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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

997-999

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Modeß, Johannes Michael

Titel/Untertitel:

Gottesdienst als Skandal. Eine kreuzestheologische Fundamentalliturgik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XV, 472 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 85. Lw. EUR 119,00. ISBN 9783161596490.

Rezensent:

Jochen Arnold

Johannes Michael Modeß bearbeitet in seiner Greifswalder Dissertationsschrift ein fundamentales Thema, das bisher nur wenig monographisch thematisiert worden ist. Anliegen des Vf.s ist es, den Gottesdienst auf biblischer Basis kreuzestheologisch zu fassen und Perspektiven für die liturgische Praxis aufzuzeigen. Methodisches Mittel ist die Skandaltheorie, die als »theologische Kategorie« ins Spiel gebracht wird, um folgende Grundfrage zu beantworten: »Wie sehen Gottesdienste aus, deren theologisches Zentrum der Skandal des Kreuzes ist?« (4) Der Vf. schlägt in vier Kapiteln einen großen Bogen von zentralen Texten der Bibel (v. a. 1Kor 1,18–28) über Luthers Heidelberger Disputation (1518) bis hin zu Autoren der Gegenwart (J. Moltmann, E. Jüngel, P. Bühler, R. Girard u. a.).

Kapitel I widmet sich aktuellen Beschreibungen der Kreuzestheologie als »Theorie religiöser Rede«. Dabei werden große Verunsicherung und ein Zustand allgemeiner Unklarheit im Diskurs konstatiert, aber auch die Konsequenzen kreuzestheologischen Denkens formuliert: »Kreuzestheologie erfordert heute den Mut, theologische Entscheidungen zu treffen, aus deren Gesamtgefüge sich eine [...] scharfe Position ergeben wird. Mit jeder Entscheidung ist dabei ein Preis zu zahlen: Bestimmte Themenfelder werden unterbelichtet erscheinen, andere überbelichtet […].« (46) Seine Deutung des Kreuzes macht der Vf. an den »erratischen« Thesen 19–24 von Luthers HD Disputation fest (vgl. These 21 in WA I, 362,30 f.: »per crucem destruuntur opera, et crucifigitur Adam, qui per opera potius aedificatur«): »Das Kreuz ist notwendiger und möglicher Referenzpunkt menschlicher Selbsterkenntnis […]. Die vom Kreuz ausgehende Erkenntnis Gottes bedeutet eine Unterbrechung der sich pervertierenden Bedürftigkeitsstruktur des Menschen.« (50) Die Kategorie der Unterbrechung wird dann mit zwei Pointen weiterentfaltet: als Unterbrechung der Theologie zum einen und des menschlichen Lebenszusammenhangs zum anderen. Letzteres soll – so der Vf. klar – der Gottesdienst »leisten« (vgl. 53). Im Hintergrund steht eine klar normative Ausrichtung einer theologia crucis, die sich zugleich als Dienerin der Verkündigung versteht: »Kreuzestheologie des Gottesdienstes rekonstruiert nicht primär beschreibend gottesdienstliche Vollzüge, sondern normiert, reguliert und generiert gottesdienstliches Sprechen.« (56) Der Vf. will jedoch nicht primär warnen oder sich abgrenzen, sondern zur Rede vom Kreuz Christi ermutigen (vgl. 97).

Kapitel II beleuchtet unter der Überschrift »Skandalon, Ärgernis, Skandal« zentrale Einsichten der biblischen Begriffsgeschichte (Skandalon) im Gegenüber zur zeitgenössischen Skandalforschung. Aus der Diskussion mit dem Kulturanthropologen R. Girard und dessen Rezeption wird u. a. festgehalten: »Der Skandal des Kreuzes Jesu zeigt an, dass die Menschen ein falsches Koordinatensystem über die Wirklichkeit gelegt haben, und schafft dadurch eine neue Sicht auf die Wirklichkeit.« (163). Der Vf. arbeitet heraus, dass Skandale fast immer mit Sünde und Schuld (188–191) zu tun haben und Grenzen ziehen. Sie seien unplanbar und geschehen öffentlich, ja folgten sogar gewissen Ritualen (vgl. 196 f.). Fazit: »Skandale erschweren dem Publikum die Indifferenz gegenüber einem Thema […]. Ein Skandal ist der Prozess, der sich aus der öffentlichen Bezichtigung einer Überschreitung diskursiver Normen und der Reaktion auf diese Bezichtigung zusammensetzt.« (198)

