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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

994-997

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rinke, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die harte Schule der neuen Gewalt. Denkwege theologischer Gewaltkritik in der Zeitenwende vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2021. 276 S. = Studien zur Friedensethik, 68. Geb. EUR 46,00. ISBN 9783402117286.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Der Band enthält zwei Beiträge über neuere Entwicklungen in der Friedensethik. Der eine stammt von Bernhard Rinke (7–202), der andere vom Hamburger Friedensforscher Gerhard Beestermöller (203–276). Kein Vorwort klärt darüber auf, wie und aus welchen Gründen es zu dieser Konstellation gekommen ist. Darum wird die Frage zu stellen sein, ob zwischen beiden Texten ein Verhältnis der Ergänzung oder des Widerspruchs besteht.

R. verfolgt in seinem Beitrag die Absicht, »sozusagen den Denk- und Erkenntnisweg führender katholischer und evangelischer Friedensethik in Deutschland in der harten Schule der neuen Realitäten seit dem Ende der Blockkonfrontation nachzeichnen« (13). De facto geht es bei ihm vor allem um die Neubewertung der Frage humanitärer Interventionen mit militärischen Mitteln und um die Renaissance der Theorie des gerechten Krieges. Dafür werden deutschsprachige katholische und evangelische Entwürfe, vorgestellt, analysiert und miteinander verglichen, auf katholischer Seite Thomas Hoppe, Heinz-Günther Stobbe und Gerhard Beestermöller, auf evangelischer Seite Hans-Richard Reuter, Wolfgang Huber und Michael Haspel.

Obwohl R. Sozialwissenschaftler und Friedensforscher ist, bewegen sich seine Ausführungen auf einer katholisch-theologischen Grundlage, was sich in folgendem Zitat zeigt: »Während sich die katholischen Theologen mehr oder weniger selbstverständlich auf dem Boden der neueren kirchlichen Friedenslehre bewegen und diese weiterdenken wollen, stehen evangelische Theologen vor der Herausforderung, dass es eine derart durchstrukturierte, weltweit als verbindlich anerkannte Lehre nicht gibt. Daher sehen sie sich häufig vor die Aufgabe gestellt, sozusagen eine Friedenslehre ab urbe condita vorzulegen.« (35) Die bemühte Ironie dieser letzten Aussage werden alle Leser bemerkt haben. Die Gegenüberstellung von lehramtstreuer katholischer Rom-Hörigkeit und evangelischer Traditionslosigkeit entspricht trotzdem nicht der interdisziplinären und interkonfessionellen Diskussionslage. Der Aussage gegenüber stehen die (nicht nur evangelische) Ökumene, die Notwendigkeit einer Kooperation mit nicht-religiösen Einrichtungen in rebus politicis, das Streben auch katholischer Ethiker nach einer allein vernunftbegründeten, nicht mehr konfessionsspezifischen Ethik sowie die mannigfachen interdisziplinären Kontakte zwischen katholischer und evangelischer Ethik als gängige Praxisformen. Die flapsigen Formulierungen des R.s greifen ganz entschieden zu kurz, zumal – das eine weitere Kritik – er im evangelischen wie im katholischen Bereich die kirchenamtlichen Dokumente zur Friedensethik nur am Rand einbezieht, was nun wiederum nicht berücksichtigt, dass friedens-ethische Positionen in der Sozialethik und kirchenamtliche Äußerungen in beiden Kirchen personell und binnenkonfessionell eng miteinander verknüpft waren und sind. Es mutet merkwürdig an, dass kirchenamtliche Dokumente von EKD und Katholischer Bischofskonferenz nur in Fußnoten abgehandelt werden (18 ff.). Auf evangelischer Seite spiegelt insbesondere der unklare Begriff des Verantwortungspazifismus heftige innerprotestantische Auseinandersetzungen pazifistischer und bellizistischer Gruppen wider.

R. unterscheidet zwei Phasen der Friedensethik nach 1989; mit dem Ende der alten, bipolaren Abschreckung durch Atomwaffen setzt er eine neue Ära an: In einer Phase der Konsolidierung (1990–2003) werde neu über die Möglichkeit militärischer Intervention aus humanitären Gründen nachgedacht, während diese in einer Phase der Entfaltung (2003–heute) als reale und vor dem Hintergrund einer Bellum-iustum-Theorie als legitime Möglichkeit entfaltet werde. R. entwickelt vier heuristische »Diskursachsen« (23 f.): die Orientierung an aktuellen Konflikten, die konfessionelle Gliederung der Theologie, die Referenz auf die angelsächsische bzw. amerikanische Diskussionslage sowie den Einbezug anderer Disziplinen als der Theologie. Nach 1989 bilde sich eine neue Option der Intervention heraus, R. spricht von einer »Handlungsinstitution« (26), die friedensethisch neu durchdacht und bewertet wird. Dabei orientiert er sich an den militärischen Auseinandersetzungen nach 1989, dem ersten Irakkrieg (29 ff.), den jugoslawischen Auflösungskriegen (46 ff.), dem Kosovokrieg (83 ff.) und dem zweiten Irakkrieg 2003 (153 ff.). Die konfessionellen Standpunkte werden jeweils getrennt analysiert.

