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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1121–1123

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Graßmann, Tobias

Titel/Untertitel:

Richtschnur und Lebensmittel. Systematische Fallstudien zum lutherischen Lehrverständnis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 684 S. m. 1 Abb. = For-schungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 175. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783525573426.

Rezensent:

Knud Henrik Boysen

Die hier zu rezensierende, am Göttinger Lehrstuhl für Systematische Theologie entstandene Dissertationsschrift von Tobias Graß-mann zielt mitten in einen zentralen Topos der klassischen Dogmatik hinein, indem sie von der grundlegenden Frage ausgeht, was eigentlich unter »Lehre« im evangelischen bzw. hier dezidiert im lutherischen Sinne zu verstehen ist. Die Arbeit stellt dabei im doppelten Sinne eine »Lehr-Geschichte« dar, indem sie die Geschichte des lutherischen Lehrverständnisses selbst in der Form einer schlaglichtartigen Lehrgeschichte beschreibt, in welcher sich evangelische Lehre in der Reflexion über das Verständnis von Lehre und im Vollzug von Lehre je neu formt. Der Bogen wird dabei in den sechs Einzelstudien der Arbeit denkbar weit gespannt: Vom Ausgangspunkt in den Katechismen, Kompendien und Bekenntnissen der Wittenberger Reformation, welche »Lehre« im »Konsens« zusammenfassen und zugleich selbst als »evangelische Lehre in nuce« gelten können (115–182), führt der Weg über den barocken »Überschwang« der Lehre beim Straßburger Dogmatiker J. C. Dannhauer (183–326) und die Lehrkritik der Wort-Gottes-Theologie im 20. Jh. (327–404) bis zu den vom Vf. einander komplementär gesetzten Annäherungsversuchen in der Gegenwartstheologie bei E. Herms (405–522) und G. A. Lindbeck (523–595). Hinzu kommt ein den theologischen Ansätzen vorgeschaltetes erhellendes Kapitel über außertheologische kulturanthropologische (C. Geertz) und soziologische (P. Bourdieu) Verstehensweisen eines religiösen Lehrbegriffs als konflikthafte Verständigungsversuche innerhalb eines mehrdeutigen religiösen Symbolsystems (47–114). Ein zusammenfassendes und reflektierendes Kapitel über die Lehre als »Lebensraum des Glaubens und Richtschnur der Verkündigung« schließt die Arbeit ab (597–642), die zudem durch ausführliche Register (659–684) abgerundet wird.

Gerade weil die Arbeit nun einen so weiten Bogen schlägt, fallen zugleich manche Lücken und Entscheidungen auf, deren Verortung trotz der einführenden Bemerkungen des Vf.s zur Auswahl der Positionen und zum Aufbau der Arbeit (39–46) nicht immer völlig klar werden: So wird von der Barocktheologie gleich ins späte 20. Jh. gesprungen, ohne näher auf die dazwischen liegende Zeit einzugehen, in welcher doch die eigentliche »Umformungskrise« evangelischer Lehre auf dem Weg zur Moderne zu suchen ist. Mit anderen Worten: Die vom Vf. vorausgesetzte Unterscheidung zwischen »alt-« und »neuprotestantischen« Entwürfen (vgl. 41f.) und ihren verschiedenen Lehrverständnissen bleibt in ihrer Genese letztlich unklar (daran ändern auch die knappen Bemerkungen 325–330 über die Spiegelung dieses Umbruchs in den nachfolgenden Entwürfen nichts, die dennoch von Dannhauer fast direkt zu Bonhoeffer überleiten). Allerdings wäre das hervorragende und schon allein im Blick auf die behandelten ungewöhnlichen Metaphoriken der Lehre als katechetischer »Weg von der Muttermilch zum Gastmahl« und als »umkämpfte Feldstandarte« hochinteressante Kapitel über den in der gegenwärtigen theologischen Landschaft dogmatisch sonst nur wenig bearbeiteten Dannhauer vor einigen Generationen sicher noch als eigenständige Dissertationsleistung durchgegangen. Überhaupt muss man in diesem Kapitel einmal mehr erkennen, wie sehr die immer noch häufig anzutreffende Sicht auf die Barocktheologen als Exponenten einer auf die Ausarbeitung einer angeblich »reinen Lehre« verengten Theologie von nachhaltig wirkenden theologiegeschichtlichen Vorurteilen angetrieben wird. Mit diesen räumt der Vf. noch einmal gründlich auf, indem er stattdessen gerade die Weite des dort verhandelten Lehrbegriffs darlegt, die er explizit auch für heute nutzbar machen will (vgl. auch 597.606 f.). Dagegen überrascht die überaus ausführliche Darstellung der Position von Herms als herausgehobenem Beispiel eines weiterführenden Verständnisses von »Lehre« in der Gegenwartstheologie doch etwas. Diese ist eventuell dem Umstand geschuldet, dass dessen zu Beginn der Abfassung der vorliegenden Arbeit gerade neu erschienene »Systematische Theologie« (2017) für den Vf. nach einer Bearbeitung dieses umfassenden Ansatzes verlangte. Dennoch wäre m.E. die Paarung G. Sauter und W. Pannenberg die lohnendere Auseinandersetzung gewesen (auch wenn Sauter sicher nicht als dezidierter Lutheraner auftrat), da die von beiden Theologen seit den 1970er Jahren geführten Diskussionen über den Gehalt der Begriffe »Wahrheit«, »Konsens«, »Dogmatik« und eben »Lehre« innerhalb eines Verständnisses von (Evangelischer) Theologie als Wissenschaft in der Moderne viel zu deren methodischer Schärfung beigetragen hat, wo der monolithisch wirkende Entwurf von Herms insgesamt eher seine eigenen und teils durchaus neo-doktrinal verstehbaren Semantiken pflegt.