Kapitel III fokussiert den Skandal des Kreuzes im Horizont von Kreuzestheologie und Skandalforschung und setzt mit einer Exegese von 1Kor 1,18–28 ein, die sich u. a. mit Badious und Kierkegaards Paulusinterpretation auseinandersetzt. Der Vf. hält exegetisch fest: Die Kreuzigung eines (königlichen) Messias ist ein Skandal und überschreitet das diskursiv Sagbare (vgl. 212 u. ö.). Die theologische Pointe dieser Einsicht lautet: Gott definiert sich selbst am Kreuz. Die politische ist zugleich eine soteriologische: In »der Anbetung eines als politischer Anführer Verurteilten [liegt] mehr Heil für das Politische als in der repressiven Erhaltung der politischen Ordnung durch die Staatsmacht« (217). Dabei kommt u. a. der Glaube des römischen Centurio unter dem Kreuz in den Blick (vgl. 244 u. ö.). Der Vf. formuliert als Antithese gegen Kierkegaard eine provokative eigene Sicht (2.7.): »Der Skandal des Kreuzes zerstört Glaubensinhalte.« Dies macht er an der Person des biblischen Petrus in der Passionsgeschichte fest. Weiterhin arbeitet er heraus: Im biblischen Denken haben im Gegensatz zu den Mythen der Umwelt häufig die »Opfer recht«, die »Opfer sind unschuldig« (Zitat Girard, Satan vom Himmel 152, vgl. 253). Das Leiden und Sterben Christi wird als universal, d. h. für jeden Menschen relevant festgehalten (vgl. 299), insofern es der »Sünde überführen kann«. Sünde wird dabei im Anschluss an Paulus als »nichtmoralischer« Begriff entfaltet (vgl. 260). Insgesamt hält der Vf. den Skandal des Kreuzes im Sinne einer »Selbstunterscheidung Gottes von Gott« für grundlegend, um eine »postfundamentalistische Lesart des Christentums« zu formulieren (299 f.).

Kapitel IV zieht von diesen komplexen Voraussetzungen her Konsequenzen für eine Theologie des Gottesdienstes. Der Vf. rezipiert u. a. P. Cornehl, der die kreuzestheologische Konfrontation im Gottesdienst als »Zumutung« beschrieben hat, die ins »Zentrum des christlichen Glaubens führt« (vgl. 303). Was bedeutet das für die Liturgik? »Das Wort vom Kreuz aber findet im Gottesdienst einen exemplarischen Ort, um wirksam werden zu können.« (311) Diese Aussage entfaltet der Vf. nicht nur homiletisch (religiöse Rede, vgl. 311), sondern auch fundamentalliturgisch. Liturgisch leitend ist der biblisch wie liturgiegeschichtlich relevante Begriff der Anamnesis mit soteriologischem Akzent: »Gottesdienstliche Anamnesis ist die Vergegenwärtigung des Geschehens, das als Skandal Heil brachte.« (308)

