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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1116–1117

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bayer, Oswald

Titel/Untertitel:

Vernunft und Vertrauen. Zur Grundorientierung lutherischer Theologie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2022. 608 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann. Geb. EUR 139,95. ISBN 9783110768237.

Rezensent:

Michael Roth

Die in diesem Band versammelten – größtenteils aus dem letzten Jahrzehnt stammenden – Texte sind Vorträge, die bei verschiedens-ten Gelegenheiten in wissenschaftlichen und kirchlichen Zusammenhängen gehalten wurden und auf verschiedene Herausforderungen antworten. Die Aufsatzsammlung lässt sich durch folgende Punkte charakterisieren:

Erstens: Die 38 Einzeltexte vereinigen in sich ganz unterschiedliche Gattungen, sie reichen von einer Predigt im Universitätsgottesdienst in der Tübinger Stiftskirche (»Gefährte Deiner Nacht. Meditation eines Weihnachtsliedes von Jochen Klepper« [273–277]) bis zu philologischen, hochgelehrten Studien zu Johann Georg Hamann (vgl. etwa »›[D]as ganze Vermögen zu denken beruht auf Sprache‹. Eine Einführung in Hamanns ›Metakritik über den Purismum der Vernunft‹« [303–314]). So ist bereits äußerlich markiert, was für den Vf. wesentlich ist: Theologie kommt vom Gottesdienst her und geht zum Gottesdienst hin. Von daher kann es auch nicht überraschen, dass der Vf. sich ausführliche Gedanken zur Predigt macht (»Das alte Buch in neuer Zeit. Zur Theologie der Predigt« [82–94]). Die Predigt – so verdeutlicht der Vf. – bedeutet immer auch Zeitgenossenschaft, in der »dem Nächsten in Anknüpfung und Widerspruch das vom Gesetz unterschiedene Evangelium, die Christus-Promissio, zugedient, zugespielt werden« muss. Dafür reiche theologische Kenntnis alleine nicht aus, vielmehr bedürfe es auch eines »Gespürs für das, was an der Zeit ist (Koh 3,1–8) und durch keine wissenschaftliche Methode, sondern nur kraft der Erleuchtung durch den Heiligen Geist entdeckt werden kann« (93).

Zweitens: Der Vf. zeigt in diesem Band das ganze Spektrum der Systematischen Theologie, er enthält sowohl dogmatische Texte wie Arbeiten zu »Gottes Verborgenheit« (189–200) oder der »Heilsbedeutung des Todes Jesu« (259–272), religionsphilosophische Erkundungen wie die Überlegungen zur »Metaphysik als metakritische Aufgabe der Theologie« (351–369) oder zu »Glaube und Geschichte bei Kant und Hamann« (315–337) als auch ethische Erörterungen wie die zur »Menschenwürde bei Luther« (465–471) und zur »Ethik der Gabe« (480–499). Dabei ist die Verschränkung der systematisch-theologischen Teildisziplinen bemerkenswert. Zwei Beispiele: Die fundamentaltheologische Frage nach »Glaube und Vernunft« (21–35) wird mit Hilfe der dogmatischen Rede von der Allmacht Gottes zu beantworten gesucht. Wer – anders etwa als Hans Jonas – mit Luther sowohl an Gottes Güte als auch an seiner Allmacht festhalten wolle, müsse spannungsvolle Unterscheidungen treffen und Gottes Unbegreiflichkeit aushalten (vgl. 32). Gerade das Aushalten dieser Spannung charakterisiere die lutherische Perspektive. »Dies bedeutet, dass auch die durch den Glauben erleuchtete, die aus ihrer Verkehrung zurechtgebrachte, neu geschaffene Vernunft die Vielheit und Verschiedenheit, in welcher der eine Gott uns widerfährt, nicht von vornherein in eine immer schon gegebene oder denkbare Einheit zurückführen und in ihr aufgegeben sein kann, um auch an sperrigen Phänomenen vorbei und über sie hinweg eine theoretische Letztbegründung zu erreichen.« (33). Damit widerspricht der Vf. dem Anspruch, sich »dem herrscherlichen Willen zur Einheit [zu] beugen«, auch wenn sich der Glaube vernünftig verantworten müsse (33).

