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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

1001-1002

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Preul, Reiner

Titel/Untertitel:

Reformatorische Predigt in der Gegenwart. Schwierigkeiten und Möglichkeiten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 264 S. Kart. EUR 24,00 = Marburger Theologische Studien 140. ISBN 9783374069972.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Der emeritierte Kieler Praktologe Reiner Preul hat mit zahlreichen Publikationen gezeigt, dass Luther und Melanchthon ihm aus den Quellen vertraut sind und dass die gegenwärtige Praktische Theologie von ihnen Grundlegendes lernen kann. So veröffentlichte er im Nachgang zum Luther-Jubiläum von 1983 den Band »Luther und die Praktische Theologie« (1989, auch schon in den Marburger Theologischen Studien). »Das vorliegende Buch ist auch ein nachgereichter Beitrag zum Reformationsjubiläum« (1), diesmal dem von 2017. P. interpretiert die Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Predigt in einer das ganze christliche Leben umfassenden Perspektive. Dadurch ist sein Buch nicht nur homiletisch, sondern für alle Handlungsfelder der Praktischen Theologie interessant und bedenkenswert. Dazu trägt eine das Buch durchziehende positive Grundstimmung bei. Die Schwierigkeiten der Kanzelrede in der säkularen Mediengesellschaft werden ernstgenommen, aber der Fokus liegt auf den Möglichkeiten.

Die knappe Einführung gipfelt in dem mutigen Urteil, das Adjektiv »reformatorisch« sei »so etwas wie ein Gütesiegel; denn christliche Predigten in der Gegenwart sind umso besser, je mehr sie den der Reformation zu verdankenden theologischen Einsichten und Impulsen Rechnung tragen« (9). Im 2. Kapitel untersucht P. die Predigt als Kommunikationsform, wobei er auch auf die für die Reformatoren wichtige klassische Rhetorik Quintilians Bezug nimmt. Nachdrücklich plädiert er für die in der heutigen Predigt weithin fehlende Gliederung und gedankliche Klarheit und tritt für die Themapredigt ein. Dass die Predigt einen unaufgebbaren Platz im christlichen Bildungsprozess einnimmt, ist für den Bildungsexperten P. selbstverständlich. Die Bildungsaufgabe der Predigt erfordert allerdings mehr Zeit als ihr in der heutigen Predigt in unserem Land meist eingeräumt wird. P. gibt selber an, er predige in der Regel 20 bis 25 Minuten. Die im Anhang abgedruckten, meist im Universitätsgottesdienst gehaltenen Predigten müssen teilweise mindestens 30 Minuten gedauert haben, was einer Universitätsgemeinde zumutbar ist. Die Rezeptionsfähigkeit ist nicht primär eine Frage der Predigtlänge, sondern ihrer Qualität und natürlich auch der Atmosphäre des Gottesdienstes, die sich aus der nur gedruckten Predigt nicht erschließt.

Im 3. Kapitel werden die zentralen Aussagen der reformatorischen Predigt als Predigt des Evangeliums und des Gesetzes umrissen, also die Lehre von der Rechtfertigung und von den guten Werken. Wichtig ist der Zusammenhang beider in der Kette von Wort Gottes – Glaube – Liebe – gutes Werk. Was das für die gegenwärtige Predigt bedeutet, wird im 4. und umfangreichsten Kapitel entfaltet. P. skizziert hier eine notwendige Apologetik des christlichen Glaubens, die nicht nur homiletisch, sondern ebenso seelsorglich und religionspädagogisch hilfreich ist. Grundlegend ist die Frage nach Gott und nach der Wahrheit. P. setzt sich mit dem materialistischen Bewusstsein auseinander, das er »Alltagsontologie« nennt, stellt sich der Frage nach dem Nutzen des Gottesglaubens, besonders aber bedenkt er die Theodizeefrage ohne den Anspruch auf eine rationale Lösung. Der Frage »Si Deus unde malum?« setzt er entgegen: »Si non Deus unde bonum?« Das bonum ist die Liebe, die in Christus Mensch wurde und sich in guten Werken der Glaubenden manifestiert. Worin gute Werke konkret bestehen, hat die theologische Ethik grundlegend zu bedenken und die Predigt auf die aktuelle Situation anzuwenden. P. betont deshalb die Verbindung der Praktischen Theologie zur Ethik und erörtert die Predigt von den guten Werken unter gegenwärtigen Bedingungen, wobei die politische Predigt besonderen Raum einnimmt.

