Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1073-1075

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Goldingay, John

Titel/Untertitel:

The Book of Jeremiah.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 2021. 1063 S. = The New International Commentary on the Old Testament. Geb. US$ 75,00. ISBN 9780802875846.

Rezensent:

Christl M. Maier

Die Reihe NICOT ist einer christlichen, an der Inspiriertheit der Schrift orientierten Perspektive verpflichtet und präsentiert sich mit Verweis auf Apg 8,31–38 als Verstehenshilfe für eine christliche Leserschaft, Studierende sowie Pastorinnen und Pastoren, die im Text »die Stimme des lebendigen Gottes neu hören« wollen (Umschlagtext). Der voluminöse Band zum Jeremiabuch von John Goldingay, Professor Emeritus am Fuller Theological Seminary in Pasadena, CA, und anglikanischer Geistlicher, ist in der Reihe das Nachfolgewerk zu J. A. Thompsons Kommentar aus dem Jahr 1980.

Die vergleichsweise kurze Einleitung (64 S.) stellt G.s Hauptthesen konzise vor. Jer 1,1–3 folgend nimmt G. für Jeremias Wirken den Zeitraum von 626 bis kurz nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. an. Er spricht durchgehend vom Ersten Testament und nicht vom Buch, sondern von der Schriftrolle (scroll), die s. E. in Mizpa oder Ägypten während der Exilszeit entstand (19 f.). Zwar nimmt G. eine sukzessive Entstehung der Jeremiaschrift an und bezeichnet die Tradenten als »curators« und »story-tellers« (9). Aber er sieht keine Notwendigkeit, Jeremias eigene Worte herauszuarbeiten, Einzeltexte genauer zu datieren, literargeschichtlich zwischen Poesie und Prosa zu unterscheiden oder Schriftgelehrsamkeit als Alternative zu liturgischer Deutung zu verstehen. Daher kann er Jeremia als Poeten und Prediger mit strikter Kritik der Abtrünnigkeit Judas von JHWH und der Verehrung fremder Gottheiten (»crusader«, 31) sowie rhetorischer Finesse bezeichnen, der seine Zuhörerschaft zu intensivem Nachdenken auffordere. Die zahlreichen Anspielungen auf Israels Heilsgeschichte, vor allem auf Hosea, Deuteronomium und Psalmen, führt G. auf Herkunft und Bildung des historischen Jeremia aus einer Priesterfamilie in Anatot zurück; allerdings sei die Richtung einer möglichen literarischen Abhängigkeit nicht zu klären (22 f.).

Im Anschluss an K. O’Connor versteht G. die Jeremiaschrift als »a ›thick‹ response to disaster« und »a kind of survival manual« (11), ohne freilich K. O’Connors traumatheoretischem Ansatz zu folgen. G. verortet seine Interpretation in drei »Horizonten«, die er Jer 36 entnimmt (6): 1. Jeremias Botschaft aus verschiedenen Kontexten, auf die die Schriftrolle aber nur sporadisch verweist (Jer 3,6; 21,1; 25,1); 2. Jeremias gesamte Botschaft, die er um 604 Baruch diktiert habe (im Kommentarteil werden Jer 2–6 dieser Rolle zugeordnet; z. B. 237), sowie schließlich 3. die erweiterte Rolle, die nicht vor 562 (gemäß Jer 52,31–34) abgeschlossen worden sei. Einer Datierung in die Zeit des Zweiten Tempels, die er als vierten Horizont bezeichnet, und einer ideologiekritischen Interpretation (z. B. aus feministischer oder postkolonialer Perspektive), dem sog. fünften Horizont, kann G. nicht folgen, weil der Text diese nicht nahelege und sie vor allem die Überzeugungen der Auslegenden spiegelten (21). Dass Letzteres auch für seine eigene Auslegung gilt, gesteht er ein, möchte aber seinen Horizont mit dem des Textes verschmelzen lassen, was für ihn bedeutet, im Wesentlichen den Aussagen des Textes zu folgen und diese nicht zu dekonstruieren. Freilich spiegelt G.s Herangehensweise, die die Jeremiaschrift immer wieder mit den Evangelien und Jeremia mit Jesus vergleicht, eben seine spezifisch christliche Überzeugung, die den hermeneutischen Duktus der Auslegung vorgibt. Im Kommentarteil bezieht er sich häufig auf klassische christliche Ausleger (Hieronymus, Theodoret von Cyrus, Calvin, Barth), führt aber auch jüdische an (Raschi, Kimchi).

