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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

1002-1004

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

[Schad, Christian]

Titel/Untertitel:

Theologie für das Leben. Plädoyer für eine aufmerksame Kirche. Zum 65. Geburtstag, hg. von T. Himmighöfer.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 328 S. Kart. EUR 25,00. ISBN 9783374073283.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Dieser gehaltvolle Band bietet in 27 Beiträgen von Dr. h.c. Christian Schad die Summe seiner Lebensarbeit als Gemeindepfarrer, theologischer Referent, Oberkirchenrat und Kirchenpräsident (2008–2021) der Evangelischen Kirche der Pfalz. Darin spiegelt sich zugleich der weite Horizont kirchenleitender Verantwortung als Vorsitzender der UEK (2013–2021), des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen (seit 2020) sowie des Ev. Bundes (seit 2021). Der Titel benennt in Anlehnung an Definitionen von Gerhard Ebeling und Dietrich Bonhoeffer, worum es im Buch geht, nämlich die Wechselbeziehung von Theologie und Kirche. So schlägt er einen weiten Bogen von der theologischen Reflexion zu den existenziellen Erfahrungen gelebten Lebens für eine Kirche, die ebenso im Evangelium verwurzelt wie gesellschaftlich und seelsorgerlich wach ist. Dafür hat er über Jahrzehnte konsequent äußere Anlässe genutzt, um konkrete Fragen der Auseinandersetzung mit den großen theologischen Entwürfen des Protestantismus grundsätzlich zu erörtern und prinzipiell zu vertiefen, wie etliche prägnante Zitate zeigen. Der Band ist gegliedert in drei Teile: I. Von der Reformation zur Union, II. Theologen der Neuzeit, III. Kirche im Hören und Handeln.

Im ersten Teil beginnt der Vf. gut reformatorisch mit Luthers Schriftverständnis (19–34) als einer Form christlicher Meditation, die zwischen Schrift und Erfahrung vermittelt. Angesichts der Krise des Gebets in der Moderne erinnert er an dessen Bedeutung für Martin Luther (35–47), die Schrift als Spazier-Raum und Sprachschule des Glaubens, die Meditation auf das Gegebene und die Zeit des Gebets als Zeit zum Hören. Das Freiheitsverständnis Luthers (48–62) entwickelt der Vf. tiefgründig in der Auseinandersetzung mit Erasmus, im Blick auf die Illusion des freien Willens, die Befreiung des Gewissens von der Unfreiheit der Überforderung und Selbsttäuschung, um die Freiheitsproblematik auf die Heilsgewissheit des Gewissens zuzuspitzen: Evangelische Freiheit ist nicht identisch mit politischer Freiheit. Weltliche Obrigkeit hat die Aufgabe, die zerstörerischen Folgen der Sünde einzudämmen und den äußeren Frieden zu wahren. Gott begegnet der Sünde und Unfreiheit des Menschen auf zweierlei Weise: politisch durch die Eindämmung ihrer Folgen durch das Gesetz im Raum dieser Welt, geistlich durch ihre Entmachtung – kraft der in Christus, im Evangelium, zugesprochenen Vergebung. Daraus folgt die Profilierung der Zwei-Reiche-Lehre in der Auseinandersetzung mit den »Schwärmern«, Thomas Müntzer und der Bauernbewegung. Das Entscheidende der christlichen Freiheit ist, dass sie verstanden wird »als innere Freiheit zu äußerem Dienst, als Freiheit von sich selbst für den Nächsten, als Freiheit im Glauben für die Liebe, als Freiheit, in allen Spannungen und Widersprüchen gewissenhaft zu unterscheiden zwischen Gott und Kreatur, zwischen wahrer und schlechter Abhängigkeit, zwischen – und hier schließt sich der Kreis – wirklicher und nur eingebildeter Freiheit« (62). »Hier stehe ich« (63–67) stellt Luther in seiner wohl bedeutendsten (Verteidigungs-)Rede vor Kaiser und Reich auf dem Reichstag in Worms (1521) als »Lehrer der Kirche aus Heiliger Schrift und Vernunft« dar, dessen Theologie nicht nur biblisch fundiert, sondern »durch klare Gründe der Vernunft« zugleich rational kontrolliert ist. Dabei gewinnt das Gewissen seine Freiheit erst durch die Bindung an Gottes gewissmachendes Wort, was über die »Protestation« auf dem Speyerer Reichstag von 1529 durch mannigfache Transformationsprozesse hindurch letztlich zum Grundrecht der individuellen Gewissens- und Glaubensfreiheit führte. »Gottes Wort will gepredigt und gesungen sein« (69–75) erläutert, wie sich im gemeinsamen Singen für Luther exemplarisch das Priestertum aller Glaubenden verwirklicht, so dass die Reformation zu einer Singbewegung wurde und solches »Singen und Sagen« als Inbegriff öffentlicher Verlautbarung des Evangeliums auch ökumenisch im II. Vatikanum weitergewirkt hat. »Ein feste Burg ist unser Gott« (77–83) wurde im Protestantismus als Trutz- und Kampflied martialisch missbraucht, doch darf man »die seelsorgliche Tiefendimension« (81) nicht überhören, die »in Existenzangst Geborgenheit finden (lässt) in der Wortburg dieses Gottes« (83). »Mitten im Tod vom Leben umfangen« (85–88) bekräftigt in der kühnen Umkehrung einer alten Wehklage als Aufgabe evangelischer Bestattung die »pure Hoffnung« auf Gottes Treue, die in der österlichen Erfahrung »aus der Kirche eine Protestbewegung gegen den Tod macht« (87f). »Sola gratia« (89–97) entwickelt die Botschaft von der freien Gnade Gottes in der Rechtfertigung als Kern der Reformation, die es – unter Verweis auf Jürgen Habermas – als gemeinsame Aufgabe von wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis in die Sprache säkularer Vernunft zu übersetzen und auf gegenwärtige Lebenserfahrung hin zu entfalten gilt. Als Gabe der Anerkennung findet der Vf. ein Echo im Grundgesetz in der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1, Abs.1), in der Unschuldsvermutung für den Angeklagten und in der Ablehnung der Todesstrafe, in der Integration von Migranten, in der Einheit der Kirche in versöhnter Verschiedenheit sowie in der Kirche als Ort für die Rechtfertigung von Lebensgeschichten. »Christlicher Glaube als Vernunftreligion« (99–112) zeigt die »Gegenwartsbedeutung der pfälzischen Kirchenunion von 1818« in der Relevanz alter und neuer Bekenntnisse, im Bündnis von Protestantismus und Aufklärung sowie in der presbyterial-synodal verfassten Beteiligungskultur der pfälzischen Unionskirche, die im gemeinsamen Ringen um die Wahrheit zum magnus consensus führt. Dies bleibt Verpflichtung nicht nur im ökumenischen Dialog, sondern verbindet betont »protestantisch« auch »Glaubensfreiheit und Mut zur Zeitgenossenschaft« (111), die von der Speyrer Protestation (1529) über die Demokratiebewegung auf dem Hambacher Fest (1832) bis in die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus Menschen nicht zu »Wut-Bürgern«, sondern zu »Mut-Bürgern« macht: »Mutig voran!« (112).

