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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1123–

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Aničić, Pavle

Titel/Untertitel:

Soziopolitische Perspektiven von Vergebung und Entschuldigung. Eine theologische Untersuchung im Kontext »Transitional Justice«. 1125

Verlag:

Baden-Baden: Nomos/Münster: Aschendorff Verlag 2022. 366 S. = Studien zur Friedensethik, 70. Geb. EUR 62,00. ISBN 9783756004155 (Nomos) / 9783402117408 (Aschendorff).

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Diese Arbeit wurde im Jahr 2017 von der katholischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen und für den Druck überarbeitet. Ihr Autor Pavle Aničić ist orthodoxer Theologe, der nach eigenen Angaben das Gespräch mit »katholisch- und evangelisch-theologischen Sichtweisen« (22) zum Thema Vergebung und Entschuldigung sucht. Beide Begriffe gehören zu denjenigen Themen, die im Bereich von Sozialethik und Fundamentaltheologie im Moment eine gewisse Konjunktur erfahren, weil man ihnen im Dreieck von Alltagsethik, theologischer Dogmatik und Politik eine gewisse Erschließungskraft zutraut, verbunden mit der Hoffnung, hier könne eine öffentliche Theologie einen genuinen Beitrag leisten.

Die besondere Absicht dieser Dissertation besteht darin, zum einen die soziale, relationale Ebene der ursprünglich individuell verstandenen Termini Vergebung und Entschuldigung herauszuarbeiten. Der Vf. will beides von der Mikroebene des Einzelverhaltens auf die Makroebene politischer Institutionen übertragen (13). Er will zweitens diese Erweiterungsdiskussion einordnen in den Kontext der Debatte um »transitional justice«, worunter er »Modelle der Vergangenheitsaufarbeitung und Friedenskonsolidierung in den Staaten und Gesellschaften nach Systemwechseln und Gewaltkonflikten« (14) versteht. Und er will dieses – drittens – aus einer theologischen Perspektive tun. Im Ergebnis soll eine »soziopolitische Theologie von Vergebung und Entschuldigung« (24) herauskommen. Dieses – so der Vf. am Ende – sei selbstverständlich ein »theoretische[r] Ansatz«, aber nicht als »normatives Konzept« (326) zu verstehen. An diesem Programm und Anspruch ist die Durchführung der Arbeit zu messen.

Der Vf. erläutert zunächst soziale Grundbegriffe wie Individuum und Gruppe, Opfer und Täter (27 ff.), er unterscheidet theologische, philosophische und psychologische Modelle der Vergebung und der Entschuldigung (55 ff.). Diesen ersten Teil der Arbeit überschreibt er als »Vorbemerkungen« (27). Im nächsten Hauptteil erläutert er theologische Konzepte von Vergebung und Entschuldigung, dasjenige des amerikanischen Theologen Donald Shriver (98–114) und des deutschen Ökumenikers Geiko Müller-Fahrenholz (115–132). Es bleibt unklar, weshalb der Vf. gerade diese beiden Theologen ausgewählt hat, aus dem deutschsprachigen Raum hätten z. B. Arbeiten Ralf Wüstenbergs, Joachim Zehners oder auf katholischer Seite Tobias Hacks zur Verfügung gestanden. Es fällt in diesem Teil auf, dass sich der Vf. nicht mit theologischen Argumenten, sondern vor allen Dingen mit der Übertragbarkeit zwischen individueller und sozialer Ebene beschäftigt, so vor allem in der abschließenden Zusammenfassung dieses Teils (169 f.). Als nächstes stellt er das Konzept der transitional justice vor (171–254). Und im letzten Teil versucht der Vf., seine Überlegungen zu Vergebung und Entschuldigung in diesen politiktheoretischen Rahmen einzuordnen (255–318). Insgesamt kommt der Vf. danach zu einem sehr nüchternen Fazit: » Vergebung und Entschuldigung, die sich ursprünglich als interpersonale Kategorien etablierten, lassen sich, theologisch betrachtet, nicht ideal in den soziopolitischen Raum transferieren. Der Grund liegt vornehmlich darin, dass Vergebung und Entschuldigung in einem solchen Rahmen die politischen Entitäten betreffen würden, die von kollektivem Charakter sind.« (321)

