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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1107–1109

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmitt, Arbogast

Titel/Untertitel:

Denken ist Unterscheiden. Eine Kritik an der Gleichsetzung von Denken und Bewusstsein.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2020. 239 S. = Studien zu Literatur und Erkenntnis, 18. Geb. EUR 29,00. ISBN 9783825347116.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Im Allgemeinen hat der Fortschrittsgedanke abgewirtschaftet – sowohl bei Hegel als auch bei Marx, d. h. in der Geschichte, aber auch in der Technik, wo er sich noch lange hielt. Luxusautomobile, wie der neueste Lamborghini, haben eine Leistung von 1.500 PS. Was sollte daran fortschrittlich sein? Obwohl der Fortschrittsgedanke in allen Bereichen abgewirtschaftet hat, hält er sich hartnäckig ausgerechnet in der Philosophie. Dort gilt in aufsteigender Reihenfolge: Seins-, Bewusstseins-, Sprachphilosophie, wobei jeweils das spätere Paradigma das frühere ersetzen und überholen soll. Das ist ersichtlich falsch, wenn auch verbreitet. Es gibt immer noch Seins- philosophen (z. B. Bruno Puntel), aber auch Bewusstseinsphilosophen (z. B. Manfred Frank), die mit allen neueren Strömungen vertraut sind.

Arbogast Schmitt attackiert in seinem Buch insbesondere den Übergang von der Seins- zur Bewusstseinsphilosophie, der nicht, entgegen allgemeiner Überzeugung, die Naivität des unmittelbaren Gegenstandsbezugs auf ein höheres Reflexionsniveau gehoben habe. Denn, so S., die antike Philosophie bei Plato, Aristoteles und Plotin verfügte über einen Reichtum an Binnendifferenzierungen, die sie der Bewusstseinsphilosophie überlegen machen. Eine solche These ist sehr mutig, denn sie widerspricht Allem, was man heute so glaubt. Um es vorwegzusagen: S.s Argumente sind durchaus nachvollziehbar und hätten es verdient, den clichéhaften Übergang von der Seins- zur Bewusstseinsphilosophie in Frage zu stellen, so ähnlich, wie die sogenannte »Heidelberger Schule« mit Wolfgang Cramer, Dieter Henrich und Manfred Frank den Übergang von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie mit Gründen abgestritten hat. Umso mehr erstaunt es, dass S. weder auf Cramer noch auf Henrich Bezug nimmt und nur nebenbei auf Frank. Das aber würde heißen, dass sein Buch rein historisch wäre, was man auch als verdienstvoll akzeptieren könnte, wenn es dabei bliebe. Aber S. macht immer wieder Ausflüge in die Gegenwartsphilosophie, was man so verstehen muss, dass er die klassische Seinsphilosophie auch dort für überlegen hält. Dazu unten mehr.

S.s Deutung der klassischen Seins- gegen die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie geht davon aus, dass die Identifikation von Denken und Sein die Gegensätze auseinanderreißt, die dann nur noch äußerlich oder nachträglich aufeinander bezogen werden können. So z. B. Anschauung und Begriff. Nach einem berühmten Diktum von Kant »Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauung sind leer«. Anschauungen sind also als solche blind. Diesen starren Gegensatz kennt Aristoteles nicht, sondern verschiedene Grade in der Deutlichkeit der Unterscheidung, denn, wie es schon im Titel des Werkes heißt »Denken ist Unterscheiden«, und da bei Aristoteles schon die Anschauung (hier »Aisthesis«) unterscheidet, gibt es bereits auf diesem Niveau ein Denken im weitesten Sinn. Wenn ich sehe, wie irgendjemand von ferne auf mich zukommt, dann weiß ich nicht, wer oder was das ist, ich weiß nur, es ist jedenfalls kein Baum, denn der kommt nicht auf mich zu. Später bin ich im Zweifel, ob es vielleicht ein Esel ist, merke aber schließlich, dass es sich um meinen Nachbarn handelt. Die Grade der Deutlichkeit des zu Unterscheidenden nehmen zu, sind aber auch schon zu Beginn in der Anschauung vorhanden, und weil hier Unterscheiden gleich Denken ist, denkt in gewisser Weise auch schon die Anschauung, und weil Tiere – selbst die einfachsten – unterscheiden, was ihnen zuträglich ist und was nicht, denken in diesem Sinne schon die Tiere, aber auch die Pflanzen. »Denken«, so begriffen, steht sichtlich quer zur Unterscheidung »bewusst« – »unbewusst«, die wir heute gebrauchen würden, um denselben Sachverhalt aufzuklären. Und dieses Querstehende der antiken Konzeption beweist sich in den verschiedensten Bereichen.