Abschließend bedenkt P. im 5. Kapitel die Frage, was die Predigt erreichen will und kann. Er schreibt ihr im Gefolge Schleiermachers eine deskriptive Funktion zu. Die Predigt soll dem Hörer ein »Gefühl der Richtigkeit« vermitteln, »d. h. ein Gefühl, als Christ auf der richtigen Spur zu sein, der Spur, die Christus durch sein Lebenszeugnis in der Welt gezogen und in ihr hinterlassen hat und auf der ich nun weitergehen möchte« (147). Die Predigt hat also vor allem zu bestätigen und zu bestärken. Eine dazu dienende Theologie muss die christliche Glaubensposition als intellektuell redlich erweisen, wozu die Diskussionsoffenheit gegenüber Einwänden aller Art gehört (149). Das christliche Wirklichkeitsverständnis erfordert kein sacrificium intellectus, es ist nicht weniger plausibel als atheistische Positionen, die ebenfalls den Bereich des rational Begründbaren überschreiten. P. spricht vom Predigtziel generell, nicht vom Ziel der konkreten Einzelpredigt. Das von ihm mit Recht kritisierte Fehlen eines roten Fadens hängt damit zusammen, dass die Kanzelrede nicht auf ein Ziel hin geordnet wird. Da P. die klassische Rhetorik rezipiert und die Themapredigt positiv beurteilt, läge es nahe, auch nach dem Ziel der Einzelpredigt zu fragen.

Angesichts des zunehmenden Traditionsabbruchs drängt sich die Frage auf, ob und inwiefern die Predigt auch missionarisch wirken kann. Evangelisation oder Mission sind für P. kein Thema. Die evangelikale Predigt beurteilt er pauschal negativ, während er insgesamt sorgfältig differenzierend argumentiert. Die Predigt ist für ihn das Herzstück des christlichen Bildungsprozesses. Sein neues Buch soll kein homiletisches Lehrbuch sein, aber es ist eine lehrreiche homiletische Monographie, die für die Ausbildung und Fortbildung in der Predigtlehre empfohlen werden kann, wofür auch die beigefügten neun Predigten aus den Jahren 2010 bis 2019 anregend sind. Das Buch entstand während der Corona-Pandemie, aber noch vor der jüngsten Welle von Austritten aus den deutschen katholischen Bistümern und evangelischen Landeskirchen. Der drastische Rückgang an Gottesdiensten und damit auch Predigten geht dem Mitgliederschwund seit langem voraus, wurde aber in der Praktischen Theologie kaum reflektiert. P. bedauert zwar die Trennung so vieler Menschen von der Kirche, relativiert aber den quantitativen Aspekt. Doch was hilft die beste Predigt, wenn sie niemand hört? Warum die Mehrzahl der Mitglieder der Landeskirchen im Unterschied zu denen der Freikirchen kein oder wenig Interesse an Gottesdiensten und Predigten zeigt, ist aktuell die wichtigste homiletische Frage, kann aber nicht von der Homiletik allein beantwortet werden. Die Qualität der Predigt ist ein wesentlicher Aspekt, aber nicht der einzige.

Das vorliegende Buch kann helfen, durch die Besinnung auf die biblischen und reformatorischen Grundlagen der evangelischen Predigt angesichts ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten und Möglichkeiten diese Qualität zu fördern.