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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1090–1093

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Lentes, Thomas

Titel/Untertitel:

Soweit das Auge reicht. Frömmigkeit und Visualität vom Frühmittelalter bis zur Reformation. Hgg. v. D. Ganz, E. Meier u. S. Wegmann.

Verlag:

Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2022. 596 S. m. 68 farb. u. 12 s/w Abb. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783496016762.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Dieser Sammelband bietet eine Auswahl kulturgeschichtlich be- merkenswerter Aufsätze des 2019 im Alter von 58 Jahren verstorbe-nen Münsteraner Mediävisten Thomas Lentes. Als Wissenschaftler, der sich in der christlichen Theologie und in der mittelalterlichen Profangeschichte auskannte, wirkte er im Münsteraner SFB »Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter« im Teilprojekt von Arnold Angenendt, unter dessen Mentorat er 1996 seine Dissertation abschloss. 1999 gründete er die VW-gesponserte Forschungsgruppe »Kulturgeschichte und Theologie des Bildes im Christentum«, die er bis zu ihrem Ende 2007 leitete. Während dieser Zeit und auch im Anschluss nahm er Aufenthalte als Gastwissenschaftler wahr (u. a. am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, École des Hautes Études en Sciences Sociales [EHESS] in Paris) und beteiligte sich am Münsteraner Cluster »Religion und Politik«.

Die 21 vorgelegten Aufsätze, die zwischen 1995 und 2016 bereits andernorts publiziert wurden (Ort der Erstpublikation findet sich am Ende jedes Beitrages ausführlich bibliographiert), ordnen sich in vier Rubriken ein.

Im Anschluss an das »Vorwort« der Herausgeber (7–12) und einem als »Intro« vorangestellten Aufsatz von Thomas Lentes zu »Vita perfecta zwischen Vita communis und Vita privata. Eine Skizze zur klösterlichen Einzelzelle« (13–48) folgen die Aufsätze aus Rubrik 1 »Text und Ritual«: »Text des Kanons und Heiliger Text. Der Psalter im Mittelalter« (51–79); »Textus Evangelii. Materialität und Inszenierung des textus in der Liturgie« (81–94); »A maioribus tradita. Zur Kommunikation von Mythos und Ritus im mittelalterlichen Messkommentar« (95–132); »Ritus und Kommentar. Tradierung durch Kommentierung im Messkommentar des Wilhelm Durandus« (133–147); »Ereignis und Repräsentation. Ein Diskus-sionsbeitrag zum Verhältnis von Liturgie und Bild im Mittelalter« (149–181); »Die Auffaltung der mysteria involuta. Ritual und Allegorese in Diagrammen zum Liturgiekommentar Lothars von Segni« (183–208); Der hermeneutische Schnitt. Die Beschneidung im Christentum« (209–224).

Unter der zweiten Rubrik »Visualität, äußeres und inneres Sehen« folgen vier Aufsätze: »Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters« (227–268); »Soweit das Auge reicht. Sehrituale im Spätmittelalter« (269–287); »Der göttliche Blick. Hieronymus Boschs Todsündentafel – Eine Einübung ins Sehen« (289–304); »Der Blick auf den Durchbohrten. Die Wunden Christi im späten Mittelalter« (305–329).

Fünf Aufsätze finden sich unter der dritten Rubrik »Bild und Gebet«: »›Andacht‹ und ›Gebärde‹. Das religiöse Ausdrucksverhalten« (333–366); »Counting Piety in the Late Middle Ages« (367–400); »Die Gewänder der Heiligen. Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Gebet, Bild und Imagination« (401–430); »Bildertotale des Heils. Himmlischer Rosenkranz und Gregorsmesse« (431–460); »Sterbekunst, Rettungsring und Bildertod. Rosenkranz und Todesvorstellung zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit« (461–478).

Schließlich folgen in der vierten Rubrik »Bilderfrage« vier Aufsätze: »Bild, Reform und cura monialium. Bildverständnis und Bildgebrauch im Buch der Reformacio Predigerordens des Johannes Meyer (+ 1485)« (481–503); »Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts« (505–550); »Idolatrie im Mittelalter. Aspekte des Traktats De idolatria zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert« (551–563); »Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation« (565–590).

Ein »Schriftenverzeichnis Thomas Lentes’« (591–594) sowie ein »Bildnachweis« (595–596) runden den Sammelband ab.