Hinsichtlich der Textgeschichte hält G. JerLXX und JerMT für voneinander unabhängige Rezensionen eines hebräischen Textes, die die Fremdvölkerworte jeweils stimmig einbauten (44 f.). Daher sei die Rekonstruktion eines ursprünglichen Textes aus den beiden Fassungen spekulativ. Im Kommentarteil übersetzt G. JerMT nach BHS, verweist in Anmerkungen aber auf wichtige Varianten aus LXX, Qumran, Vulgata, Peschitta und den Targumen in englischer Übersetzung, während er hebräische Begriffe in akademischer Umschrift wiedergibt.

Die Kommentierung gliedert den Text in größere Abschnitte, die von einem bis zu sechs Kapiteln reichen. Dabei orientiert sich G. für Jer 1–25 überwiegend an den Wortereignisformeln in JerMT, für Jer 26–52 an den literarischen Gattungen. Nach einer eigenen Übersetzung mit Anmerkungen zu Auslegungsvarianten und Grammatik leitet G. jeweils in das Thema des Abschnitts ein, bietet eine Gliederung und kommentiert danach versweise. Er erläutert die Poesie, rhetorische Stilmittel, Raum- und Zeithorizont, literarische Bezüge zu weiteren Texten sowie Metaphern und deren Sachhintergrund. G. führt aus, wie der jeweilige Text hinsichtlich der Situation vor 587 (im Horizont des Propheten) und nach der Zerstörung Jerusalems (im Horizont der Tradenten) verstanden werden kann. Beispielsweise deutet er die Klagegebete in Jer 11–20 als Ausdruck von Jeremias Protest gegen Judas Ablehnung seiner Botschaft und Person, während sie nach 587 als Zurückweisung des Wortes Gottes gelesen werden könnten und so den Niedergang des Volkes rechtfertigten (323). Die Entstehungssituation von Jer 30–31 lässt G. offen. Die Botschaft dieser Heilsverheißungen richten sich an die Überlebenden der Katastrophe sowie die spätere Leserschaft (608 f.). Die Fremdvölkerworte sind G. zufolge keine Unheilsankündigungen an diese Völker, sondern an Juda gerichtet als Ausweis von JHWHs Wirken in der Welt; sie sollen Juda zeigen, dass es sich vor den fremden Völkern nicht fürchten müsse, sich aber auch nicht auf diese verlassen könne (53.821). Jeremia könnte diese Orakel den am Hof Zedekias versammelten Vertretern der Nachbarstaaten (vgl. Jer 27) mitgeteilt haben, ohne das Unheil zu begründen (823). Dem imperialen Babylon werde aufgrund seiner Hybris, ähnlich wie Juda, allerdings schlimmes Unheil angedroht (Jer 50–51).

In seiner Auslegung zitiert G. immer wieder prägnant aus englischsprachigen Kommentaren und Studien, verweist in wenigen Fußnoten pro Seite aber mit vollständiger Bibliographie auch auf einschlägige deutsche, französische und italienische Arbeiten, insbesondere zur Text- und Redaktionsgeschichte, die er jedoch nicht diskutiert. Die avisierte Leserschaft wird so an weiterführende Literatur gewiesen, während an redaktionskritischer Auslegung Interessierte die Auseinandersetzung mit konträren Forschungsthesen vermissen. Eine Auswahlbibliographie und zwei Karten finden sich im Eingangsteil, am Ende Autoren-, Schlagwort- und Stellenregister.

Die in der Einleitung dargelegten theologischen Grundaussagen werden im Kommentar jeweils an konkreten Texten durchgespielt. Demnach fügt sich die Jeremiaschrift in die Heilsgeschichte des Ersten Testaments ein: Als Bundesvolk JHWHs werde Israel immer wieder abtrünnig und verehre andere Gottheiten, was JHWH zu Zorn und Disziplinierung reize und in die Zerstörung Jerusalems und des Tempels münde. Freilich widerspräche es dem Wesen Gottes, sein Volk vollständig zu vernichten, und so habe Jeremia den Auftrag, niederzureißen und aufzubauen (Jer 1,10). Der Prophet vermittle Gottes Offenbarung durch sein Leben und Reden (56). Die vielfältigen und einander teilweise widersprechenden Charakterisierungen Gottes in der Jeremiaschrift versteht G. als reiche Komplexität, die sich einfachen Antworten widersetze und die Lesenden auffordere, eine umfassende und zeitgemäße Theologie zu entwickeln (60).

Im Blick auf eine christlich-evangelikale Leserschaft verweist der Kommentar häufig auf das Neue Testament und nimmt zu aktuellen Fragen rund um Glauben und Kirche Stellung. Für diese Leserschaft erfüllt er in vollem Maße und mit reichen Erläuterungen zum biblischen Text seinen Zweck. Für die Jeremiaforschung, insbesondere die deutsche, bietet er hingegen wenig Gesprächsangebot.