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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1100–1102

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Die getrennten Wege von Römern, Juden und Christen. Religionspolitik im 1. Jahrhundert n. Chr.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VIII, 212 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783161568268.

Rezensent:

Benjamin Schliesser

Mit seinem Buch greift Udo Schnelle mit Verve in die Debatte um das Verhältnis des entstehenden Christentums zum Judentum ein. Er ist sich wohl bewusst, dass es sich nicht nur um ein historisches und theologisches, sondern auch um ein »emotionales Thema« (2) handelt. Die These der Studie stellt sich gegen aktuelle Trends in der Forschung, die das Christentum ganz vom Judentum her verstehen wollen (z. B. »Paul within Judaism«): Christen, Juden und Römer »sind nie gemeinsame, sondern von Anfang an getrennte Wege gegangen« (190).

Nach einer knappen Einführung (1–10) mit fünf idealtypischen Modellen zur Trennung von Judentum und Christentum benennt Schnelle die Schlüsselfrage seines Buches: Welche Rolle spielte die »Religionspolitik« in den religiösen Identitätsprozessen des ersten Jahrhunderts? Antwort: »Die Römer sind der entscheidende Faktor für die religionspolitischen Entwicklungen im 1. Jh. n. Chr.« (9). In den folgenden Kapiteln werden die drei relevanten religionspolitischen Dimensionen verhandelt: die römische Religionspolitik gegenüber dem Judentum und dem Christentum (11–44), die jüdische Religionspolitik gegenüber dem entstehenden Christentum (45–70) und die frühchristliche Religionspolitik (71–120). In einer Art Exkurs nimmt Schnelle das »Judenchristentum« als mögliche verbindende Größe in den Blick (121–132), bevor er in einem weiteren Kapitel auf das zweite Jahrhundert vorausschaut (133–181). Das Kapitel »Römische Religionspolitik und die getrennten Wege von Juden und Christen« fasst die Ergebnisse zusammen (183–190). Ein Literaturverzeichnis schließt den Band ab; auf Indizes wurde verzichtet.

Stilistisch und argumentativ zeichnet sich das Buch durch seine erfrischende Klarheit und streitlustige Eigenständigkeit aus. Sein Geschichtsbild ist geprägt durch harte Kanten und scharfe Abgrenzungen. Ansätze, die von durchlässigen Distinktionsgrenzen, »hybriden« religiösen Identitäten und von pluralen »Christentümern« und »Judentümern« ausgehen, werden scharf kritisiert (186 u. ö.). Historisch stellt sich die Situation im Ergebnis so dar, dass die Römer die Juden und Christen seit den 60er Jahren als eigenständige Gruppen wahrgenommen haben, dass die jüdische Religionspolitik gegenüber dem Christentum »von Anfang an eindeutig und durchgängig auf Abgrenzung« ausgerichtet war (69) und dass das frühe Christentum sich nach einer »diffusen Anfangsphase (ca. 30–50 n.Chr.)« (187) schon mit Paulus als »eigenständiges religiöses Organisations- und Wissenssystem« etablierte (120). Zwischen Judentum und Christentum gab es »nie eine ›Trennung‹ […], weil sie nie zusammen waren!« (132). Von einer sukzessiven und erst im zweiten Jahrhundert oder später vollzogenen »Trennung der Wege« könne keine Rede sein. Die entscheidende »Bruchstelle« sei von Anfang an die Botschaft vom gekreuzigten Messias gewesen, insofern sie mit jüdischen und hellenistischen Wissenssystemen inkommensurabel sei (117).

Inhaltlich überzeugt m. E. das Bestreben, charakteristische Wesensmerkmale und Distinktionsmerkmale des entstehenden Christentums hervorzuheben. Die Tendenz der gegenwärtigen Forschung, die frühchristliche Bewegung in zeitgenössische religiös-kulturelle Milieus einzubetten und ihre Theologie und ihr Ethos auf das in der antiken Welt Vorfindliche zu reduzieren, erfährt dadurch eine wichtige Korrektur. Gleichzeitig läuft S.s Ansatz Gefahr, auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen und das Trennende überzubewerten. Das Christentum und das Judentum werden als kohärente Entitäten beschrieben, die geradezu als Geschichtsakteure auf den Plan treten: So »musste dem Judentum alles daran gelegen sein, nicht mit dieser […] neuen Bewegung [sc. dem entstehenden Christentum] identifiziert oder verwechselt zu werden« (187). Ein solcher »Essenzialismus« wird der historischen Komplexität kaum gerecht. Die Behauptung, dass sich Paulus auch nach seiner Hinwendung zur Jesusbewegung (noch) als Jude verstand, wird als unbegründet abgeschmettert: »wer seine jüdischen Vorzüge und damit seine jüdische Vergangenheit als ›Scheiße‹ einstuft, kann kaum weiterhin als Jude bezeichnet werden« (95 Anm. 35). Allerdings verwirft Paulus nicht seine jüdische Identität an sich, sondern sie erfährt eine fundamentale Transformation. Schon die Tatsache, dass er mehrfach die Synagogalstrafe über sich ergehen lässt (2Kor 11,24), erweist seine bleibende Verbindung zur jüdischen Gemeinschaft.

S.s Ansatz ist primär ideengeschichtlich angelegt. Die Rede von Jesus als »Diskursgründer« (96.100.173.188) und vom frühen Christentum bzw. der paulinischen und johanneischen Theologie als neuem »Wissenssystem« (113–120) kann dabei als kognitive Verengung (miss-)verstanden werden. Ein umfassenderes Bild ergibt sich, wenn neben den ideellen auch soziale, ethische und kommunikative Distinktionsmerkmale stärker berücksichtigt werden (z. B. die Sozialgestalt der Christusgruppen, ihr Ethos). Mit dem Fokus auf die Ideengeschichte geht der Rekurs auf literarische Texte und damit auf den Elitendiskurs einher. Dokumentarische Quellen und die materiale Kultur, die Alltagswelt und die Perspektive »von unten« bleiben unterbelichtet. Ihre Berücksichtigung würde die propagierten harten Trennlinien aufweichen.

Insgesamt ist festzuhalten, dass S.s Studie ein ernstzunehmender Kontrapunkt zur gegenwärtigen Forschung ist, welche die Fluidität und Hybridität der antiken Religiosität überbetont und die distinkten Wesensmerkmale des frühen Christentums unterbewertet. Künftige Forschungen sollten Impulse von Schnelle aufnehmen und das Identitätsprofil des frühen Christentums – bei aller Diversität der »Christentümer« – noch präziser herausarbeiten.