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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1102–1104

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Suh, Jin-Ho

Titel/Untertitel:

Der Verlust der religiösen Substanz. Paul Tillichs Begriff des Profanen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 324 S. Kart. EUR 98,00. ISBN 9783374073481.

Rezensent:

Frank Schulz-Nieswandt

Zu besprechen ist die für die Drucklegung geringfügig geänderte Dissertation von Jin-Ho Suh, die im Sommersemester 2021 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommen wurde.

Die Arbeit sortiert sich im Vorwort ein in die polyphone Debatte um die Säkularisierung. Die Polyphonie besteht darin, dass die ältere Theorie die radikale Säkularisierung zum quasi zwangsläufigen Element des komplexen Geschehens der Modernisierung im Zeitalter des Rationalismus gezählt hat. Heute wird jedoch an einem Ende der Religion (nicht nur im Kontext des politischen Fundamentalismus) gezweifelt. Neue Formen des Religiösen werden beobachtbar und diskutiert. Das Heilige (nicht im Widerspruch zum Laizismus stehend) spielt auch in der Rechtsphilosophie und Ethik des Mitmenschen und der Natur eine Rolle, wenn es um Achtung und Respekt vor der Würde der Personalität des Anderen sowie um die Ehrfurcht angesichts der Natur geht.

Damit ist das Erkenntnisinteresse der Dissertation bereits deutlich. Was hat Paul Tillich mit seinem Werk zum Thema der Figuration von Religion und Kirche, des Heiligen und des Dämonischen, sowie Profanität und Säkularisierung (»Verweltlichung«) und für die Theologie angesichts der existenziellen Entfremdung des Menschen uns zu sagen (31)? Die »Krise der Religion« im Lichte der Darlegung einer »Ambivalenz der Säkularisierung« skizziert der Vf. in seiner Einleitung (15 ff.). Die Passagen dienen der Begründung der Hinwendung zur »Theologie der Kultur« von Tillich (26) bis hinein in die Entwicklung seiner Systematischen Theologie. Welchen Beitrag leistet Tillich für die theologische und wohl dann auch – in einem soziologischen Sinne (28) – für die praktische Bewältigung des Sä-kularisierungsphänomens? Die Antwortsuche sei im Lichte des Standes der Forschung noch ein Desiderat in der Tillich-Forschung (28).

Methodologisch gesehen geht der Vf. weitgehend werkgeschichtlich (30) vor, stellt also auf Wachstum und Entwicklung sowie Wandel ab.

Kapitel 2 (33 ff.) diskutiert vertiefend die gegenwärtige Säkularisierungsdebatte, um sodann wiederum den Anschluss des Beitrages von Tillich (51) einzubringen. Der Vf. schöpft dort das Potenzial der theoretischen Positionen in diesem weiten Feld nicht aus, was den Rahmen einer Dissertation, die den Fokus auf die Relevanz des Werkes von Tillich gelegt hat, vielleicht auch sprengen würde. Allerdings finden sich in diesen postsäkularen, aber eben auch posttheistischen Beiträgen bereits die beiden verknüpften Probleme, die bei Tillich im Zentrum stehen – Selbsttranszendierung des Individuums in der Stufenabfolge von Oikos, Polis und Kosmos (in Korrelation zu Eros, Philia, Agape) und ontologische bzw. transzendentale Obdachlosigkeit – in der Tradition bestimmter Strömungen des Marxismus, der älteren Kritischen Theorie, aber auch eines linken Sozialkonservatismus debattiert.

Kapitel 3 (53 ff.) geht zur re-konstruktiven Explikation von Tillichs Säkularisierungsbegriff über. Entscheidend ist – und man kann hier die Interpretationen des Vf.s und somit Tillichs Werk im Zuge seiner werkgeschichtlichen Betrachtung Schritt für Schritt nachvollziehen, hier aber nicht im Detail besprechen – die Trennung von Kultur und Religion dergestalt, dass zwar die (kirchliche) Religion im Niedergang ist, die religiöse Substanz jedoch als objektiver Geist erhalten bleibt. Dieser Geist kann sich quasi-pneumatisch in die Subjekte einfalten (»einschreiben«). Dies ist in der Geschichte als ontologisches Potenzial in übergeschichtlicher Zeitlichkeit zu begreifen. Es geht also um eine komplizierte große Erzählung zu Trennung, Differenzierung, Niedergang, Ver- lust und Aufstieg neuer Formen religiöser Substanz in der profani- sierten Kultur. Unter dem Begriff der Generalisierung denkt Tillich die Diffusion des Göttlichen in den Sphären der Kultur der menschlichen Daseinsführung (66 f.), was später (266 ff.) vom Vf. in der Ambivalenz von Risiko und Potenzial aufgegriffen wird.

