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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1093-1095

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Reinert, Jonathan, u. Volker Leppin [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kleriker und Laien. Verfestigung und Verflüssigung einer Grenze im Mittelalter.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VIII, 313 S. = Spätalter, Humanismus, Reformation, 121. Geb. EUR 114,00. ISBN 9783161608025.

Rezensent:

Kristin Skottki

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Leppin, Volker: Repräsentation und Reenactment. Mittelalterliche Frömmigkeit verstehen. Tübingen: Mohr Siebeck 2021. IX, 272 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783161600777.


Im Jahr 2021, als Volker Leppin verdientermaßen seine neue Stelle als Horace Tracy Pitkin Professor of Historical Theology an der Yale Divinity School (New Haven, CT, USA) antrat, erschienen die beiden hier zu besprechenden Publikationen. Während Repräsentation und Reenactment hinsichtlich seines Formats und günstigen Preises beinahe schon den Charakter eines Vademecums hat, handelt es sich bei Kleriker und Laien um einen klassischen Sammelband, den L. zusammen mit seinem damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter Jonathan Reinert herausgab. Beide Werke wurden durch intra- und interdisziplinäre Projekte des Verfassers beziehungsweise der Herausgeber an der Universität Tübingen geprägt: die Hälfte der zwölf Beiträgerinnen und Beiträger zum Sammelband war beziehungsweise ist an der Universität Tübingen tätig, während Repräsentation und Reenactment insbesondere von den theoretischen Impulsen und Diskussionen im Tübinger SFB 1391 Andere Ästhetik (Sprecherin: Annette Gerok-Reiter) inspiriert wurde (3).

Der Sammelband Kleriker und Laien vereinigt insgesamt 12 Fallstudien, die sich anhand unterschiedlicher Quellenbeispiele der ›Normalität‹ und Normativität der Grenze zwischen Klerikern und Laien im lateineuropäischen Christentum des Mittelalters widmen. Im Vorwort verweisen die Herausgeber auf den Umstand, dass die Beiträge ursprünglich für eine vierteilige Sektion auf dem International Medieval Congress (IMC) in Leeds 2020 geplant waren, der aufgrund der Covid 19-Pandemie nicht stattfinden konnte. Hätten die Autorinnen und Autoren die Möglichkeit gehabt, sich über ihre Beiträge auszutauschen, wäre es vielleicht gelungen, die leider den meisten Sammelbänden inhärente Disparität durch Querverweise oder gar das Aufgreifen von Thesen anderer Beiträge besser in den Griff zu bekommen. In der vorliegenden Form bietet der Sammelband Einzelstudien, die insgesamt die Erwartung bestätigen, dass die Diskurse und Praktiken gleichermaßen bestimmende Grenzziehung zwischen Klerikern und Laien im lateineuropäischen Mittelalter grundsätzlich als unhinterfragt gültig angenommen wurde. Selbst jene Beiträge, die sich explizit Entwürfen der (scheinbaren) Grenzverflüssigung widmen, bestätigen letzten Endes diesen Eindruck.

Sven Michael Grögers Untersuchung zur Rolle des monastischen Standes bei Anselm von Canterbury, Ingo Klitzschs Beitrag zum Verhältnis von Mönchtum und Rittertum in Bernhards von Clairvaux De laude novae militae, ja selbst Wolf-Dietrich Schäufeles (englischsprachige) Auseinandersetzung mit John Wyclifs Ekklesiologie und Ulrike Treuschs Überblick zu den Reformvorhaben des Konstanzer Konzils finden sowohl in den jeweiligen Konzepten als auch in der späteren Deutungs- und Rezeptionsgeschichte kein wirksam gewordenes, innovatives Potential für eine entsprechende Grenzverflüssigung.

Am meisten überrascht dieses Ergebnis wohl im Hinblick auf Jonathan Reinerts Auseinandersetzung mit der aus seiner Sicht unzutreffenden Charakterisierung, die frühen Franziskaner hätten eine »Klerikalisierung« durchlaufen, die sie vom ursprünglichen Ideal der Laienbewegung entfremdet habe. Überzeugend legt Reinert dar, dass aus der Selbstsicht des Franziskus die Grenze zwischen Klerikern und Laien sowohl durch seine eigene als auch durch die Armutsbewegung insgesamt keineswegs in Frage gestellt wurde.

Für drei Viten semireligiöser Frauen aus dem Brabant des 13. Jh.s kann Daniela Blum wahrscheinlich machen, dass die grenzüberschreitenden Potentiale dieser Laiinnen von deren männlichen, klerikalen Hagiographen bewusst austariert wurden, um nicht den Verdacht der Häresie zu schüren beziehungsweise zu bestätigen. Ein ähnlicher »narrativer Balanceakt« (151) wäre vielleicht auch für die Deutung des self-fashioning des Franziskus und seiner Bewegung denkbar.

Dass die germanistischen Beiträge von Isabell Väth zu den Martinsdichtungen des sogenannten »Mönchs von Salzburg« und von Michael Neumaier zu einigen geistlichen Spielen vornehmlich aus dem 15. Jh. in ihren Quellen das meiste Potential der Grenzverflüssigung ausfindig machen konnten, überrascht kaum. Die weitestgehend aus einem liturgischen Rahmen losgelöste und im wahrsten Sinne des Wortes spielerische Aneignung von geistlichen Inhalten und klerikalen Praktiken ermöglichte künstlerische Freiräume, die sowohl klerikale wie auch bürgerliche Dichter auszunutzen wussten.

