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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1097–1100

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Potempa, Alina

Titel/Untertitel:

Wie Katholiken die moderne Ökonomie entdeckten. Rezeptionsweisen in Spätaufklärung und Ultramontanismus.

Verlag:

Paderborn: Brill | Schöningh 2022. X, 380 S. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783506795182.

Rezensent:

Jürgen von Hagen

Dass sich Katholiken per se schwer tun sollen mit dem Kapitalismus und der modernen, zu seiner Analyse entwickelten Volkswirtschaftslehre, ist ein hartnäckiges Vorurteil, das unter anderem Max Weber auf den ersten Seiten seines berühmten Buchs über den Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und dem »Geist des Kapitalismus« vertreten hat (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus).

In jüngster Zeit hat Benjamin M. Friedman, Wirtschaftswissenschaftler an der Harvard Universität, die umfassende, starke, sich gegenseitig befruchtende Verbindung zwischen protestantischer theologischer und wirtschaftswissenschaftlicher Debatte zuerst in Großbritannien und dann, im 19. und 20. Jh., in den USA aufgezeigt (Benjamin M. Friedman, Religion and the Rise of Capitalism). Eine solche starke Verbindung der Wirtschaftswissenschaften mit katholischer Theologie beobachtet man in dieser Zeit nicht. Sie entsteht, von einigen Anfängen abgesehen, erst nach der Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891 (Pedro Teixeira und António Almodovar, »Catholic Economic Thought,« in: Stephen N. Durlauf und Lawrence E. Blume (Hg.), The New Palgrave Dictionary of Economics, online https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1057/978-1-349-95121-5_2557-1). Michael Novak (The Catholic Ethic and the Spirit of Capitalism, 7 f.) hat darauf hingewiesen, dass es, bei aller berechtigten Kritik an seiner Analyse der protestantischen Ethik, Webers Verdienst sei, Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftssystem, sondern auch als Kultur zu verstehen (so auch Werner Gephart, Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max Webers). Sind Katholizismus und die Kultur des Kapitalismus im 19. Jh. nicht oder nur schwer vereinbar?

Alina Potempas Buch widmet sich dieser Fragestellung. Sie will zeigen, wie Katholiken im 19. Jh. die moderne Volkswirtschaftslehre rezipierten und dabei »modern-ökonomische Denkweisen und Postulate als Ausdrucksfeld ihres theologischen Selbstverständnisses und somit ihres Glaubens entdeckten« (17). Zur Beantwortung dieser Fragen stellt sie zwei katholische Autoren vor, deren wichtigste Beiträge in die Zeit zwischen 1800 und 1865 fallen: Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860) und Charles Périn (1815–1905). In Kapitel 1 gibt P. eine Einführung in das Thema und eine (geistes-)geschichtliche Einordnung der Fragestellungen. Kapitel 2 widmet sich Heinrich Ignaz von Wessenberg. Kapitel 3 befasst sich mit Charles Périn. Diese beiden Kapitel geben auch reichhaltige biographische Informationen zu den beiden betrachteten Perso-nen sowie Skizzen der ökonomischen Situation in Baden, wo von Wessenberg lebte, und Belgien, wo Périn lebte, in der jeweils relevanten Zeit. Im abschließenden Kapitel 4 zieht P. Schlussfolgerungen aus dem Vergleich der beiden Personen und ihrer Beiträge sowie ein Fazit und gibt einen Ausblick über den betrachteten Zeitraum hinaus.

Von Wessenberg studierte Theologie, Jura und Philosophie. Er war ab 1802 Generalvikar im Bistum Konstanz und wurde 1812 zum Priester geweiht. Périn studierte Jura und lehrte ab 1844 Öffentliches und Völkerrecht und ab 1845 auch Politische Ökonomie an der Universität von Leuven, Belgien. Dort war er Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Politische Ökonomie von Charles de Coux (1787–1864), seinem Freund und Mentor und einem der Begründer der französischen Christlichen Politischen Ökonomie (Gilbert Faccarello, »A Dance Teacher for Paralyzed People? Charles de Coux and the Dream of a Christian Political Economy.« European Journal of the History of Economic Thought 24:4, 2017, 828–875). Während von Wessenberg sich im Rahmen seiner kirchlichen und, zwischen 1819 und 1833, auch seiner politischen Arbeit u. a. als Abgeordneter mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzte, war Périn christlicher Wirtschaftswissenschaftler mit starken theologischen Wurzeln und Interessen und von beachtlichem Einfluss in der Katholischen Kirche seiner Zeit. In seinem Hauptwerk, De la richesse dans les sociétés chrétiennes (2. Aufl. Band 1 und 2, 1868) widmete sich Périn der Frage, wie materieller Fortschritt und das christliche Prinzip der Entsagung miteinander vereinbar sein können (Périn, De la richesse … Bd. 1, vii.).