Auffallend ist auch, dass im Kapitel zur Wort-Gottes-Theologie nur ihre lutherisch-existentialtheologische Fassung als »Kerygma-Theologie« vorgestellt wird und zwar quasi als eine Theologie ohne, neben und nach K. Barth. Ob die vom Verfasser so ausdrücklich beabsichtigte Beschränkung dieser Richtung auf »lutherische« bzw. eben »nicht-reformierte« Entwürfe allerdings angesichts der massiven Beeinflussung der deutschsprachigen Nachkriegstheologie im Allgemeinen und der Wort-Gottes-Theologie im Besonderen durch Barth insgesamt angemessen ist (von dem ebenfalls ursprünglich »Reformierten« Schleiermacher ganz zu schweigen), bliebe zu fragen, zumal da die in diesem Abschnitt als Protagonisten behandelten R. Bultmann, W. Huber und I. U. Dalferth ja allesamt auch als Lutheraner stark durch Barth’sche Denkformen geprägt waren und sind (vgl. dagegen 332 die knappe Begründung zur Absehung von Barth in der Arbeit). Ist also eventuell die Kritik dieser Theologen an einem (kirchlichen) Lehrbegriff als einem »abkünftigen«, sekundären Phänomen, die teils (v. a. bei Huber) geradezu in strikten Gegensatz zum Begriff der Theologie und der Offenbarung gebracht wird, eventuell nicht nur eine Spätfolge Heidegger´scher Wahrheitskritik, wie es der Vf. nahelegt (vgl. 333–339), sondern ebenso auch von »reformierten« bzw. Barth´schen Denkformen von Offenbarung?

Der letzte Abschnitt des Buches ist der eigenen Verortung des Vf.s zu seiner Fragestellung gewidmet. Dabei geht er von folgender Definition aus: »Christliche Lehre ist die sprachliche Artikulation von stetigen Beziehungen innerhalb eines christlich-religiösen Symbolsystems, die auf überindividuelle Nachvollziehbarkeit, möglichst allgemeines Einverständnis und gemeinschaftliche Einstimmung zielt.« (600) »Lehre« darf im christlichen Sinne keinesfalls als ein »starres« System von Glaubenssätzen verstanden werden, sondern erweist sich vielmehr als ein geschichtlich dynamisiertes und pneumatologisch aufgeladenes Entwicklungsgeschehen, in welchem sich der Glaube sowohl innerhalb wie außerhalb der Kirche möglichst nachvollziehbar und verständlich als Übereinstimmung mit einer allein religiös »begehbaren« eschatologischen Wirklichkeit ausspricht. »Lehre« bildet dabei den weiten Lebens- und Artikulationsraum, ja das »Nährmittel« (vgl. 603) des christlichen Glaubens selbst, wie sie zugleich dessen unersetzbare und unhintergehbare innere »Richtschnur« (vgl. dazu 608 f.) als eine Form von gemeinschaftlich erlebter »Grammatik« (Lindbeck) bereitstellt, um die herum sich der Glaube als ein Raum ausbreitet, dessen Grenzen aber eben durch eine Lehre im Konflikt der miteinander konkurrierenden Glaubensartikulationen immer wieder neu zu definieren und zu öffnen sind (vgl. 630–634; sehr schön ist hier die Benennung der Aufgabe der Dogmatik als »Arbeit am Lehrkonflikt« [617]). Innerhalb dieses »Lehr-Raumes« des Glaubens stellen sich nun fast unvermeidlich kirchlich geordnete »Orthodoxiestrukturen« ein, welche die angedachte allgemeine und egalitäre Konsensfindung der Gemeinde anhand von Kriterien »rechter Lehre« stützen sollen (vgl. dazu 614–627). Diese Strukturen sind jedoch zugleich in höchstem Maße als ambivalent zu betrachten, da sie eben nur allzu leicht wieder in die blanke Lehrgesetzlichkeit einer angeblich »reinen Lehre« kippen können, deren Versuche einer Einengung der Lehre gerade immer wieder aufzusprengen sind. Wie aber sähe eine Orthodoxie aus, deren rechte Lehre zugleich darin bestünde, sich selbst immer wieder durch Lehre korrigieren und reformieren zu lassen? Mit dieser Frage findet man sich schon mitten in jener stetigen »Arbeit am Lehrkonflikt« vor, so dass in Zukunft jeder, der sich in Theologie und Kirche mit dem dogmatischen Problem der christlichen Lehre und der unabschließbaren Umstrittenheit ihres Wahrheitsbezugs auseinandersetzen will, an diesem Buch nicht mehr vorbeikommen wird.