Der zweite Teil (113–170) kombiniert Tiefenschärfe und Langzeitperspektive zur neuzeitlichen Transformation reformatorischer Einsichten von Schleiermacher im kritischen Vergleich mit Luther (»Kreuzestheologie kontrovers«) und Barth (»Wie heute von Gott reden?«) über Rudolf Bultmann und Ernst Fuchs bis zu den Tübinger Theologen Gerhard Ebeling, Eberhard Jüngel, Jürgen Moltmann und Christoph Schwöbel.

Der dritte Teil beschreibt das Verhältnis von Staat und Kirche als »Öffentliche Religion in der offenen Gesellschaft« (173–185), indem er das Verständnis der Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz darstellt, den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition im Bund (2021) analysiert, das laizistische Abdrängen der Religion ins Private als Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Staates kritisiert und dies zu Religionsunterricht und Theologischen Fakultäten, Subsidiarität, Kirchensteuer und Staatsleistungen ausführt. Dann folgen Beiträge zur Mission als Lebensvollzug der Kirche (187–201), zu Bekennen und Bekenntnis als Lebensäußerungen der Kirche (203–215) und zum öffentlichen Gebet im Gottesdienst (217–229). Zur Abendmahlsgemeinschaft (231–241) erinnert er ausgehend von »Gemeinsam am Tisch des Herrn« (2019) an mühsame, aber bemerkenswerte evangelisch-katholische Annäherungen. Im Verhältnis von Diakonie und Gemeinde (243–251) sowie Krankenhaus- und Gemeindeseelsorge (253–267) plädiert er für eine komplementäre Weiterentwicklung. Den Schluss bilden Gedanken zu Anfechtung und Gewissheit der Kirche in Zeiten von Corona (269–280). Leider fehlt ein Register (Bibelstellen, Begriffe, Personen), das Längs- und Querverbindungen zu finden erleichtert hätte, doch belegt die Bibliographie mit 356 Titeln ein reichhaltiges Wirken, dessen souveräne theologische Reflexion im vorliegenden Band leicht verständlich und flüssig lesbar gebündelt ist. Das Ergebnis ist eine wirklich praktische Theologie, der eine breite wissenschaftliche und kirchliche Rezeption zu wünschen ist, weil sie die Theologie ebenso existenziell mit dem Leben vermittelt, wie sie die Kirche ihrer geistlichen Aufgaben vergewissert.