Es handelt sich also um zwei sehr unterschiedliche Personen. Dennoch hatten sie Gemeinsamkeiten, die P. im letzten Kapitel des Buchs herausarbeitet: die Überzeugung, dass Politische Ökonomie nicht unabhängig von der Morallehre der Katholischen Kirche betrieben werden kann und sollte und dass wissenschaftliche Erkenntnisse der Politischen Ökonomie theologische Erkenntnisse des christlichen Glaubens stärken und befruchten können. Beiden gemeinsam war ebenfalls die Verwurzelung in einem theistischen Weltbild im Gegensatz zu dem deistischen Weltbild Adam Smiths (Benjamin M. Friedman, The Influence of Religious Thinking on the Smithian Revolution, in: Paul Oslington (Ed.), Adam Smith as a Theologian, 19). Périn und von Wessenberg waren der Idee wirtschaftlichen Fortschritts gegenüber offener als viele ihrer katholischen Zeitgenossen und zugleich darum bemüht, die sozialen Verwerfungen, die damit einhergingen, durch angemessene Gestaltung des Wirtschaftslebens (d. h. nicht nur durch karitative Fürsorge) zumindest zu mildern. Verbunden mit ihrer bejahenden Einstellung zu wirtschaftlichem Fortschritt befürworteten beide, wiederum im Gegensatz zu den meisten ihrer katholischen Zeitgenossen, wirtschaftliche Freiheiten wie die des Handels und der Gewerbefreiheit.

Um von Wessenbergs und Périns Positionen herauszuarbeiten und sie vergleichen zu können, wählt P. geschickt fünf Themen- und Spannungsfelder aus, zu denen beide ausführlich Stellung bezogen haben: »Handel und Handelspolitik; Zunfttradition, Gewerbereform und korporatives Denken; Bildung in Zeiten des sozio-ökonomischen Umbruchs; frühsozialistische Gesellschaftsentwürfe; Armuts- und Reichtumsverständnisse« (24). Für alle fünf Felder stellt P. die Positionen der beiden Autoren ausführlich und im Kontext der jeweiligen ideen- und wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungen vor. Die Benennung der Felder macht schon deutlich, dass es dabei mehr um wirtschaftspolitische Gestaltungsfragen als um genuin wirtschaftswissenschaftliche Fragen geht. Im Folgenden können nur Grundlinien der Argumente skizziert werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Argumenta-tion der beiden betrachteten Autoren aufzuzeigen.

Sowohl von Wessenberg als auch Périn sahen Handel als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung an, in der unterschiedliche Regionen mit unterschiedlichen Produktionsbedingungen ausgestattet sind und Handel der Mehrung des Wohlstands aller dient. Beide traten auf dieser Grundlage für Freihandel ein; von Wessenberg war ein Gegner des Beitritts Badens zum Deutschen Zollverein, während Périn dem Konzept zeitlich begrenzter Schutzzölle Friedrich Listscher Prägung gegenüber durchaus offen war. Beide traten ebenfalls für Gewerbefreiheit ein und lehnten die überkommene Zunftordnung ab. Dabei forderte von Wessenberg die Schaffung von unteren und mittleren Bildungseinrichtungen gerade auch im gewerblichen Bereich, die den künftigen Arbeitern und Handwerkern eine angemessene Bildung und, darauf aufbauend, bürgerliche Existenz ermöglichen sollten. Périn hingegen trat für die Bildung freier christlicher Korporationen der Arbeiterschaft ein, um die negativen Konsequenzen freier Berufswahl und des damit verbundenen Wettbewerbs am Arbeitsmarkt zu vermeiden.

Bildung war für beide ein wichtiges Thema gerade angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen im Zuge der Industrialisierung. Wie Adam Smith sahen sie die Gefahr, dass Industriearbeiter durch die Monotonie und physische Gewalt ihrer Beschäftigung geistig und moralisch verkümmern (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Übersetzung von Horst Claus Recktenwald, Buch 5 Kapitel 1, 662 f.). Um dies zu verhindern, trat von Wessenberg für die Einrichtung von Schulen ein, die gewerbliches und ökonomisches Wissen und religiösen Unterricht verbinden sollten, diese sollten sich von den herkömmlichen humanistischen Bildungseinrichtungen unterscheiden. Ganz ähnlich setzte sich Périn für ein gestuftes Schulsystem ein, das den Kindern der Arbeiterschaft berufliches und praktisches Alltagswissen und religiöse Erziehung vermitteln sollte.