Während Kant von einer scharfen Dichotomie zwischen moralischem und zweckrationalem Handeln ausgeht, gibt es bei Aristoteles eine kontinuierliche Hierarchie der Werte derart, dass alles in der Natur sein »Gut« hat, das sich beim Menschen als Moralität ausprägt. Auch hier gibt es keinen klaren Schnitt. Das würde heutigen Auffassungen nahekommen, wonach die Natur nicht das »ganz Andere« ist, sondern wonach der Mensch sich als eingebettet in die Natur begreifen sollte. Ebenso gibt es neuere Untersuchungen, wonach sich unser begriffliches Denken nicht abstrakt aus sich selbst begründet. Bei Aristoteles ist das Denken als Unterscheiden immer eingebettet in das Wollen und in bestimmte Emotionen. Wir haben also keine prinzipielle Dichotomie zwischen Rezeptivität und Spontaneität wie bei Kant, weil das Wollen und die Emotionen wiederum quer stehen zu dieser Unterscheidung, vielmehr ist alles Erkennen und Handeln von beiden durchdrungen.

Dann verweist S. auf die für uns befremdliche Tatsache, dass Plato einen solchen Begriff von »Schönheit« hat, dass nicht nur Kunstwerke, sondern auch Frauen, Pferde und Töpferwaren »schön« sein können. Die Begriffe werden auch hier nicht dichotomisch verwaltet. Auf diese Art konjugiert S. die verschiedensten Bereiche durch und zeigt, dass die Tendenz der Bewusstseinsphilosophie, unvermittelte Gegensätze zu erzeugen, in der antiken Philosophie viel besser und sachgemässer behandelt werden.

Im Prinzip können wir der Generalthese des Buches folgen, wonach die klassische Seinsphilosophie Differenzierungen kennt, die durch ihre Außerkraftsetzung verloren gingen, wodurch diese problematische Identifikation von Denken und Bewusstsein entstand. Wenn S.s Buch keine weiteren Ansprüche gestellt hätte, so wäre es umstürzend und überzeugend genug, aber das reichte ihm offenbar noch nicht. Er wollte nicht nur das Denken vom Bewusstsein abkoppeln, um den Übergang von der Seins- zur Bewusstseinsphilosophie ins Unrecht zu setzen, er dehnte diesen Geltungsanspruch zugleich, wenn auch oft nur in Anmerkungen, auf die zeitgenössische Philosophie aus. Aber hier wird der Leser seine Probleme haben, denn es gibt ja moderne Philosophen (nicht wenige!), die das Bewusstseinsparadigma ablehnen, so vor allem die post-Husserlschen Phänomenologen und Leibphilosophen, also Heidegger, Merleau-Ponty, Hermann Schmitz, Gernot Böhme, Thomas Fuchs usw. Diese kommen aber bei S. nirgends vor. Wie verhält sich diese zeitgenössische Kritik an der Bewusstseinsphilosophie zu seiner eigenen?

Wer die antike Konzeption bis in die Gegenwart ausdehnen wollte, dürfte sich solche Autoren nicht ersparen, abgesehen davon, dass man auch den »linguistic turn« berücksichtigen sollte, der seit dem späten Wittgenstein das Bewusstseinsparadigma durch die Sprache zu ersetzen suchte. Seltsamerweise enthält seine Literaturliste Sprachphilosophen wie Michael Loux und Eduard Lowe, und auch Autoren wie Rudolf Carnap, Moritz Schlick und Bertrand Russell werden nebenher erwähnt. Wollte man solche Autoren zugleich mit der antiken Seinslehre »erschlagen«, müsste dieses Buch dreimal so umfangreich sein, und man würde befürchten, dass S. vielleicht zu viel gewollt hätte.

Aber abgesehen von diesem überhöhten Geltungsanspruch ist dieses Buch sehr wichtig, indem es das verbreitete cliché widerlegt, wonach die Antiken naiv gewesen seien, indem sie das Bewusstsein ignorierten, um sich unvermittelt und unkritisch auf das (Gegenstands-)Sein zu beziehen.