Während seines Forscherlebens hat L. besonders die Körperlichkeit im Bereich der mittelalterlichen Frömmigkeit fasziniert, darunter prominent die Verkörperung von Liturgieformen und Erinnerungsweisen. Insofern ist der Titel der Publikation »Soweit das Auge reicht« mehrdeutig. Zum einen ist er Zitat eines Aufsatztitels von L. Zum anderen kann er auf das von L. vielfältig untersuchte innere und äußere Sehen mittelalterlicher Menschen hindeuten. Darüber hinaus könnte er L.’ eigenes inneres und äußeres Sehen auf die körperbezogenen Manifestationen von Frömmigkeit in vormodernen Zeiten einbeziehen.

Die Grundperspektive von L.’ Verständnis des (westlichen) Mittelalters ist entwicklungsgeschichtlich ausgerichtet. In der Spur seines Lehrers Arnold Angenendt unterteilt er die Gesamtepoche zwischen 500 und 1500 in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter. Vor allem differenziert er diese drei Phasen im Blick auf die Fähigkeit der Menschen zur Introspektion. Während diese Möglichkeit im Frühmittelalter als limitiert gelten muss, zeigten sich die Menschen ab der Warmzeit des 12. Jh.s mit Bevölkerungswachstum, Verstädterung und neuerlich aufsprießenden Bildungsinitiativen bis zum Beginn der Frühneuzeit im 16. Jh. zu einer Innenschau fähig, die stets tiefer vordrang. Eben diese Fähigkeit zur Introspek-tion wirkte sich auf das Verständnis des menschlichen Körpers und auf den Umgang mit der Körperlichkeit im Bereich des mittelalterlichen Religionslebens vielfältig aus.

Auf die Schnur dieser Gesamtperspektive lassen sich – im Bild gesprochen – die einzelnen Aufsätze wie Perlen aufziehen. So erschließt L.’ Beitrag zur Entstehung der klösterlichen Einzelzelle, dass aus dem großen klösterlichen Schlafsaal, der zwischen 500 und 1000 als selbstverständlich galt, im Hoch- und Spätmittelalter viele Einzelzellen entstanden, die zudem noch als Studierstuben dienten. In dieser Entwicklung spiegelt sich, dass es in den Jahrhunderten zwischen 1200 und 1500 aufgrund sozialgeschichtlicher Veränderungen zu einem ansteigenden Bedürfnis nach Introspektion und Selbstbegegnung kam, die sich auch auf andere Ausdrucksweisen der Frömmigkeit (baulich z. B. auf die von L. untersuchte Nonnenklausur) vielfältig auswirkten.

Das Panorama von L.’ Forschungsperspektiven reicht noch weiter: Schrieb man heiligen Texten im Frühmittelalter die größtmögliche Wirkung zu, wenn sie der Beter fehlerfrei rezitierte, hielten hoch- und spätmittelalterliche Theologen den Text für umso wirksamer, je mehr sich ein Beter ihn angeeignet hatte. Sprachen die Menschen im Frühmittelalter den Heiligenbildern das Leben aufgrund der in ihnen für lebendig erachteten Heiligen zu, sahen Christen späterer Jahrhunderte die Heiligen in den Bildern als Vorbilder, deren Wirksamkeit umso tiefer reichte, je mehr sich der Beter ihr Leben aneignete und ihre Spiritualität in sich zur Wirkung kommen ließ. Diente das Zählen von Frömmigkeitsakten im Frühmittelalter dazu, dass der Mensch beispielsweise seine tarifiert vorgegebenen Bußleistungen um seiner Erreichung des Himmelreiches willen präzise erfüllte, stand das Zählen von geistlichen Vollzügen im Hoch- und Spätmittelalter zunehmend im Dienst der Verinnerlichung des Beters. Derlei dekliniert L. unter anderem anhand von Rosenkranz, Gregorsmesse, Ars moriendi oder Gebet als Akt der Imagination durch.

Wie vermochte das Sehen die individuelle Entwicklung des Menschen zu verändern? Auf diese Frage antwortete man – so L. ausführlich und variantenreich – im Hoch- und Spätmittelalter nicht selten mit der Überzeugung: »Ich werde, was ich schaue.« Dabei galt die Kunst des rechten Sehens zugleich als untrüglicher Ausdruck der Selbsterkenntnis. So kann der Mensch Gott beständig vor den Augen seiner Seele erst dann sehen, wenn das Auge der Seele von jeder Befleckung gereinigt ist, wie L. im stetigen Bemühen um Quellennähe für das Spätmittelalter herausarbeitet.