Von Wessenberg und Périn waren in ihrer Zeit mit den frühsozialistischen Ideen Saint-Simons konfrontiert. Die von ihm propagierte Ablösung der christlichen Religion durch Wissenschaft lehnten beide ab, teilten aber durchaus seine Vorstellungen größerer Verteilungsgerechtigkeit von Einkommen und Reichtum. Die Vorstellung, die Menschheit könne sich durch wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt selbst erlösen, widersprach bei- der christlichen Überzeugung. Größere Verteilungsgerechtigkeit, die beide als wichtige Komponente gesellschaftlicher Wohlfahrt ansahen, hofften sie durch die Durchsetzung christlicher Moralvorstellungen im Wirtschaftsleben zu erreichen.

Interessant ist hier Périns Ansicht, dass privates »Eigentum […] eine Entsagung der Fokussierung materieller Freuden im eigenen Leben und somit eine christliche Haltung erst strukturell möglich [macht]. Gleichzeitig sporne es dazu an, hart zu arbeiten – für Périn ebenfalls eine wichtige christliche Tugend.« (233) Die wirtschaftlichen Seiten christlicher Entsagung sind nach Périn Sparen, Inves-tition und letztlich Kapitalakkumulation. Damit rückt er ganz in die Nähe dessen, was Weber als genuin protestantisches Fundament der kapitalistischen Entwicklung zu entdecken glaubte, ist Entsagung nach Périn doch ein hohes christliches Prinzip. Zugleich folgt, ganz im Sinn Pièrre Nicoles, dass ein Mensch aus Eigennutz geizig sein und zugleich christlich enthaltsam scheinen kann. Nach Nicole ist es möglich, dass wirtschaftliches Handeln aus Nächstenliebe und wirtschaftliches Handeln aus purem Eigennutz nicht unterscheidbar sind, weil Handeln zum Vorteil Anderer dem Menschen zum eigenen Vorteil gereicht (Nicole, Œvres Philosophiques et Morales, 202 f.). Nach Périn erlaubt das Prinzip der Entsagung allerdings auch, ein materiell auskömmliches Leben zu genießen.

P. liefert in ihrer Studie einen überaus wertvollen Beitrag zur Theologiegeschichte des 19. Jh.s und zur Diskussion um den Zusammenhang zwischen christlicher Theologie und Wirtschaftswissenschaft. Das Buch bietet ein reichhaltiges Quellenmaterial. Es verdeutlicht, dass es schon vor Rerum novarum gewichtige und innovative Auseinandersetzungen mit der kapitalistischen Entwicklung auch auf katholischer Seite gegeben hat.

Unklar bleibt allerdings, ob von Wessenberg und Périn tatsächlich die zu ihrer Zeit moderne Nationalökonomik als Wissenschaft mit ihrer eigenen Methode und spezifischen Fragestellungen rezipiert oder sich lediglich mit ihren wirtschaftspolitischen Folgerungen auseinandergesetzt und diese teils übernommen haben. Das im Buch dargestellte Quellenmaterial beantwortet dies insofern nicht, als offenbleibt, inwieweit von Wessenberg und Périn sich mit wissenschaftlichen Themen auseinandergesetzt und am europäischen wirtschaftswissenschaftlichen Dialog teilgenommen haben. Der Leser erfährt immerhin, dass von Wessenberg in den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit sehr aktiv Stellung bezog; ebenso Périn, der sich darum bemühte, seine Konzepte einer katholischen Politischen Ökonomie in Rom zu verankern.

Das Buch ist gut lesbar und verständlich geschrieben. Auf den ersten Seiten spricht P. davon, dass nach der Finanzkrise von 2008 das Interesse an wirtschaftsethischen Fragen stark angestiegen sei und ein rasanter Aufschwung der Diskussion zwischen christlicher Theologie und Wirtschaftswissenschaft stattgefunden habe. Tatsächlich bleibt diese Diskussion ebenso wie die von P. erwähnten Arbeiten von Waterman ein kleines Randgebiet der Wirtschaftswissenschaft mit wenig Einfluss auf den Mainstream. Das ist bedauerlich. Wenn dies Buch dazu beiträgt, mehr Interesse an dieser Diskussion zu wecken, wäre das ein großes Verdienst.