Volker Leppin gelingt es in seinem eigenen Beitrag zum Sammelwerk in einem Kernbereich der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie – der priesterlichen Buße – eine »völlig unprogrammatische Erhöhung der Entscheidungskompetenz der Laien« (247) zu beobachten. Diese ergab sich jedoch nicht aus der Diskrepanz zwischen Norm und Praxis, sondern wurde durch die Ambiguität kirchlich-klerikaler normativer Bestimmungen und Aussagen zur Beichtpflicht selbst ermöglicht. Dass ›wahre Buße‹ auch ohne den entsprechenden sakramentalen Vorgang und damit ohne sazerdotale Vermittlung möglich war, belegen nicht nur (erwartbar) entsprechende Autoritäten aus der sogenannten Mystik, sondern auch repräsentative Werke des theologischen Mainstreams wie die Sentenzensammlung des Petrus Lombardus.

Alle Beiträge des Bandes bewegen sich auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau und werden in den Forschungsfeldern zu den Einzelbeispielen zweifellos entsprechende Beachtung finden.

Volker Leppins Monographie Repräsentation und Reenactment hat im Vergleich dazu das Potential, zu einem Standardreferenzwerk für spätmittelalterliche Frömmigkeit zu werden. Meisterhaft gelingt es L., durch die Applizierung kulturwissenschaftlicher Theoriebildung das religiöse Wirklichkeitsverständnis lateineuropäischer Christinnen und Christen des Spätmittelalters sichtbar und verstehbar zu machen. Im Kern geht es um die Frage nach der Überbrückungsleistung von Transzendenz und Immanenz und von Historizität und Gegenwärtigkeit im Heilsgeschehen. Diese doppelte Überbrückungsleistung fasst L. einerseits mit dem Begriff der Repräsentation für die eher statisch gedachte Vorstellung der Gegenwärtigkeit Gottes, während er die dynamische Dimension der Vergegenwärtigung des Göttlichen oder Heiligen in einem Handlungsgeschehen als Reenactment zu deuten sucht (256). L.s Darstellung des spezifisch religiösen Moments der spätmittelalterlichen, lateinchristlichen Religionskultur zielt dabei vor allem auf ein Publikum, dem Theologie und Frömmigkeitsgeschichte der sogenannten Vormoderne eher fremd sind: trotz des hohen rhetorischen und argumentativen Niveaus ist das Büchlein gut verständlich geschrieben, vermeidet unnötigen Fachjargon und voraussetzungsreiche Anspielungen.

Vor allem aber gelingt es L. ohne unnötige Frömmelei eine kleine Kulturgeschichte des Christentums zu schreiben, die Kernbereiche der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis und Theologie erschließt. Im ersten (»Das ferne Heil«) von insgesamt sechs Kapiteln geht es insbesondere um das ›Nahbarmachen‹ des Heilsgeschehens durch visuelle Repräsentationen und die häufig mit Bildern verbundene Ablasspraxis; im zweiten Kapitel (»Das Heilige ins Leben ziehen«) um verschiedene Formen der Nachfolge und imitatio Christi; im dritten (»Das Heilige fühlen und erlaufen«) um Reliquien und Wallfahrtsorte; das vierte Kapitel (»Das Heilige schauen, riechen und schmecken«) widmet sich zentral der Eucharistie; das fünfte (»Das Heilige hören und vollziehen«) der Bedeutung von Wort, Schrift und Verkündigung; und das sechste (»Dem Himmel so nah«) mystischen Entwürfen der Gotteserfahrung.

Anhand einer Vielzahl von Objekten, Medien und Erzählungen veranschaulicht L., wie »der empfangende, der schauende, der nachspielende und der in der imitatio Christi nachlebende gläubige Mensch« (261) das Jenseitige im Diesseitigen und das Damals im Jetzt zu erfahren suchte. Schade ist, dass die zahlreichen Bildbeispiele nur kleinformatig in Schwarz-Weiß geboten werden, was jedoch angesichts des günstigen Formats des Büchleins nicht anders zu erwarten war.

Trotz der uneingeschränkten Empfehlung von Repräsentation und Reenactment hätte sich die Rezensentin gewünscht, dass Leppin auch der ›dunklen Seite‹ der spätmittelalterlichen Frömmigkeit mehr Raum gewidmet hätte. Allein im Zusammenhang der Regensburger Wallfahrt von 1519 erwähnt er kurz den damit verbundenen »antijüdischen Triumphalismus« (183). Gewalt, die Tötung und Vertreibung von Jüdinnen und Juden sowie von vermeintlichen Häretikerinnen und Häretikern fand ihre Begründung jedoch allzu oft im Enthusiasmus für die Vergegenwärtigung des christlichen Heilsgeschehens. Wer, wenn nicht theologisch und christentumsgeschichtlich einschlägige Experten wie L. sollte diese negativen Konsequenzen angemessen und umsichtig ansprechen? Die kulturwissenschaftliche Gewalt- und Konfliktforschung würde von einer solchen holistischen Darstellung spätmittelalterlicher Frömmigkeit jedenfalls sehr profitieren.