Auch die Entwicklung der eucharistischen Liturgie fügt sich in das von L. zugrunde gelegte entwicklungsgeschichtliche Schema des Mittelalters ein. Zu erinnern ist hier an die von L. intensiv untersuchte Allegorisierung der eucharistischen Vollzüge (Wilhelm von Durandus; Lothar von Segni etc.) oder an die von ihm analysierten Quellen zu den unterschiedlichen Weisen der Präsenz Jesu Christi im Gottesdienst. Anhand all dieser Beispiele vermag L. unter vorwärtsweisenden Frageperspektiven Verinnerlichungsprozesse aufzuweisen und weitere Forschungen anzuregen: Wie veränderte sich im Laufe der Jahrhunderte beispielsweise das Verhältnis von sakralisiertem Ritual, biblischem Text als Medium der Offenbarung und Kommentator (bzw. Kommentar) zueinander? Wie lässt sich das Verhältnis von Bild und Ritual als Repräsenta- tionsformen des Heils aus einer ritual- und mediengeschichtlichen Perspektive über die Jahrhunderte hinweg beschreiben?

Nicht zuletzt bieten manche von L.’ Aufsätzen erfrischende Perspektiven auf das körperbezogene Denken mancher Reformatoren – erst recht, wenn sie die Eucharistie bzw. die Abendmahlslehre in ihre Deutung einbezogen: »Eine Religionsstruktur, die wesentlich visuell geprägt war, begann sich zu einer zu verändern, die weit mehr das Innere des Menschen als entscheidenden Ort der Gottesbegegnung bestimmte sowie zunehmend den moralischen Effekt der Religiosität betonte« (265), wie L. für das Spätmittelalter erarbeitet. Quellenbasiert ordnet er in diesen Zusammenhang die damalige Diskussion um das Verständnis von Brot und Wein in der Eucharistie/im Abendmahl ein: Einerseits bergen die Gegenstände selbst das Gedächtnis/das Heil (Brot, Wein, Bilder etc.), auf der anderen Seite schreibt man den Dingen (Brot, Wein, Bilder etc.) einen Verweischarakter zu, so dass sie keinen Anteil an der Realität des Bezeichneten haben und einzig der Glaube des Betrachters das Heil in sich birgt. Drastischer noch formuliert L.: »Zeichentheoretisch wird damit den symbolischen Formen jegliche Vermittlungsleistung im Sinne einer Seinsmitteilung abgesprochen. Statt das Jenseits im Diesseits gegenwärtig zu setzen, gelten sie nach dieser Theorie lediglich als Hinderungsmittel und Trennschranken zwischen Himmel und Erde.« (518)

Keine Frage, dass die beschriebenen Ausdrucksweisen einer »grundlegenden anthropologischen Veränderung« (579) auch Auswirkungen auf das Verständnis der Reformation hatten, denn an diesen Transformationen spätmittelalterlicher Provenienz partizipierten die »reformatorisch« genannten Vorgänge, ohne dass sie diese in Kraft gesetzt hätten. L. hält dazu mit vorwärtsweisender Perspektive fest:

»Wenn dies alles zutrifft, dann wäre die Reformation zuallererst als ein Produkt zu begreifen, das am Ende des beschriebenen Transforma-tionsprozesses des religiösen Ausdrucksverhaltens steht und in diesem auch zutiefst gründet. Im Laufe von Reformation und Gegenreformation trennen sich zunächst nicht zwei Konfessionen aufgrund ihrer Dogmatik. Vielmehr stehen sich fortan – und auch dies nur mit vielen Unschärfen, Ungleichzeitigkeiten und Übergängen – zwei Modelle religiösen Verhaltens als gruppenbildend gegenüber, die zuvor nicht notwendig als gegensätzlich verstanden werden mussten.« (365)

Insgesamt liegt hier ein Sammelband vor, der quellenbasiert und diachron argumentiert, der intra- und interdisziplinär ausgreift und der als eine anregende kulturgeschichtliche Sehschule mit theologischem Gewinn zu würdigen ist.