Dann positioniert sich der Vf. nach einer klugen Beschreibung diverser Entwürfe einer Theologie des Gottesdienstes (Arnold, Nicol, Schwöbel, Wainwright u. a.) in der Nähe von A. Deeg und M. Meyer-Blanck. Des Vf.s Theologie des Gottesdienstes will Theologie für den Gottesdienst sein und dafür auch eine Plausibilisierung desselben im normativen Sinne schaffen. Auf der anderen Seite sei eine solche Theologie auch deskriptiv aus dem Gottesdienst heraus zu entwickeln, d. h. »zu beschreiben, was zwischen den Zeilen und zwischen den Zeichen gottesdienstlichen Handelns theologisch passiert« (329). Internationale Ansätze der sog. »formative liturgy« (Wannenwetsch, Baschera u. a.) werden aufgenommen, ehe der Vf. den Begriff der »kategorischen Unterbrechung« als hermeneutische Grundformel (vgl. Ebeling »Ort der Freiheit zur Liebe«) entfaltet (335 ff.). Sie wird im Anschluss an D. Plüss (vgl. 336 f.) für das performative Geschehen des Gottesdienstes durchdekliniert. Besonders anschaulich ist der Rückgriff auf ein skandalöses Abendmahlsbild von Paolo Veronese, das nach seiner Veröffentlichung 1573 zu einem Skandal führte (vgl. »Ausgerechnet Hoeneß«), weil es neben den Jüngern auch einige Zeitgenossen mit Narrenkappe zeigte. Durch einen Kunstgriff (neuer Titel für das Bild: Das Gastmahl im Hause des Levi) wird das politisch-provokative Bild entschärft. Jesus, der Revolutionär, der nicht ins Bild (der Geistlichen bzw. der Inquisition) passte, wird domestiziert. Der Vf. zeigt damit das Potenzial performativer theologia crucis zu »gesteigerter Bedeutungsproduktion« bzw. deren menschliche »Entschärfung«.

Im anschließenden Durchgang durch den Gottesdienst kommen der Gebrauch des Kanons u. a. in den Lesungen (vgl. 375–388), das Gebet (Schwerpunkt Psalmen, mit Plädoyer für eine stärkere Rezeption ganzer Psalmen inkl. der sog. »Feindpsalmen«, vgl. 392–394), Predigt (mit einem Plädoyer für die »tastenden Versuche«, vgl. 398), Glockengeläut und Talar zur Sprache. Für dessen Verwendung im Gottesdienst spricht sich der Vf. deutlich aus, weil er nicht die private Inszenierung einer Pfarrperson sei, sondern im Kontext der versammelten Gemeinde geschehe, in der »Weltbilder erschüttert« werden (vgl. 400). Das Wir dieser Gemeinde »wird im Gottesdienst konstituiert und maßgeblich durch Angewiesenheit bestimmt« (415). Besonders im Credo (vgl. 415–418) weise die Liturgie über das Wir der konkret Anwesenden hinaus. Das Sanctus der Abendmahlsliturgie kommt als verstörende Äußerung in den Blick: Dabei spreche die Gemeinde von sich als einer Gruppe, die sich in einer Grenzsituation vor Gott Worte »leihen« muss. Dies bringt den Vf. zu der paradoxen Formulierung, dass der Gottesdienst eine Veranstaltung sei, »bei der ein nicht-identitäres Identitätskonzept gefeiert und gelebt wird« (422).

Am Ende steht eine pointierte Zusammenfassung (423–425), bei der die immer wieder gebrauchte Formel »Bilder, die nicht ins Bild passen« (vgl. auch 353) nochmals im Sinne eines Gesamtergebnisses entfaltet wird. Die Auseinandersetzung mit der Kreuzestheologie erweist sich für den Vf. als soteriologisch, ethisch und politisch relevant, u. a. als Befreiung aus eingefahrenen menschlichen »Diskurszusammenhängen«.

Insgesamt arbeitet der Vf. in einer systematisch-theologisch wie liturgiewissenschaftlich anspruchsvollen Auseinandersetzung die zeitgenössische Relevanz des Kreuzes und seine Dynamik für das gottesdienstliche Geschehen sehr gut heraus. Die kenntnisreiche Aufnahme und eigenständige Metakritik diverser Diskurse ist bestechend. Dass der Vf. eher das »Fremde« und »Abständige«, ja gleichsam »Aufstörende« biblischer Rede und gottesdienstlicher Feier betont, ist einseitig, liegt aber auch in der Natur der Sache. Denn das Kreuz ist nun einmal Skandalon und nicht »Wohlfühlprogramm«. Gleichwohl wäre zu fragen, inwiefern schöpfungs-theologische Aspekte bzw. österliche und pfingstliche Motive im Gegenüber zur theologia crucis nicht an der einen oder anderen Stelle hätten noch stärker gewichtet werden müssen. Insgesamt schmälert dies in keiner Weise die hohe Bedeutung dieses eigenständigen Entwurfs für die Systematische und Praktische Theologie.