Dieses bleibende Potenzial ist bedeutsam angesichts der eschatologischen Dimension der Übergeschichtlichkeit der geschichtlichen Zeitlichkeit (67 f.), die in der »langen Dauer« der Modernisierung zur Idee des Fortschritts transformiert wird. Dies ist der Ausgangsbefund, damit der Vf. in Kapitel 4 (69 ff.) die Problematik des Profanen bei Tillich im Spannungsfeld zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten erörtern kann. Der eingangs erwähnte Beitrag zur religionsphilosophischen Idee einer Theologie der Kultur von Tillich wird nun aufgegriffen (71 ff.).

Dabei ist von Bedeutung, die wichtige systematische Position der Geistfunktion der Kultur bei Tillich nachzuvollziehen. Die Geistfunktion der Kultur kann nämlich nun der Idee des Unbedingten (Tillich nutzt auch die Kategorien des Absoluten, sieht hier aber die Gefahr der Verdinglichung, die seine Gedankengänge erodieren würde) den Weg bahnen (77). Damit geht es um die Auffassung des Göttlichen nicht als Sein, sondern als Sinn. Später wird daher folgerichtig die Idee des Geistes symboltheoretisch erörtert (96 ff.).

Damit verlässt Tillich traditionale Bahnen der Metaphysik, ohne aber jegliche bzw. andersartige Ontologie zu vermeiden. Denn Tillich, wenn man seine Beiträge zum religiösen Sozialismus (197), resultierend aus der Idee der Religionsphilosophie als Theologie der Kultur, heranzieht, nimmt (257 f.) die Kraftquelle der Liebe, das Licht der sozialen Gerechtigkeit und die Macht der Demokratie als ontologische Kategorien einer Strukturanalyse auf, beseelt sie aber mit dem Sinn des Göttlichen.

Diese Beseelung des Bedingten durch die intentionale Kraft des Göttlichen als des Unbedingten – als religiöse Substanz, womit wir explizit auf den Titel der Arbeit Bezug nehmen – handelt der Vf. nun in den folgenden Abschnitten werkgeschichtlich mit Blick auf mögliche Metamorphosen ab. Zentral, weil konstitutiv ist die Verknüpfung zweier ontologischer Trias-Strukturen: die Kategorien-Trias »Form-Gehalt-Inhalt« einerseits und andererseits die Kategorien-Trias »Autonomie-Theonomie-Heteronomie« (79 ff.). Es re- sultiert daraus die Dialektik von Grund und Abgrund (83 ff.), die an die Lücke der ontologischen Obdachlosigkeit und an die Ankerfunktion des Unbedingten als sich pneumatisch einschreibender objektiver Geist anknüpft. Das Verhältnis von Heiligem und Profanem, von Kirche und Kultur, sodann die Dämonisierung und die Kategorie der Grund-Offenbarung in der Differenz zur Heils-Offenbarung angesichts der Abgründigkeit (110 f.) werden erörtert.

Instruktiv ist dann der historisch-soziologische Teil, der die Problematik der Profanisierung mit Blick auf die dämonische Abgründigkeit genealogisch rekonstruiert (121 ff.). Alles läuft auf eine Latenz des Unbedingten als religiöser Substanz im Bedingten hinaus. Mir scheint dies die Schlüsselidee der Antwortsuche auf die Frage eines Beitrages von Tillich zum Verständnis der Säkularisierungsproblematik zu sein. Niedergang und Verlust beziehen sich auf ornamentale Form-Fragen, nicht auf die Substanzialität in einer Theologie der Kultur als Geistlehre der Figuration von Bedingtem und Unbedingtem. Es geht in der Folge – quasi transzendental – um die Möglichkeit einer humangerechten und somit »wahren« Form seienden Seins in der Geschichte als Überwindung der Entfremdung der menschlichen Existenzweise. Diese Position validiert sich in Kapi- tel 5 (145 ff.), wenn der Vf. die Arbeiten Tillichs aus der Mitte der 1930er Jahre betrachtet und erörtert.