Das zweite Beispiel betrifft die Verschränkung von religionsphilosophischer, dogmatischer und ethischer Fragestellung in dem Text »Ethik der Gabe« (480–499). Neben einer religionsphilosophischen Erörterung von Geben und Nehmen (480–485), kommt der Vf. in dogmatischen Erkundungen auf die Schöpfungswirklichkeit als Gabe zu sprechen (485–492), um von hier aus zu einer Ethik der Gabe vorzustoßen (493–499). Diese Ethik der Gabe erblicke die Sünde sowohl in der Unfähigkeit, die von Gott gewährte Gabe im Dank wahrzunehmen, als auch in der Kehrseite, der Unfähigkeit des Zurück- und Weitergebens (vgl. 496 f.).

Drittens: Durchgängig beschäftigt sich der Vf. mit der Theologie Luthers. Dabei zielt er nicht auf bloße historische Rekonstruktion, sondern auf die Vergegenwärtigung der Theologie Luthers. Um diese Vergegenwärtigung herzustellen, wird Luther mit gegenwärtigen Fragestellungen wie dem Freiheitsverständnis (443–464) einer- seits und mit neuzeitlichen Denkern andererseits ins Gespräch gebracht: So ist für den Vf. nicht nur Johann Georg Hamann ein durchgängiger Gesprächspartner, sondern auch Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schleiermacher, Paul Ricœur und Max Horkheimer werden immer wieder herangezogen.

Viertens: Auch wenn die einzelnen im Band versammelten Texte, die der Vf. in ihrem ursprünglichen Umfang belässt, damit sie auch jeweils für sich gelesen werden können (vgl. VI), sich zu einem Großen und Ganzen fügen, so ist vom Vf. durchaus kein theologisches System beabsichtigt. Dies überrascht nicht, sind doch die Texte von der Spannung von Gesetz und Evangelium (vgl. u. a. 512–514), offenbarem und verborgenem Gott (vgl. u. a. 189–200), Gottes Zorn und Gnade (vgl. u. a. 245–258) bestimmt – um nur einige der immer wiederkehrenden Themen zu nennen. Theologie ist für den Vf. eine Konfliktwissenschaft. Ihre Aufgabe ist es nicht, ein System zu etablieren, in dem sich alles umstandslos reimt, sondern sie gibt Auskunft, wie angesichts der Spannungen und Widersprüche des Daseins an je konkreten Orten Gottes Zusage unmissverständlich zur Sprache gebracht werden kann.

Schließlich: Der Vf. präsentiert in dieser Aufsatzsammlung eine Reihe von Themen und Fragestellungen, denen er schon länger verpflichtet ist. Es ist durchaus spannend zu beobachten, wie hier vieles weiterentwickelt wird. Der Vf. zeigt sich als Theologe, der keine Ruhe gibt, immer bereit, sich scheinbar beantworteten Fragen erneut zu stellen und so Neues zu entdecken. Zwei Beispiele: Die bekannte These des Vf.s, dass christliche Theologie ihren Ort zwischen Metaphysik und Mythologie hat, wird insofern weiterentwickelt, »als im Blick auf die Metaphysik nicht nur deren Gegensatz zur Mythologie, sondern auch deren sachliche Zusammenhänge und Verflechtungen mit der Mythologie in Blick kommen« (351). Der Vf. nimmt ernst, dass metaphysische Fragen unausrottbares Bedürfnis des Menschen sind. Auch in der Rede von Gottes Verborgenheit werden Präzisierungen und hilfreiche Distinktionen erreicht: Der Vf. leitet an, zwischen einer erkenntnistheoretisch motivierten Rede von der Verborgenheit Gottes (189–192), einer sündentheologisch motivierten Rede von der Verborgenheit Gottes (192–194), die Rede von einer erfreulichen, staunenswerten Rede von der Verborgenheit Gottes (194 f.), der kreuzestheologischen Rede von der Verborgenheit Gottes (195–197) und der zu beklagenden schrecklichen Verborgenheit Gottes (197–198) zu unterscheiden.

Die Texte insgesamt beanspruchen – wie der Untertitel ver- rät – eine »Grundorientierung lutherischer Theologie« zu leisten. In der Tat lassen sie einen ganz eigenen, in der heutigen Zeit durchaus singulären Denker hervortreten, der sich von Luthers Verständnis, Theologie zu treiben – nämlich in oratio, meditatio, tentatio –, bestimmt weiß.