Gegenüber diesem Konzept seien in aller Vorsicht eine Reihe von Fragen formuliert. 1. Die erste Frage gilt dem Umgang mit dem präsentierten Material. Es wäre hilfreich gewesen, wenn der Vf. seine Quellen stärker gewichtet und gewertet hätte. In dieser Fassung werden die meisten Konzepte nebeneinander, als gleich gültig und wertig präsentiert, so dass man den Eindruck bekommt, die interdisziplinäre Diskussion über Vergebung und Entschuldigung drehe sich im Kreis um bestimmte Grundwidersprüche, die gar nicht mehr aufzulösen sind. Dem gegenüber hätte es geholfen, die eigene Perspektive deutlicher zu profilieren und das analysierte Material aus der entwickelten Konzeption zu gewichten. 2. Die zweite Frage gilt dem zugrundgelegten Theologiebegriff. Es wird nicht richtig klar, ob der Vf. sich als Theologe versteht, der sozialwissenschaftliche Theorien rezipiert, oder als theologisch informierten Sozialwissenschaftler. In den Analysen wird ein theologischer Vergebungsbegriff nicht richtig sichtbar. Und damit wird auch nicht sichtbar, welchen Einfluss Religionsgemeinschaften auf Prozesse der transitional justice nehmen können. Es wäre dies eine der Möglichkeiten gewesen, den Argumentationsgang der Arbeit zu präzisieren und zu schärfen. 3. Die dritte Frage betrifft den Zusammenhang zwischen Vergebung und Entschuldigung auf der einen und transitional justice auf der anderen Seite. Es ist sicherlich richtig, Momente der Vergebung und Entschuldigung vor allem in Übergangsgesellschaften zu suchen, aber damit sind die Begriffe der Vergebung und Entschuldigung nicht erschöpft. Man kann sich auch in demokratischen Gesellschaften Vorgänge denken, die in der Gegenwart oder Vergangenheit liegen und die aus unterschiedlichen Gründen der Vergebung oder der Entschuldigung bedürfen. Letztlich muss transitional justice als ein politischer Begriff verstanden werden. 4. Der Vf. präsentiert vor allem diejenigen Modelle von transitional justice, die sich von der Bearbeitung der Vergangenheit viel versprechen. Die Stimmen der skeptischen Kritiker – aus dem Liberalismus und dem Neokonservatismus – bleiben weitgehend ausgeblendet. Ihre Einwände allerdings hätten es verdient gehabt, berücksichtigt zu werden. 5. Wenn es denn – wie der Vf. konstatiert – kein normatives (theologisches) Modell von Vergebung und Entschuldigung gibt, das die Brücke zwischen individualistischer und sozialer Verwendung der Begriffe überwindet, so wäre es angemessen gewesen, noch stärker das prozedurale Moment von Vergebung und Entschuldigung herauszuarbeiten.

Aus den Gedankengängen der Arbeit gehen also eine Reihe von Fragen, auch solchen, die hier nicht aufgelistet sind, hervor; sie wären weiter zu bedenken. Zu loben ist die Fülle von Material, die der Vf. präsentiert, um an einer der wichtigsten Schnittstellen von Theologie und Sozialwissenschaften, von kirchlichem und politischem Handeln zu arbeiten. Der Vf. hat sich entschieden, mit guten Gründen diese unübersichtliche Fülle von Material nicht mit einer pointierten und profilierten theologisch-politischen Vergebungstheorie zu unterlegen. Das erschwert gelegentlich die Lektüre, aber es zeigt zugleich, welche Mühe und Schwierigkeiten Kirchen und Politik gleichermaßen mit den so wichtigen Themen von Vergebung und dem Umgang mit bedrängender Vergangenheit haben.