Kapitel 6 behandelt sodann die späte Theologie von Tillich (171 ff.). Mit Bezug auf die Systematische Theologie von Tillich werden auch die oben angedeuteten Differenzierungen der Ontologie im Lichte der Geistfunktion der Kultur und dem Sinn-Charakter des Göttlichen im Zuge einer existenzialistischen bzw. existenzphilosophischen Wende validiert (177 ff.). Aspekte einer dynamischen Prozess-Ontologie (179) finden hier Eingang, und das Verhältnis zur Korrelations-Methode wird skizziert (181 ff.).

Die Hinwendung zum Leben (192 ff.) in der Geschichte (245 ff.) stellt hier eine »onto-anthropologische Wende« dar. Es kristallisiert sich die Bedeutung der Selbsttranszendenz des Menschen im Kontext der Polarität von Selbst und Welt (201) heraus (200.216 ff.). Die ontologische Form-Inhalt-Gehalt-Trias ermöglicht diese Sichtung des Lebens (auch der Kunst) als Problem wahrer und unwahrer Daseinsgestaltung, also die Sichtung des Problems der Entfremdung als Kluft zwischen Essenz und Existenz (205). In der Entfremdung fehlt der Heilige Geist (205 f.), der aber zur Wahrheit in der Geschichte benötigt wird, denn die Vernunft regelt zwar die Struktur des Bedingten (208 f.), und die Moralität (204 sowie 296) fungiert als die Klammer der Daseinsführung, doch Vernunft und Moralität müssen im Geiste des Unbedingten (dazu 232 ff.) beseelt werden.

Wenn man das »Wagnis« des Daseins zwischen Freiheitsgrad und Schicksal denkt, so wird nun deutlich, was Tillich mit dem »Mut zum Sein« (279 ff.) meinte: Die Annahme des bedingten Lebens als Bewältigungsaufgabe im Zeichen der Sorge, aber eben auch im Zeichen der Liebe im Lichte der Sinnstiftung des Unbedingten. Die ontologische bzw. transzendentale Obdachlosigkeit meint also »Sinnverlust« im Modus der Verweigerung der vertikalen Selbst-Transzendierung als eine letzte Stufe des »Werdens in wachsenden Ringen« verstanden (269). Es entsteht ein geistiges Vakuum (272 f.). Telos der Geschichte wäre nun die universale Personalisierung des Menschen im Sinne der achtungsvollen Anerkennung seiner Würde (251) und auch der Achtung der außermenschlichen Natur (251).

Am Ende erörtert der Vf. die Möglichkeit der Quasi-Religion (282 ff.), auch als Religion ohne Gott und ohne Kirche. Die Essenz des Profanen ist und bleibt das Unbedingte im Profanen (286 ff.). Dies betont der Vf. nochmals in seinem Fazit (299 ff.): Die Möglichkeit der Immanenz des Unbedingten (307) ist der Kern der Grundstruktur (207) der Tillich’schen Religionsphilosophie einer radikalen onto-anthropologischen Wende, die nicht im Widerspruch, sondern im Verhältnis der Ermöglichung zu seiner Systematischen Theologie steht. Die Anthropologie bleibt damit phänomenologisch in der Position der Responsität (307 f.).

Die Dissertation leistet verdienstvoll eine nachvollziehbare Herausarbeitung des Wesenskerns von Tillichs Gewebestruktur von Religionsphilosophie, Theologie und Onto-Anthropologie. Sie hat nicht alle Verästelungen in allen möglichen Tiefen und alle möglichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurse vollumfänglich berücksichtigt. Mit Blick auf die universitäre Idee der Dissertation soll man allerdings auch die Kirche im Dorf lassen.