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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1096–1097

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Moxter, Michael, und Anna Smith [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Theologie und Religionsphilosophie in der frühen Weimarer Republik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. V, 233 S. = Christentum in der modernen Welt, 4. Geb. EUR 74,00. ISBN 9783161619885.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der Band präsentiert eine nicht näher begründete Auswahl von Vorträgen, die im Oktober 2019 auf einer am Hamburger Fachbereich Evangelische Theologie ausgerichteten Tagung gehalten und diskutiert worden waren. Der hundertste Geburtstag der Universität Hamburg bot den äußeren Anlass der Konsultation und bewegte die Veranstalter zu der thematischen Fokussierung auf die ebenfalls einhundert Jahre zurückliegenden Anfänge der Weimarer Republik, in denen sich auch ein »außerordentlich produktive[r] Experimentierraum in Sachen Religionsdiskurs und theologischer Reflexion« (Vorwort) aufgetan habe. Tagung und Drucklegung wurden im Wesentlichen von der Fritz Thyssen Stiftung finanziert, was die beiden Herausgeber zu der in sprechender Dezenz formulierten Bemerkung veranlasste, die Hamburger Universität habe »ihr Zentenarium auf andere Weise zu feiern gedacht als durch die Förderung wissenschaftlicher Tagungen« (ebd.).

Dem Sammelband ist eine dichte, kluge und anregende Einführung (1–25) von Michael Moxter vorangestellt. Anhand der drei für seinen Beitrag titelgebenden Metaphern »Untergänge – Umbrüche – Anfänge« analysiert Moxter das Verhältnis von Metaphorizität und Zeitdiagnostik. Dabei arbeitet er insbesondere eindrücklich heraus, inwiefern der zumal von Karl Barth und Friedrich Gogarten für die Anfänge der Dialektischen Theologie reklamierte voraussetzungslose Neueinsatz eine fiktionale Selbststilisierung darstellte, mit der die mannigfaltigen »Umformungen und Umbesetzungen« (3), die deren nach 1918 betriebene Theologie vollzog, verschleiert zu werden drohten. Zugleich plädiert Moxter diesbezüglich mit Nachdruck für eine ausgreifende kulturgeschichtliche Kontextualisierung: »Die Geschichte der Dialektischen Theologie lässt sich diachron als Werkgeschichte der Autoren nur beschreiben, wenn man das synchrone Geflecht der theologischen und religionsphilosophischen Diskurse der frühen Weimarer Jahre beachtet, wie sie sich in der jüdischen Religionsphilosophie, der allgemeinen Rechtslehre sowie in Kunst und Literatur darstellten.« (10)

Genau diesem Interesse sind die elf fachwissenschaftlichen Beiträge des Bandes verpflichtet. Im Einzelnen werden dabei bedeutende Autoren, Medien und Strukturen der 1920er Jahre analysiert: namhafte evangelische Theologen (neben Barth und Gogarten bei- spielsweise auch Emanuel Hirsch, Paul Tillich oder Ernst Troeltsch) und jüdische Religionsdenker (Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Jakob Gordin, Emmanuel Lévinas) ebenso wie der Jurist Carl Schmitt, der Soziologe Max Weber, der Philosoph Ernst Bloch oder die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé, desgleichen die religionsintellektuell einschlägige Zeitschrift Die Kreatur oder der im Spannungsfeld von »nationaler Kränkung und gesellschaftsdiakonischem Anspruch« (135) operierende deutsche Protestantismus.

Der mit präzisem Namens- und Sachregister ausgestattete Band ist der Erinnerung an den unlängst jung verstorbenen Göttinger Theologen Christian Polke (1980–2023) gewidmet. So studiert man Polkes Beitrag, der, von Oswald Spenglers monumentalem zweibändigem Werk Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) ausgehend, im Werk von Tillich und Troeltsch »geschichtstheologische Deutungsfiguren zwischen Untergang und Aufbruch« (185–205) analysiert, mit besonderer Aufmerksamkeit. In Abwägung verschiedener Gesichtspunkte kommt Polke zu dem Ergebnis, gegenüber Tillich und erst recht im Vergleich mit den jungen theologischen Dialektikern habe Troeltsch die wesentlich größere Zukunftsfähigkeit erwiesen: Dessen Geschichtstheologie »beeindruckt in ihrem festen Willen zum Neuanfang im Wissen um die Notwendigkeit von Kompromissen und Pluralismusfreundlichkeit. Darin ist Troeltsch der frühere und zeitlebens vielleicht sogar der bessere Demokrat« (204).

Insgesamt zeichnet der Band, dessen Organisation den Autor- innen und Autoren in ihrer speziellen Themenwahl völlige Freiheit beließ, ein facettenreiches, tiefenscharf ausleuchtendes Bild von den theologischen und religionsphilosophischen Orientierungen in der Zeit der frühen Weimarer Republik. Trefflich attestiert Moxter den hochkarätigen, durchweg beachtenswerten Beiträgen das verbindende »Interesse an einer Theologie, die Vernunft und Religion nur gemeinsam verlieren kann und darum auch weiß« (25).

Sollte man die vorliegende Besprechung als kritiklos empfinden, so sei immerhin vermerkt, dass ein erläuterndes Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger willkommen gewesen wäre.