Autor – taktvoll natürlich – auf eine notwendige Kontextualisierung des eigenen Lebensstils und seiner »Verkündigung« hinzuweisen. Schon am anderen sozialen Ende von Hamburg, in Wilhelmsburg, hätte er es schwer. Aber das wird ihm bewusst sein.