Die Analyse der einzelnen Positionen erscheint mir gut gelungen, wenn man auch sagen muss, dass R. sich gelegentlich allzu sehr auf die Modifikation der Theorie des gerechten Krieges fokussiert. In der Konsequenz erscheinen Hubers und Reuters unterschiedliche Versuche (z. B. 82), eine Theorie der humanitären Intervention im Kontext eines Völkerrechts oder einer Weltrechtsordnung zu entwickeln als zu idealistisch, was beiden m. E. nicht völlig gerecht wird. Umgekehrt bevorzugt R. Haspels Verteidigung der Theorie des bellum iustum (112–150), obwohl zu fragen wäre, ob dessen Kriterien für Intervention nicht so scharf gefasst sind, dass solche Interventionen gar nicht mehr als legitim erscheinen können. Auf katholischer Seite wird vor allem Beestermöllers Ansatz dargestellt (99–105.159–169), der ja dann noch mit einem eigenen Beitrag vertreten ist und somit Gelegenheit hat, seine eigene Position zu entfalten. R. beschreibt Beestermöllers Position im Ergebnis als eine »Ethik rechtsbefördernder Gewalt« (177). Diese sieht militärische Gewalt nicht nur innerhalb eines (völker-)rechtlichen Kontexts als legitim an, sondern auch auf dem Weg dorthin.

In seiner eigenen Zusammenfassung hält Rinke konfessionsspezifische Differenzen fest (185). Eine weitere bikonfessionelle Differenz sei in der Rezeption moderner philosophischer Ethiken im Anschluss an Kant festzustellen (186). Ganz am Ende jedoch betont R. wiederum die ökumenischen Gemeinsamkeiten, dies allerdings mit sehr formalen Argumenten (190 f.). R. konstatiert einen Prozess der Anpassung katholischer und evangelischer Friedensethik an die neuen Wirklichkeiten des Krieges. Mehrfach spricht er von der »harten Schule der Gewalt«: Diese Metapher hat Eingang in den Titel gefunden. Das allerdings klingt so, als hätten naive friedens-ethische Theoretiker sich durch den politischen Lauf der Ereignisse pragmatisch an Realitäten angepasst, die sie nicht vorausgesehen haben oder nicht voraussehen wollten. Das allerdings kann man auch als einen normalen und selbstverständlichen Adaptationsprozess verstehen, zumal R. in seinem Schlusskapitel selbst konzediert, dass sich aufgrund der Entwicklung seit 2001, dem war on terror und der Möglichkeiten zu Cyber-Kriegsführung sowie dem durch neue technische Mittel veränderten Charakter von Kriegen die Verhältnisse nochmals verändert haben und auch das Instrument humanitärer Intervention schlicht obsolet zu werden droht. Um es auf den Punkt zu bringen: Kriege neuen Typs brauchen auch eine Friedensethik neuen Typs.

An diesen ersten Aufsatz schließt ein Artikel Gerhard Beestermöllers an, mit dem Titel »Im Prinzip hat sich nichts geändert? Theologische Friedensethik im Umbruch der Zeiten« (203–276). Dieser enthält eine Zusammenfassung der Friedensethik Wilhelm Korffs, aber eben aus der Zeit vor 1989. Wenige Bemerkungen Korffs zur Revision dieser Ethik aus dem Jahr 1993 bringen demgegenüber nicht viel Neues. Beestermöller konzentriert sich wie Rinke im ersten Essay auf die Frage nach der Theorie des gerechten Krieges. Interessanter wird sein Beitrag erst, wenn er im zweiten Teil nach den aktuellen Gegebenheiten fragt, unter denen nun Friedensethik betrieben wird. Dabei bringt Beestermöller das Problem sehr gut auf den Punkt:

»Welche Konsequenz hat die Tatsache für das Geschäft der Friedensethik, dass sie einerseits für sich in Anspruch nehmen muss, ohne jede Eintrübung nach dem zu fragen, was zu tun ist, dabei aber andererseits auf Handlungssubjekte referiert, von der sie weiß, dass diese am Zustandekommen und dem Aufrechterhalten des Zustandes mitgewirkt haben und weiter mitwirken, den die Ethik überwinden will, und die in gewisser Hinsicht auf ethische Vorgaben ansprechbar sind, in anderer eben nicht – Handlungssubjekte, die immer zugleich ethisch und unethisch sind?« (270)

Die Konsequenz daraus muss lauten, dass die Friedensethik, will sie gegenüber der Wirklichkeit von Kriegen und Interventionen nicht stets zu spät kommen, ein Konzept von »Realismus« entwickeln muss, das sich nicht einfach mit der zynischen Anerkennung der Existenz von Kriegen, Gewalt und Terror begnügt. Die Theorie des bellum iustum reicht dafür nicht aus, sie muss rechtsethisch, völkerrechtlich, ordnungspolitisch und demokratietheoretisch ergänzt werden.